Remember the Dead – fight for the Living*

Mit einer Eilmeldung kehrten „die Arbeiter“ in die
Nachrichten zurück. Aus bisher ungeklärter Ursache hatten sich vom
Erweiterungsbau für das Braunkohlekraftwerk Neurath Stücke des
Großkesselgerüsts gelöst. Die Konstruktion aus mehreren Stahlträgern war, unter
zusätzlicher Last, aus einer Höhe von über 100 Metern zu Boden gestürzt. Auf
einer Großbaustelle des Stromkonzerns RWE hatten 450 Tonnen Stahl mehrere
Bauarbeiter mit in die Tiefe gerissen. Die etwa 1.000 KollegInnen müssen mehr
als entsetzt gewesen sein. Ob angeordnet oder nicht, die Arbeit ruhte, seit
diesem Nachmittag, Ende Oktober 2007, in Grevenbroich im Ruhrgebiet. Das
Unternehmen sprach zunächst von fünf Toten und einem Vermissten. Es folgte ein
Großeinsatz der Rettungskräfte – und ein helles, aber kurzes Strohfeuer in den
Medien.

Vier Tote, 3.400 Verletzte. Täglich.

Bei der Katastrophe Ende Oktober starben drei Arbeiter; seit
Herbst 2007 sind es insgesamt fünf Tote bei dem RWE-Kraftwerksbau. Die
getöteten Arbeiter sind kein Einzelfall. Weder auf dieser Baustelle, noch im Bundesgebiet.
Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres starben, vereinzelten
Presseberichten zufolge, sieben ArbeiterInnen bei einem Betriebsunfall. Die
Berichterstattung über diese Tragödien ist marginal: Die Statistik weist (für
2006) über 900 tödliche Arbeitsunfälle aus, und etwa halb so viele Todesfälle
auf dem Weg zum oder vom Arbeitsplatz. (1) Das sind vier Tote und 3.400
Verletzte, tagtäglich. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Arbeitsunfälle,
nach vorläufigen Angaben der Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), weiter
gestiegen. Auch wenn diese Zahl in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken
ist, hält sie sich noch immer oberhalb der Millionenmarke. Dabei verzeichnet
die DGUV nur die meldepflichtigen Unfälle. Das sind diejenigen, die eine mehr
als 3-tägige Arbeitsunfähigkeit oder den Tod zur Folge haben.

Einen Schwerpunkt bilden erwartungsgemäß die Bau- und
Holzwirtschaft und die Leiharbeit. Verhältnismäßig viele Unfälle ereignen sich
in Klein(st)unternehmen, die dem Arbeitsschutz zu wenige Mittel zuweisen. Die
Unfallrate ist deutlich höher. (2) Aber auch in Großunternehmen werden
ArbeiterInnen zu Unfallopfern, meist mit verheerenderen Folgen. Im Dezember
2007, beispielsweise, starben fünf Arbeiter bei einem Großbrand in dem Turiner
Werk des Stahlkonzerns ThyssenKrupp. 30.000 ArbeiterInnen der Metallbranche
legten daraufhin die Arbeit nieder. (3) Das Unternehmen weist indes jegliche
Verantwortung von sich.

Im Falle Grevenbroich lehnt RWE die Verantwortung nicht ab,
weil solche Vorwürfe in Deutschland gar nicht erhoben werden. Vielmehr kann
sich das Management des größten deutschen Energiekonzerns zurücklehnen; die
Subunternehmen Alstom und Hitachi hätten die Hoheit über die ausgeführten
Arbeiten innegehabt. Überdies genügte allen Beteiligten der Hinweis, man habe
zunächst die Untersuchungsergebnisse abzuwarten. Wie die Wochenzeitung Jungle
World
für Turin konstatierte, aber doch auf andere Weise, folgte auch
hierzulande „dem allgemeinen Entsetzen kein allgemeiner Protest.“ Erste
Ergebnisse der Untersuchungen von Staatsanwaltschaft und Arbeitsschutz sind für
den Sommer angekündigt.

Kein Thema.

Arbeitsunfälle werden in Deutschland wohl seit jeher „hinter
den Kulissen“, nicht als öffentliche Angelegenheit behandelt. Im 19.
Jahrhundert hatte zunächst Preußen „Arbeiterschutzbestimmungen“ erlassen, weil
es dem Reformkönig an brauchbaren Rekruten mangelte – oder modern formuliert:
an Humanressourcen. Heute kümmern sich mehrere Dutzend Berufsgenossenschaften
und Arbeitsschutz-Ämter um eines der größten Zuckerstücke aus dem Erbe
Bismarcks. Die einen sorgen als Gliederungen der gesetzlichen
Unfallversicherung, ähnlich den Krankenkassen, für die Behandlung des
Einzelfalls. Die anderen suchen, durch Inspektionen, Präventionsmaßnahmen und
Untersuchungen die volkswirtschaftlichen Kosten (die Rede ist von
Milliardenbeträgen) zu drücken. In diese Richtung zielt auch die für 2008
geplante Reform der Unfallversicherung durch die Bundesregierung: „Straffere
Strukturen“ sollen zielführend sein, um „Kosten zu senken sowie die
Wirtschaftlichkeit und Effizienz des Systems zu stärken“. Die Beschäftigten
kommen, so z.B. auch in einer Kampagne der Arbeitsschutz-Allianz Sachsen, an
letzter Stelle in der Argumentationskette. So mag dem einen oder der anderen
LeserIn flau im Magen werden, ob des Sinns, der im sorgenden Blick des Vaters
Staat liegt.

So erklärt sich auch der blinde Fleck im Themenkatalog
bundesdeutscher Boulevard- und Tagespresse. Der „linkskommunistische
Theoretiker“ Gilles Dauvé fasst die Problematik in einem Essai zur
Pressefreiheit wie folgt: „Das Prinzip der Pressefreiheit hängt in jedem Moment
von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Arbeitsunfälle sind sehr
wohl Wirklichkeit, und zwar massiv. Aber die Öffentlichkeit erfährt davon, im
Vergleich zu den Nachrichten unter ‚Vermischtes’, kaum etwas – denn im
Gegensatz zu bspw. den Unfalltoten im Straßenverkehr, rücken diese Unfälle die
Beziehung von Lohn und Kapital ins Blickfeld und rühren an den Kern des
kapitalistischen Systems.“ (4) Vielleicht etwas pathetisch, aber…

Wenn die Konjunktur brummt

Fakt ist: Seit 2006 nimmt die Zahl der angezeigten
Arbeitsunfälle wieder zu. Bei den tödlichen Unfällen war sogar ein drastischer
Anstieg gegenüber dem Vorjahr zu beklagen. Hier werden nach wie vor massive Mängel
und Defizite im Arbeitsschutz erkennbar. Aber nicht allein die Verletzung von
Arbeitsschutznormen und -gesetzen führt zu Unfällen. Sowohl die
DGB-Gewerkschaften als auch die Bundesregierung hängen es zwar nicht an die
große Glocke; aber auch sie stellen die Konjunktur – „Arbeitsintensität und
Beschäftigung nehmen zu“ – in einen ursächlichen Zusammenhang zur erhöhten Zahl
der Arbeitsunfälle.

Die gewerkschaftsnahe Zeitschrift Gute Arbeit
schreibt im Februar 2008, betont zurückhaltend: „Möglicherweise trägt auch die
Ausbreitung von Leiharbeit dazu bei.“ Nach offiziellen Zahlen liegt der Anteil
der LeiharbeiterInnen unter den abhängig Beschäftigten bei 1,8% – wohingegen
4,6% der Arbeitsunfälle auf Leihbuden entfallen. Weiter heißt es: Die
„Ausdehnung von Arbeitszeiten, Kosten- und Termindruck, Stress im Arbeitsleben
spielen [bei Arbeitsunfällen] eine Rolle, die gründlicher untersucht werden
muss.“

Einen interessanten Fundus zu dieser Frage bietet eine
Erhebung von 2006. Generell könne demnach zwar von einer gewissen Entschärfung
der Belastungssituation im Bereich der körperlichen Arbeitsbedingungen
ausgegangen werden. Aber das heißt noch nicht, dass die schöne neue, saubere
Dienstleistungswelt, wie man sie aus Werbung und TV kennt, Wirklichkeit
geworden wäre. Die klassischen Zwangshaltungen (gebeugt, hockend, auf Knien
etc.) wie auch das Tragen schwerer Lasten sind noch keine Ausnahme. Betroffen
sind v.a. ArbeiterInnen auf dem Bau sowie in der Landwirtschaft, im
Transportgewerbe und in Gesundheitsberufen. Und auch die typischen
Angestelltenberufe sind keine „goldenen Käfige“, sondern ebenso rostig wie die
Handarbeit, nur anders. So verliert die Fremdbestimmtheit der konkreten
Tätigkeit zwar an Raum, der Zugriff auf die Arbeitskraft verlagert sich jedoch
nur auf die Ebene strikter Ergebnis- und Zeitvorgaben. (5) Die Grenze ist
fließend zwischen schlechten Arbeitsbedingungen, die schleichend, und
Arbeitsunfällen, die schlagartig krank machen. Für Gewerkschaften also kein
Thema, das man umgehen könnte.

„Der Terrorismus der Bosse“

Die anarcho-syndikalistische CNT-IAA stellt sich dem Problem
und startete im Frühjahr 2004 in Madrid eine Kampagne gegen die Unsicherheit am
Arbeitsplatz. Unter der Losung „Accidente laboral, Terrorismo patronal!“
organisierte die radikale Gewerkschaft in jedem Verwaltungsbezirk der
Hauptstadt eine Kundgebung, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Die
absoluten Zahlen sind denen aus Deutschland sehr ähnlich: Im Jahr 2000 sind
jeden Tag durchschnittlich 2.600 ArbeiterInnen verletzt und fünf getötet
worden. Verhältnismäßig aber sind es doppelt so viele Unfälle wie in
Deutschland, und die Tendenz der Steigerung ist bis heute ungebrochen. Im
Frühjahr 2002 war die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle (im Vergleich zum
Vorjahreszeitraum) um 16,4% gestiegen!

Dieser rasante Anstieg war wohl einer der Anlässe für die
CNT Villaverde (Madrid), die Kampagne gegen Arbeitsunfälle aus der Taufe zu
heben. Anlass genug auch für die übrigen CNT-Gruppen, die Kampagne zu
unterstützen und auf Landesebene zu heben. Inzwischen findet sich im Internet
eine umfangreiche Sammlung von Berichten über Demos und Aktionen sowie über
Unfälle, die durch Nichteinhaltung von Sicherheitsstandards entstanden sind.
(6) Um nicht nur im konkreten Falle aktiv werden zu können, wenn es schon zu
spät ist, ruft die Gewerkschaft dazu auf, Unternehmen bei der CNT anzuzeigen,
die die Mindeststandards beim Arbeitsschutz unterschreiten.

Für eine Vielzahl der Arbeitsunfälle, besonders auf dem Bau,
macht die CNT Unternehmen verantwortlich, die aus Profitgründen
Sicherheitsmaßnahmen außer Acht lassen. Verantwortlich macht sie auch
Politiker, die das Problem bestenfalls einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterziehen
– und schließlich die großen Gewerkschaften CCOO und UGT, die aufgrund ihrer
Abhängigkeit von Unternehmen und Staat die Verteidigung der ArbeiterInnen nicht
in die Hand nehmen können. Allein, der Jammer nur hilft gar nicht. Die Kampagne
richtet sich deshalb auch gegen Leiharbeit und Prekarität, weil insbesondere
dadurch Arbeitsunfälle hervorgerufen werden.

Die spanische Regierung (Sozialdemokraten) plante nun 2007
ein Programm zur Verringerung dieser Zahlen, „um den menschlichen, sozialen und
wirtschaftlichen Schaden, den Arbeitsunfälle verursachen, zu verringern“. Unter
anderem sind verstärkte Inspektionen in Betrieben angedacht, die viele Unfälle
verzeichnen. Die CNT mahnt, dass das nur ein Anfang sein könne, weil es nur die
halbe Wahrheit ist. Die Gewerkschaftsföderation verweist darauf, dass die
Regierungsinitiative lediglich auf die „Gesetzestreue“ von ArbeiterInnen und
Unternehmen abzielt. Völlig ausgeblendet würden hingegen zunehmender
Arbeitsstress, u. a. durch Zeitarbeit und im Dienstleistungssektor, die
unzähligen Überstunden und der verbreitete finanzielle Zwang zu mehreren Jobs.
Ganz klar, in vielen Branchen landet ganz schnell zwischen der Maschine, wer
nicht wirklich mit allen Sinnen bei der Sache, oder wer erschöpft ist.

Remember the Dead, fight for the Living

Arbeitsunfälle sind freilich nicht nur in Europa ein
Problem. In den USA starben im Jahr 2004 5.700 ArbeiterInnen bei oder infolge
eines Unfalls auf Arbeit. Die Ausmaße in Staaten der südlichen Hemisphäre oder
Entwicklungsdiktaturen wie China können wohl nur geschätzt werden. Eines ist
sicher: Das Problem ist gigantisch und eines der drängendsten. Nach Angaben der
britischen Gewerkschaft TUC fordert die Lohnarbeit alljährlich mehr Opfer als
die Kriege dieser Welt. Die internationale UNO-Organisation ILO schätzt die Zahl
der Toten und Verletzten weltweit auf zwei bzw. 270 Millionen ArbeiterInnen.

Die kanadische Gewerkschaft CUPE hatte das Gewicht
dieses Themas bereits Mitte der 1980er erkannt und mobilisierte als erste zu
einem „Workers’ Memorial Day“. Den 28. April 1984 machte die CUPE – unter der
Losung „Der Toten gedenken, kämpfen für die Lebenden“ – zu einem Tag des
Gedenkens und Engagements für ArbeiterInnen, die durch ihre Arbeit getötet,
verstümmelt, verletzt wurden oder anderweitig zu leiden haben. Schnell mauserte
sich das Datum zu einem internationalen Aktionstag, an dem gestreikt,
protestiert und informiert wird. In zahlreichen Städten wurden,
organisationsübergreifend wie es dem Problem gebührt, Gedenktafeln mit der
einheitlichen Losung angebracht. Vor zwei Jahren gab es am 28.4.
Veranstaltungen, Demonstrationen und Kundgebungen in über 80 Ländern auf allen
Kontinenten (7) – in Deutschland hat noch keine Gewerkschaft dieses Thema als
Anlass einer Mobilisierung aufgegriffen.

André Eisenstein

* Der Toten gedenken, kämpfen für die Lebenden.

Anmerkungen

1) Bundesregierung: „Sicherheit und Gesundheit bei der
Arbeit 2006“ (SUGA 2006), Schwerpunkt Zeitarbeit. http://de.osha.europa.eu

2) Werner Feldes, in: Zeitschrift „Gute Arbeit“, März 2007. www.gutearbeit-online.de
3) siehe Catrin Dingler: „Die Toten von Turin“, in:
Wochenzeitung „Jungle World“ #51, 2007. Im Archiv im Internet, www.jungle-world.com
4) Gilles Dauvé: „Le Présent d’une Illusion“, La Lettre de
Troploin #7, Juni 2006.
5) Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin:
„Arbeit und Beruf im Wandel“, 2005/2006. Überblicksweise dargestellt von Uwe
Lenhardt: „Nichts für Schwache Nerven“, in: Gute Arbeit, März 2007, www.gutearbeit-online.de
6) Ausführlichere Informationen auf Spanisch bei der
CNT-IAA: www.cnt.es/accidentes
7) Weitere Informationen auf Englisch bei der Zeitschrift
„Hazards“: http://hazards.org/wmd

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