Die alte
Straßenbahn müht sich auf verbogenen Schienen über die breite
Ausfallstraße auf ihrem Weg vom Stadt- zum peripheren
Industriezentrum. Ein Werbeplakat verkündet „8.12.2007 –
Abschiedsfest an der Endhaltestelle Stammheim“ und verrät die
Herkunft der Tram; nun bahnt sie sich ihren Weg über die Hügel von
Iasi, einer 300.000-Einwohner-Stadt im Südosten Rumäniens, an der
östlichen Außengrenze der EU.
Nicht viele
Fahrgäste nutzen so kurz vor der Endhaltestelle die Bahn. Wir
steigen aus und folgen dem Trampelpfad neben der weitläufigen
Betontrasse zwischen massigen Kombinatsblöcken. Auf Industriehallen
wachsen Birken, die Fensterreihen dienen seit Jahren der lückenlos
zelebrierten Entglasung. Dazwischen tauchen einige neuere Komplexe
auf, mit bunten Firmenbezeichnungen verziert und von
Sicherheitspersonal bewacht. An einer langgestreckten Kantine vorbei,
deren sozialistisches Wandmosaik ihre Betriebszeiten überdauerte,
gelangen wir zu unserem Ziel, den Werkhallen des Arcelor Mittal,
„Global Stahl-Player Nr.1“. Wir sind gekommen, um ein Gespräch
mit Vertretern der hiesigen Metallarbeitergewerkschaft zu führen.
Investition und Intervention
Vor den
Werkstoren bleiben wir vor einer steinernen Büste mit frischen
Blumen stehen. Sie ist Virgil Sahleanu gewidmet, der im September
2000 während Gewerkschaftsprotesten ermordet wurde.
Nach einem
kurzen Sicherheitscheck seitens der Werksleitung führt uns
Constantin Rotaru, Vorsitzender der
Virgil-Sahleanu-Gewerkschaft in einen kleinen Seminar- und Büroraum.
Er nimmt auf einem hölzernen Stuhl Platz und berichtet: Vor der
Wende hatten Gewerkschaften hauptsächlich soziale Funktionen, unter
anderem die Versorgung der Familien mit Wohnungen und Urlaubsplätzen.
Eine Ausnahme bildete der erfolgreiche Streik 10.000er Bergleute 1979
für Arbeitssicherheit und eine warme Mahlzeit mehr am Tag; nicht ihr
Gehalt, sondern rationierte Lebensmittelvergabe und die leeren Läden
waren damals ein Problem. Mit der ersten Privatisierungswelle 1992/93
kamen auf die Gewerkschaften neue Aufgaben zu. Die Regierung
übernahm, soweit keine Investoren vorhanden, Mehrheitsanteile der
alten Kombinate. Absatzschwierigkeiten und nicht gezahlte Löhne
waren charakteristisch, Korruption und Spekulation, wie der Verkauf
der Maschinen anstelle einer Betriebssanierung, die Folge dieser
Phase.
Rotarus
Betrieb sollte erst 1998 privatisiert werden. Mit einem tschechischen
Investor musste nun über Lohn- und Arbeitsbedingungen verhandelt
werden. Einige GewerkschafterInnen unterschrieben ein Papier, das 700
anstatt der geforderten 1.200 Entlassungen vorsah, ohne sich jedoch
mit dem Rest der ArbeiterInnen abzusprechen. Es kam zur Revolte,
Sahleanu und Rotaru wurden unter anderen als neue
Gewerkschaftsfunktionäre gewählt. Der mehrjährige Kampf gegen
Entlassungen und für pünktliche Lohnzahlungen führte von
gescheiterten Gesprächen mit PolitikerInnen und Investoren über
Demonstrationen bis hin zu kleinen Riots in der Innenstadt von Iasi.
Viele Menschen beteiligten sich, denn die Situation war in anderen
Branchen ähnlich, wenige GewerkschafterInnen wagten den offenen
Konflikt mit Investoren und korrupter Politik.
Presseberichte
aus dieser Zeit waren wenig solidarisch. Rotaru fasst deren Tenor
zusammen: „Die Arbeiter verstehen nicht, was Privatisierung
bedeutet, denn hier gibt es eine Person, die 3,5 Millionen Dollar
Sanierungskosten investiert und den Arbeitern reicht das nicht.“
Die Betriebssanierungskosten hatte jedoch in Wirklichkeit der Staat
bezahlt, um den Betrieb verkaufbar zu machen, das gehörte zum Deal
mit dem neuen Besitzer. Die Gewerkschaft verklagte daraufhin
den Investor wegen Vertragsbruch und erzwang so Wiedereinstellungen
als auch die Rückzahlung der Investitionskosten an den Staat.
Anschließend
ging die Werksleitung in Revision, um nachträglich die Änderung der
Kaufbedingungen zu modifizieren und engagierte zusätzlich einen
Sicherheitsdienst, um die Revoltierenden einzuschüchtern. Diese
wehrten sich erfolgreich gegen Streikbruch, drohten gar an, die
mittlerweile besetzte Fabrik zu sprengen; an den Hauptpfeilern der
Gebäude wurden Gasflaschen befestigt. Am 7.9.2000, im Vorfeld des
zweiten Gerichtsurteils und einer weiteren Großdemonstration
erschlugen drei Männer des Sicherheitsdienstes im Auftrag der neuen
Werksleitung den Wortführer der Streikenden, Virgil Sahleanu.
Recht und
Realität
Den
Revisionsprozess gewann die Gewerkschaft wie erwartet. Es folgte ein
Prozess, der die Mörder und Auftraggeber überführte. Während der
rumänische Direktor einsitzt, gilt der ebenfalls für schuldig
befundene tschechische Investor bislang als flüchtig, da ihn die
tschechischen Behörden nicht auslieferten.
Zwei Jahre
später, nach einem „unfriendly takeover“ in der zweiten
Privatisierungsphase Rumäniens 2002/03, gab es einen neuen Besitzer:
Arcelor Mittal. „Die Zahl der Arbeiter ging zurück. Es waren etwa
1.500 und jetzt sind es 500.“ Rotaru verweist in diesem
Zusammenhang auf Outsourcing, weniger Ausbildung, Zeitarbeit und „die
Krise“. Unter den verbliebenen 500 ist die gewerkschaftliche
Organisierung mit 96% hoch. Landesweit sind es 50%.
150 Euro
beträgt der Mindestlohn. „150 Euro für 172 Stunden Arbeit!“
betont Rotaru. „2004 konnten wir mehr kaufen als heute für unsere
leicht gestiegenen Löhne.“
30 Euro
monatlich gibt es zusätzlich zum Werkslohn für die
Gewerkschaftsarbeit, welche die zwei Funktionäre in ihrer Freizeit
erledigen. Mit den Mitgliedsbeiträgen von zwei Euro werden
Gewerkschaftstreffen, ein Stipendium für Sahleanus Tochter und
kleine Geschenke zum 8. März – dem Internationalen Frauentag – für
die Belegschaft finanziert. Für Streikgeld reicht es nicht. Proteste
für bessere Arbeitsbedingungen sind erfolgreich, für bessere Löhne
aber kaum. „Nach dem dritten Streiktag sagen die Leute: Ich
verliere Geld und muss Raten bei der Bank bezahlen.“ Auf
Unterstützung von Staat oder Arbeitgebern will sich Rotaru nicht
verlassen: „Wir ziehen es vor, autonom zu sein!“
Kürzlich
berichtete ein Freund aus Iasi, dass die Hälfte der restlichen
Arbeiter von Arcelor Mittal entlassen wurden; die alles
rechtfertigende Begründung: „die Krise“.
Wasja
Budei
Dieser
Artikel entstand nach einer Recherchereise in Rumänien im Rahmen des
politischen Netzwerkes YOREX. Hier organisieren sich Menschen aus
verschiedenen Städten in Südosteuropa und Berlin gegen Rassismus,
Nationalismus, Homophobie und andere unangenehme Begleiterscheinungen
unserer Zeit.
Umfassende
Informationen zur Gewerkschaftsarbeit in Rumänien:
Direkte
Aktion Nr.177, September/Oktober 2006, Seite 11
Arcelor
Mittal
Nach eigenen
Angaben operiert der Konzern in 60 Ländern und ist mit einem Anteil
von 10% der weltweiten Stahlproduktion und einem Jahresumsatz 2008
von fast 125 Milliarden Dollar der größte Stahlproduzent in der
Branche. In den 1990ern hervorgegangen aus dem Mittal Steel Konzern
übernahm Arcelor Stahlwerke aus vielen Ländern wie Thyssen Duisburg
oder Sidex aus Rumänien.
Gewerkschaftliche
Organisierung in Rumänien
Kleinere
Branchengewerkschaften organisieren sich in fünf Dachverbänden. Ab
15 Mitglieder ist die Gründung einer Gewerkschaft legal möglich.