Die Simulation von Streik

Ob wohl Häme über ver.di angebracht
sein mag ob des Trauerspiels im Tarifkonflikt bei der BVG? Wohl kaum,
ist es doch die Belegschaft (und nicht nur sie), die nun da steht wie
ein begossener Pudel. Aber gerade deswegen gilt es, die Gewerkschaft
schonungslos ins Visier zu nehmen – nicht hämisch, sondern mit
gefletschten Zähnen. Denn was sich seit Wochen in Berlin abspielte,
sollte jeden, der sich den Interessen der Lohnabhängigen
verpflichtet fühlt, zum Kochen bringen. So eklatant fahrlässig
wurde dieser Arbeitskampf zeitweilig geführt, dass man die
Kratzbürste nur schwer in der Tasche lassen kann.

Fragwürdige
Motive

Der unbefristete Vollstreik im
öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt war für viele eine
Überraschung. Ein Hauch von Militanz umwehte die streikenden BVGler
und viele vermuteten, bei ver.di wehe nun ein anderer Wind. Doch weit
gefehlt. Was auf den ersten Blick nach Konsequenz aussah, entpuppte
sich als eines der fruchtlosesten Streikmanöver der neueren
Tarifkampfgeschichte. Ein Streik muss wehtun, wie wir alle wissen.
Das tat er zwar, aber eben den falschen: Während die lohnabhängige
Bevölkerung enorme Belastungen durch den Streik hinnehmen musste,
konnten sich die Arbeitergeber nicht nur entspannt zurücklegen,
nein, auch wurde von Tag zu Tag ihre Situation – im wahrsten Sinne
des Wortes – günstiger. Denn mit jedem Streiktag sparen BVG und
Senat fast eine Mio. Euro.(1) Deshalb die Sarrazinsche Gelassenheit.

Man darf spekulieren, ob sich die
Streikleitung darüber nicht im Klaren war oder ob sie trotzdem auf
die Strategie des Vollstreiks setzte. (Was wohl das größere
Narrenzeugnis sein mag für Funktionäre, deren Job eben genau in der
Erwägung solcher Fragen besteht, sei dahingestellt.) Ich persönlich
tendiere zu zweiter Variante: Nicht Unwissenheit, sondern Unvermögen
oder gar Augenwischerei sind Antrieb dieser Havarie.

Entweder wollte man es tatsächlich mal
krachen lassen und meinte, am meisten Radau erzeuge ein zünftiger
Streik. Einfach mal mit dem Kopf durch die Wand, mal zeigen, dass man
auch anders kann! In anderen Bereichen hätte das seine Wirkung
gezeigt. Dass aber ein Streik unter diesen Bedingungen (ein
staatlicher Arbeitergeber, der nichts dabei verliert, und eine
Bevölkerung, die es trifft) ganz andere Methoden von einer
Gewerkschaft fordert, wurde dabei ignoriert. Vollkommen unflexibel
und einfallslos wurden so gängige Gewerkschaftsrituale
heruntergeleiert.

Oder aber man wollte tatsächlich nur
einen Streik simulieren. Das wirkt zwar einerseits abwegig, muss man
doch annehmen, es wäre im eigenen Karriereinteresse der Funktionäre,
die Gewerkschaft nicht an die Wand zu fahren und Erfolge
einzuheimsen. Andererseits ist das nicht unplausibel, schaut man auf
die Verstrickungen und Verbundenheiten von Berliner
ver.di-Verantwortlichen mit dem Senat. Wenn die Rechnung war, einer
potentiell aufmüpfigen Basis den Wind aus den Segeln zu nehmen und
Tatsachen zu schaffen, die einen womöglich unkontrollierten
Arbeitskampf abdrosseln, der den Senat in die Bredouille gebracht
hätte, dann ist diese aufgegangen. Um Arbeitsplätze und Gehälter
müssen sich die Damen und Herren Funktionäre ja keine Gedanken
machen – wer weiß, was diese antreibt.

Avanti Dilletanti!

Doch Spekulation beiseite. Dass ein
dahergepolterter Vollstreik nicht gerade die effektivste Methode ist,
wenn der Arbeitgeber dadurch auch noch spart, liegt auf der Hand.
Dennoch hätte sich auch auf dieser Grundlage aus dem Streik etwas
machen lassen. Ganz ohne Druckpotentiale ist dies ja auch nicht. Zum
einen fällt z.B. der Geschäftsbetrieb in den dann geschlossenen
Bahnbereichen flach (mit der Folge von Schadensersatzforderungen der
Mieter an die BVG) und wirkt sich das auf das Geschäftstreiben der
gesamten Stadt aus (volkswirtschaftlicher Schaden). Zum anderen –
und vor allem – wird die ganze Stadt und ihre Bevölkerung unter
Druck gesetzt. Das trifft zwar alles nicht direkt den Arbeitergeber
und in erster Linie dritte (ist insofern moralisch höchst
fragwürdig), könnte aber durchaus effizient sein. Voraussetzung
dafür aber ist, dass die Gewerkschaft hierbei das Verständnis der
direkt Betroffenen genießt und es schafft herauszustellen, dass die
Verantwortung für den Streik, der alle trifft, beim Senat liegt.
Stattdessen aber hat sich ver.di ohne Gegenwehr von den Medien
verhetzen lassen, sodass der Senat der Gewerkschaft den Schwarzen
Peter zuschieben konnte. Streikende, die die Bevölkerung mit
Gegeninformationen und eigenen Standpunkten versorgten, hatte man
vergeblich gesucht. Die Solidarität der Lohnabhängigen wird auf
diese Weise nicht eingefordert, sondern regelrecht erzwungen. Das mag
eine Strategie sein, die eine – zumindest vermeintlich – auf
eigene Mitgliederinteressen ausgerichtete Gewerkschaft anwenden
möchte. Eine Gewerkschaft, die sich als für die Interessen der
gesamten Arbeiterklasse kämpfend betrachtet, kann darüber nur die
Nase rümpfen.

Ohne Frage, andere Strategien wären
von Anfang an notwendig gewesen, ein Tatsache die auch ver.di nun
bedingt erkannt zu haben scheint. Man könnte kurzfristig
Punktstreiks anberaumen und diese immer wieder abrupt abbrechen, so
dass sich das Management gar nicht erst auf die Situation einstellen
kann. Notfallpläne müssen schließlich dafür eingerichtet werden,
Streikbrecher angeheuert werden. Die zahlreichen Busfahrer, die die
BVG z.B. von privaten Unternehmen (oft ortsfremden) in so einem Fall
mietet, könnten gar nicht so schnell wieder abbestellt werden,
sodass die BVG sogar doppelt zahlen müsste: für die eigene Leute
und die der Fremdfirmen. Man kann bestimmte neuralgische Punkte
konsequent bestreiken: z.B. die Wartung und die Reparatur.(2) Auch
der Spontanstreik der Straßenbahner zeigte zumindest einen Ansatz.
Doch statt dies zum Beispiel zu einer flächendeckenden Strategie zu
machen, scheint man sich in das Schicksal zu fügen.(3)

Die hohe Kunst des
Streiks

All das ist effizienter als ein
Vollstreik. Ein Problem ist damit immer noch nicht gelöst: die
Betroffenheit der lohnabhängigen Bevölkerung.
AnarchosyndikalistInnen kennen da ein Rezept: die Aktion sozialer
Verantwortlichkeit, die organisierte Solidarität mit den
KonsumentInnen im Arbeitskampf.(4) Denn Verantwortung trägt eine
Gewerkschaft nicht etwa dafür, volkswirtschaftlichen Schaden zu
vermeiden, was Presse und Unternehmer gerne anführen, sondern dafür,
die eigene Klasse nicht zu schädigen. Und tatsächlich hat der
BVG-Streik die Berliner Lohnabhängigen stark in Mitleidenschaft
gezogen. Wie viele hatten hohe Zusatzkosten, um auf Arbeit zu kommen,
wie viel Zeit investierten sie in Extrawege und Wartezeiten, wie
viele haben für Fahrausweise an die BVG vorbezahlt und nun keine
Leistung dafür erhalten, und wie viele haben sich Ärger bei den
Chefs fürs Zuspätkommen eingefangen?

Keine Frage, all das sind viele bereit
in Kauf zu nehmen, wenn der BVG-Streik allen etwas bringt. Wenn die
BVGler Forderungen stellen, die allen aus dem Herzen sprechen, dann
kann mit diesem Kampf ein positives Signal gesetzt werden. Wenn sie
aber um die üblichen „angemessenen“ Prozente kämpfen und in
diesen Forderungen auch noch erheblich einbrechen(5), ist es
niemandem die Belastung wert. Ver.di wird nicht nur kaum den
Reallohnverlust ausgleichen, sie wird auch den Lohn nicht wieder
reinholen, der durch den Streik verloren ging.(6) Und noch viel
weniger wird sie die Verluste kompensieren, die die gesamte
lohnabhängige Bevölkerung hinnehmen musste.(7) Ein makabres
Schauspiel.

Wie man so einen Kampf sozial
verantwortlich führt, haben dagegen 1990 die Straßenbahner in
Melbourne bewiesen (siehe Zeitlupe auf S. 13). In einer ähnlichen
Ausgangssituation und inspiriert durch anarchosyndikalistische
Konzepte streikten sie, indem sie ganz normal ihre Bahnen fahren
ließen – und zwar zum Nulltarif! Was das bedeutet liegt auf der
Hand: massive Verluste für den Arbeitergeber (fortgesetzte
Betriebskosten, keine Einnahmen, keine Lohnsperre), die Solidarität
von und mit den KosumentInnen und eine frohlockende und davon
profitierende Arbeiterklasse. Mehr Fliegen kann man mit einer Klappe
nicht schlagen.

Holger Marcks

Anmerkungen

[1] Während des Streiks zahlt
der Senat keine Zuschüsse an die BVG. Die BVG selbst muss keine
Löhne auszahlen und spart die Betriebskosten. Zudem kann sie den
ungenutzten Strom gewinnbringend an der Strombörse verkaufen.

[2] Nach Abbruch des Vollstreiks
tat dies ver.di, brach aber diesen Teilstreik genau dann ab, als er
endliche seine Wirkung zeigte und Engpässe entstanden waren.
Mittlerweile hat sie solch einen Teilstreik wieder aufgenommen.

[3] Das gerichtliche Verbot der
Spontanstreiks wurde mittlerweile aufgehoben. Man darf skeptisch
gespannt sein, ob ver.di das nun nutzt.

[4] So wie ein Streik im
Pflegebereich grob fahrlässig ist, wenn einfach alles zum Stillstand
gebracht wird und das Wohl der Patienten darunter leidet, ebenso
unverantwortlich ist ein rücksichtsloser Streik im (Nah-) Verkehr.
Eine Gewerkschaft, die das noch nicht einmal berücksichtigt, macht
lediglich egoistische Klientelpolitik und sollte das Wort
„Solidarität“ nicht in den Mund nehmen. Der solidarische
Einbezug von KonsumentInnen (zum Großteil ebenfalls Lohnabhängige)
hat, zurückgehend auf die franz. Syndikalisten Ende des 19. Jh., im
Anarchosyndikalismus eine lange Tradition. Im Gegensatz zu manchen
Auffassungen, dass Streiks durch solche „Rücksichtnahme“ an
Effizienz verlieren, können Arbeitskämpfe gerade dadurch ihre volle
Stärke entfalten. Je nach Ausgangssituation und konkreter
Streikstrategie kann die „Marktmacht“ von KonsumentInnen (wo
Solidarität organisiert zurückgegeben wird) entscheidendes
Druckmittel sein. Dies ist der Punkt, wo Boykottmaßnahmen
flankierend wirken und der Arbeitskampf zum Klassenkampf wird. Wie
aktuell das ist, zeigt das Beispiel der ital. Basisgewerkschaft
COBAS, die sich gerade dadurch etablieren konnte, dass sie
KonsumentInnen in ihre Kämpfe einbezog und diese konsequenterweise
nicht nur um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern auch um
Verbesserungen für die KonsumentInnen führte.

[5] Auch die in Deutschland ach
so unverschämt klingende Forderung von 12% ist eine äußerst
bescheidene – gemessen an dem gesamtgesellschaftlichen Reichtum.
Der Rückzug von ver.di auf eine Verhandlungsposition von z.T. 3% ist
eine vollkommene Kapitulation, wird damit noch nicht einmal der
jetzige Reallohnverlust ausgeglichen (und bei 30-monatiger
Tariflaufzeit kommt noch einiges dazu).

[6] Die knapp 20 Mio. €, die
der Senat zu geben bereit ist, rühren wesentlich aus den
Einsparungen durch den Streik! Anders gesagt: je mehr ver.di streikt,
so mehr kann der Senat geben. Also wurde auch diese minimale Erhöhung
quasi aus der eigenen Tasche der Gewerkschaft bezahlt (Lohnausfall
und Streikgeld in Rechnung stellend).

[7] Allein deswegen hätte
ver.di weitaus höhere Forderungen stellen müssen, um das
entstehende Defizit auf Seiten des „Gesamtarbeiters“ wieder
auszugleichen. Im Prinzip hätten alle mehr, wenn ver.di diesen
Streik – in dieser Form – gar nicht geführt hätte. Zudem lässt
sich der Schaden, den diese negative Signalwirkung anrichten wird, in
Zahlen nicht ermessen.

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