Stillhalten lohnt sich nicht

Arbeiten zum Niedriglohn ist längst Normalität.

Ganz leise, fast
unmerklich setzt auch 2009 das Wahlkampfgetöse ein. Wie in jedem
großen Wahljahr. Und vielleicht war die Veröffentlichung des
IAQ-Reports Anfang Juli der erste Paukenschlag: In jüngster
Vergangenheit stieg die Zahl der Geringverdiener um 350.000 an. Das
heißt: immer mehr ArbeiterInnen geraten in einen Morast, in dem die
Löhne in den letzten zehn Jahren stagnieren oder sogar gesenkt
wurden. Selbstverständlich nehmen linke Parteien diesen Hinweis gern
auf, um sich zu profilieren. Ob sie daran etwas ändern (können),
das steht auf einem anderen Blatt.

Nebelkerzen im
Wahlkampf

Die Studie des Instituts
Arbeit & Qualifizierung (IAQ) der Universität Duisburg-Essen ist
deutlich zurückhaltender: Zwar sprechen sich auch die AutorInnen für
einen gesetzlichen Mindestlohn aus, aber nur indirekt. Hauptsächlich
wenden sie sich gegen eine These des DIW. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung verbreitete, dass 2007 im Niedriglohnsektor eine
„Trendumkehr“ stattgefunden habe. Richtig ist, dass dessen Anteil
am Gesamtarbeitsmarkt nicht sehr viel größer geworden ist im
Vergleich zum Vorjahr. Aber das ist allenfalls für Statistiker ein
Strohhalm. Richtig sind nämlich auch die eingangs genannten
Sachverhalte: die absolute Zahl der Betroffenen steigt, und die
Real-Löhne stagnieren bestenfalls. Inzwischen arbeiten rund 6,5 Mio.
Menschen – nur einer von fünf ohne Berufsausbildung –
durchschnittlich für weniger als sieben Euro brutto die Stunde, d.h.
für einen Armutslohn von weniger als die Hälfte des
Durchschnittslohns.

Es ist also klar, wo im
Gefolge der „Agenda 2010“ die Jobs entstanden sind.
Bezeichnenderweise rechnet das Papier aber mit „konservativen“
Zahlen und geht somit das Risiko ein, das Ausmaß des Problems eher
aufzuhübschen als aufzubauschen. Denn mit Azubis und PraktikantInnen
sowie Beschäftigten in Amtsmaßnahmen u.a. wird ein bedeutender Teil
des „Marktsegments“ ausgeklammert.

Bemerkenswert ist
ebenfalls, wie schnurrend die Wahlkampfmaschine nun anläuft und ein
Rädchen ins andere greift: Erst erscheint die Studie des IAQ, die
letztlich für einen gesetzlichen Mindestlohn plädiert, um dem
Lohnverfall einen Riegel vorzuschieben. Das Thema ist platziert. Es
folgen Mitte August am selben Tag ver.di und Arbeitsminister Scholz:
Die Gewerkschaft hat einen „Dumpinglohn-Melder“ online gestellt
und der SPD-Mann einen „Mindestlohnrat“ berufen. All diese Kämpen
für die gerechte Sache haben eines gemein: Sie meiden die notwendige
Klarheit, dass ihr Vorhaben „nur“ die Armuts-, nicht aber
Niedriglöhne generell angreifen würde. Der Dreisatz „Niedriglohn?
Armutslohn? Mindestlohn!“ müsste um eine Variable gekürzt werden.

Aufschwung ≠
Wohlstand

Noch einmal in aller
Deutlichkeit: Die seit drei Jahren laufende „Arm trotz
Arbeit“-Kampagne, die von ver.di und NGG gestartet und dann schnell
vom DGB aufgegriffen wurde, geht zu bescheiden ins Rennen. Auch eine
evtl. Einführung des Mindestlohns durch einen „linken“ Bundestag
wird den Niedriglohnsektor nicht austrocknen. Da sollten sich viele
der wenigen aktiven GewerkschafterInnen (gleich, welcher Organisation
sie angehören) doch fragen, ob sie sich wirklich vor den Karren der
ein’ oder anderen Partei spannen lassen wollen. Oder ob sie besser
in den asymmetrischen sozialen Krieg so einsteigen, wie ihre Gegner
bereits kämpfen: auf wirtschaftlichem Gebiet, und zwar um jeden
einzelnen Betrieb.

Dass diese
Auseinandersetzung nicht aufgeschoben werden darf, verdeutlichen
neueste Forschungsergebnisse des DIW: Seit 2003 sanken Reallöhne und
-gehälter der abhängig Beschäftigten, aufgefressen von Inflation
und Lohnbescheidenheit. Dies änderte sich auch im Aufschwung nicht,
der trug allenfalls dazu bei, dass die Kapitaleinkünfte und die Zahl
der Arbeitsunfälle anstiegen. Die wirtschaftsfriedliche These „Geht
es der Wirtschaft gut, geht es allen gut“, die zur
Lohnzurückhaltung in Krisenzeiten rät, hat sich damit endgültig
erledigt.

André Eisenstein

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