„… aktiv werden ohne den Mythos von einer Revolution mit großem Feuer“

fred-alpi.jpegFred,
Du wirst im September auf Deutschland-Tournee gehen. Wir haben den
Eindruck, dass generell nur sehr wenige französischsprachige
Künstler Lust haben, hier aufzutreten?

Es
gibt seit langem ein ziemliches Missverständnis zwischen Frankreich
und Deutschland. Die Franzosen haben sehr lange nicht gelernt, eine
andere Sprache zu benutzen. Mit Französisch konnten sie sehr lange
überall hin reisen. Ein bisschen so wie heute die Amerikaner waren
sie lange nicht neugierig auf andere Kulturen. Außerdem reisen sie
ziemlich wenig ins Ausland. Und wenn, dann zieht es sie eher nach
Italien oder Spanien. Es ist aber schon etwas besser geworden.

Du
selbst bist ja eher ein Weltenbummler mit schwedischen Wurzeln, hast
in Frankreich, Belgien und Deutschland, vor allem in Berlin, gelebt…

Ich
bin ja durch die schwedische Kultur geprägt. Schweden reisen nun
einmal sehr gerne, selbst der tief im Landesinneren wohnende Bauer
fährt gern ins Ausland. Ich habe für mich, als ich Anfang der
Achtziger in Berlin gewohnt habe, sehr viel gelernt: Wie man eine
alternative Kultur kreiert und am Leben hält, also weitermacht und
so eine Kontinuität schafft. In der Berliner alternativen Szene
treffe ich auch heute wieder auf Leute, die seit mehr als zwanzig
Jahren immer noch aktiv sind.

Das
ist in Frankreich nicht der Fall?

Die
meisten Aktivisten von vor zwanzig, dreißig Jahren sind aus der
alternativen Szene ausgestiegen, sind bürgerlich geworden, entweder
in der sog. offiziellen Kultur oder im Business gelandet. In
Frankreich ist die Kultur unter staatlicher bzw. industrieller
Kontrolle. Hier gibt es auch kein organisatorisch stabiles Netz von
alternativen Kulturzentren wie in Deutschland. In Frankreich läuft
es entweder unorganisiert alternativ oder organisiert businesslike.

Kommen
wir zum System Sarkozy. Es scheint sich immer mehr durchzusetzen.
Warum gibt es keinen wirklich spürbaren Widerstand dagegen?

Die
französische Sozialdemokratie, also die PS, war schon immer ziemlich
rechts. Die Sozialisten waren immer ultraliberaler als die rechten
Parteien. Daher sind sie keine glaubwürdige Opposition. Auch die
traditionellen Gewerkschaften organisieren ja eher ritualisierte
Streiktage, ohne dass sich danach wirklich etwas ändert. Natürlich
gibt es Widerstand gegen Sarkozy, aber der ist sehr zersplittert und
hat Schwierigkeiten zusammenzuarbeiten. Die Anarchisten sind aktiv,
zahlenmäßig aber klein.

In
letzter Zeit melden sich Intellektuelle wie der
radikal-kommunistische Philosoph Alain Badiou verstärkt zu Wort.
Und der Regisseur Jean-Luc Godard wird Ende des Jahres seinen Film
„Socialisme“ in die Kinos bringen, in dem Badiou neben Patti
Smith (!) eine wichtige Rolle spielt…

Ja,
das mit Badiou ist ziemlich interessant, auch wenn er immer noch ein
bisschen Maoist ist. Die Intellektuellen in Frankreich haben immer
gute Ideen, nur mit der Praxis hapert es. Wenn es keine Kette
zwischen Theorie und Wirklichkeit gibt, ist es bloß ein
intellektueller Spaß. Wie Chomsky sagt: Du lernst viel mehr, wenn du
einen Streik machst oder ein Sozialzentrum aufbaust, als wenn du nur
liest. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde es
interessant, was die Intellektuellen zu sagen haben. Auch idealisiere
ich die Arbeiter nicht. Es gibt gute Arbeiter, es gibt scheiß
Arbeiter, es gibt auch Faschisten unter den Arbeitern. Ich habe nicht
diese marxistisch-leninistische, religiöse Sicht bezüglich des
Charakters der Arbeiter.

Was
macht ihr bei der CNT praktisch?

Wir
versuchen, viele Aktionen und Konzerte mit Büchertischen und Filmen
zu organisieren, so dass die Leute Spaß und Lust haben, miteinander
zu reden. So versuchen wir, politisches Bewusstsein zu schaffen. Als
Anarchisten haben wir kein Programm. Die Leute sollen selbst für
sich denken und selbstverantwortlich aktiv werden, ohne den Mythos
von einer Revolution mit großem Feuer.

Jorinde
Reznikoff / Klaus-Peter Flügel

Fred Alpi Live

Montag
21. September 19.00 Uhr

Linkes
Zentrum
Hinterhof
– Corneliusstr. 108
40215
Düsseldorf

Dienstag
22. September 20.00 Uhr

Extra-Blues-Bar
Siekerstraße
20
33602
Bielefeld

Mittwoch
23. September 20.00 uhr

Räume
des SUBVERSIV e.V. (Brunnenstr. 7 HH / U Rosenthaler Pl.)
Berlin

Donnerstag
24. September 20.00 Uhr

Hoffart
Theater
Lauteschlägerstraße
28a
(Hofeinfahrt
neben dem Café Blu)
64289
Darmstadt

Freitag
25. September 20.00 Uhr

Yachtklub
(Hausboot)
Deutschherrnufer
/ Alte Brücke
60500
Frankfurt

Genauere Beschreibungen finden sich unter Termine.

Nachtrag zum Interview

Am
8. Juli kam es in Montreuil im Kontext einer Demonstration gegen die
Räumung einer zu sozio-kulturellen Zwecken besetzten ehemaligen
Klinik zu brutalen Polizeiübergriffen. Mit „flash balls“ hatten
Polizisten auf die Köpfe von Demonstranten geschossen. Der
34-jährige Joachim Gatti verlor dabei sein Augenlicht. Allein in den
letzten 12 Monaten haben drei Demonstrationsteilnehmer durch „flash
balls“ in Frankreich schwerste Augenverletzungen erlitten bzw. ihr
Augenlicht verloren. Wir baten Fred Alpi telefonisch um seine
Einschätzung der Ereignisse.

Es
ist sicher ein Zufall, dass ausgerechnet Joachim Gatti, der Enkel des
bekannten Filmemachers Armand Gatti verletzt wurde. Es ist verboten,
mit Gummikugeln auf die Gesichter zu zielen. Die Demo an sich war
betont friedlich – mit Essen, Musik und Feuerwerk. Aber die Polizei
wollte gerade das nicht haben. Der neue Innenminister will allen
zeigen, dass es gefährlich ist, auf die Straße zu gehen.

Es
ist aber ein allgemein europäisches Problem: Alles was gegen die
ultraliberale Logik geht, wird als Terrorismus betrachtet. Es ist
fast schon die Regel, dass sich am Ende von Demonstrationen als
Anarchisten verkleidete Polizisten unter die Teilnehmer mischen, um
Gewalt zu provozieren. Dabei sind sie überzeugt, dass sie ihren Job
gut machen, weil sie das System schützen. In Frankreich gibt es
allerdings eine extrem rechte, rassistische Mentalität. Sarkozy hat
schon immer sehr deutlich gesagt, dass er die Front-National-Wähler
in die „normale“ Rechte reintegrieren wolle. Es ist erschreckend,
dass Sarkozy es tatsächlich geschafft hat, fast alle Forderungen von
Jean-Marie Le Pen zur Inneren Sicherheit in die Praxis umzusetzen.

 

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