Melbourne 1990: Direkte Aktion im Nahverkehr

Seit März wird bei der BVG (Berliner
Verkehrsbetriebe) gestreikt. Der Grund ist, dass die Gewerkschaft
ver.di höhere Löhne für die rund 12.000 Beschäftigten der BVG und
deren Tochtergesellschaft Berlin Transport (BT) fordert. Anfangs
wurde die BVG voll bestreikt, um mit ausfallenden U-Bahnen,
Straßenbahnen und Bussen Druck auf die Arbeitgeber auszuüben.
Problematisch war nur, dass die BVG eine Gesellschaft öffentlichen
Rechts ist und von staatlicher Seite stark subventioniert wird. Und
da stillstehende Züge für die BVG keine Kosten bedeuten, sie selbst
die Löhne und der Senat die Subventionen spart, kann solch ein
Streik in aller Ruhe ausgesessen werden. Ver.di befindet sich
deswegen in einem Dilemma, was die Frage nach einer effektiven
Strategie betrifft.

Eine ähnliche Situation erlebten die
Lokführer in Melbourne 1990. Die Regierung wollte den
Nahverkehrsbetrieb an die Metropolitan Melbourne Puplic Transport
Authority (MET) verkaufen. Im Zuge der Privatisierung sollten
Arbeitsplätze abgebaut werden. Ein neues Fahrkartensystem mit
Ticket-Automaten und öffentlichen Tikketverkaufsstellen (MET-Shops)
sollten für Stellenabbau sorgen. Aber, anstatt die Züge zu
blockieren, ließen die ArbeiterInnen sie rollen. Unentgeltlich für
die Fahrgäste. Somit produzierten die Bahnen Kosten, nahmen aber
nichts ein – und der Druck auf die Stadtverwaltung wuchs.

Anarchos bei der Bahn

Seit Mitte der 1980er Jahre arbeitete
eine kleine Gruppe von AnarchistInnen in den öffentlichen Melbourner
Verkehrsbetrieben. 1985 brachten sie ein Flugblatt mit dem Titel
„Stopping all Stations“ heraus. Im Mai 1986 wurde es zu einer
kleinen Zeitung namens „Sparks“ ausgeweitet, die von der Anarcho
Syndicalist Federation (ASF) für die ArbeiterInnen in den
öffentlichen Verkehrsmitteln herausgegeben wurde. Sparks wurde zu
einem Sprachrohr der ArbeiterInnen. Die Zeitschrift empfahl die
direkte Demokratie und den Anarchosyndikalismus und sprach mit einer
Auflage von 5.000 eine beträchtliche Leserschaft an. Die Zeitung
erreichte mehr Glaubwürdigkeit als die Zeitschriften der
öffentlichen Gewerkschaften.

Am deutlichsten wurde der Einfluss der
AnarchosyndikalistInnen bei den Besetzungen der Straßenbahnen 1990.
Die ArbeiterInnen besetzten die Bahnstationen und boten die Fahrten
für lau an.

Die Vorgeschichte

Im August 1988 fand ein Protestmarsch
gegen die Eröffnung des MET-Shops (Verkaufsstelle im Besitz der
Metropolitan Melbourne Public Transport Authority, ein Teil der
Public Transport Corporation) in der South Melbourner
Straßenbahnstation statt. Der MET-Shop wurde personell durch
Nicht-Mitglieder der ATMOEA(1) besetzt, die „Scratch- Tickets“(2)
verkauften. Ziel der Regierung war es, Einsparungen am
Nahverkehrsbetrieb vorzunehmen. Die Umstrukturierungspolitik der
Regierung beinhaltete zunächst die Entlassung von ZugführerInnen
und SchaffnerInnen, später dann von EisenbahnerInnen. Während die
ArbeiterInnen protestierten, fand in der Gewerkschaftsführung ein
Wechsel statt. Der Generalsekretär Harper wurde von Lou Di Gregorio
abgelöst. Das Team um Lou Di Gregorio führte erste ZugführerInnen-
Treffen ein, Aktionen wurden geplant und durchgeführt. So zum
Beispiel der Versuch, das Amt der Public Transport Corporation zu
besetzen oder die Störung der staatlichen ALP-Konferenz(3).

In einigen Stationen wie Essendon und
Brunswick agierten die ArbeiterInnen auf eigene Faust und legten ihre
Arbeit ohne Vorankündigung nieder. Die MET musste auf Leiharbeiter
zurückgreifen, die eine äußerst schlampige Arbeit verrichteten.

Die MET reagierte darauf mit folgender
Auflage für die ArbeiterInnen: „Sie sind aufgefordert, dafür zu
unterschreiben, dass sie während ihrer Schicht wie befohlen
gearbeitet haben.“ Nur zwei Eisenbahner in Brunswick beugten sich
der Bürokratie und unterzeichneten den neuen Vertrag mit den neuen
Auflagen. Die anderen ArbeiterInnen wurden in ihrer Meinung
gefestigt, dass ab jetzt „drastischere Methoden“ notwendig waren,
um die Regierung und die MET wieder zur Besinnung zu bringen. Direkte
Aktionen waren die Antwort auf die MET-Pläne.

Gratisfahrten durch Melbourne

Am Montag, den ersten 1. Januar 1990,
wurden die Stationen Brunswick, Essendon, Kew, North Fitzroy,
Preston, und South Melbourne besetzt. In Brunswick hängten die
ArbeiterInnen ein Banner mit der Aufschrift „Diese Station ist
unter Kontrolle der ArbeiterInnen“ auf. Für die MET geriet der
Streik außer Kontrolle. Die S-Bahn-ArbeiterInnen organisierten sich
und verabschiedeten folgende Resolution: „Wir, die Mitglieder von
Brunswick, sind gegen die Entscheidung der Regierung, das System und
den Öffentlichen Verkehr herunterzufahren und Einsparungen an den
ArbeiterInnen vorzunehmen. Wir fügen hinzu, dass auch im Falle der
Umstände, unter denen eine Wiederaufnahme des Dienstes möglich
wäre, wir nur unter der Bedingung unsere Arbeit wieder aufnehmen,
dass die Regierung einverstanden ist, dass die Zugführer für immer
auf allen Strecken eingestellt bleiben. Wir lehnen jede Vorstellung
eines Kompromisses zu diesen Themen ab. Wir erklären, dass unsere
Besetzung von Brunswick fortgesetzt wird, bis unsere Forderungen
erfüllt sind.“

Die StraßenbahnerInnen erfuhren viel
Solidarität und materielle Unterstützung. Der Versuch der
Regierung, die ArbeiterInnen wieder an ihre Arbeit zu bringen,
scheiterte. Irgendwann ließen die Streikenden den Betrieb dann doch
wieder auf leben. Nur nicht so, wie die MET es geplant hatte. Weil
das bloße Stilllegen des Verkehrsnetzes der Stadtverwaltung und der
MET keinen Cent gekostet hätten, weil stehende Züge nichts kosten
und sie sogar noch an den Lohnkosten gespart hätten, ließen die
StraßenbahnerInnen von Brunswick die Züge wieder rollen. Im Zuge
der Arbeitsaufnahme boten sie den Fahrgästen die kostenlose Mitfahrt
an. Diese bedankten sich mit Spenden. Insgesamt kamen über 4.000
Dollar zusammen, zuzüglich der Nahrungsmittel, und sogar
Nahrungsmittel für die Haustiere der Streikenden. So konnte erstens
der Druck auf die Stadtverwaltung erhöht werden und zweitens konnte
der Streik durch die Spenden länger durchgehalten werden.

Das Ende eines großen Streiks

Das Ende des Streiks wurde durch ein
geheimes Treffen zwischen ALPlern und dem Präsidenten von ATMOEA
eingeleitet. Den Verrat durch die Gewerkschaftsführung an den
ArbeiterInnen besiegelte ein Deal, der drei Tage zuvor von den
ArbeiterInnen abgelehnt worden war. Nun aber wurde er vom
Gewerkschaftsvorsitzenden Di Gregorio unterzeichnet, Di Gregorio rief
die ArbeiterInnen zur Arbeitsaufnahme auf. Vor allem die
ArbeiterInnen in Brunswick widersetzten sich. Ihnen wurden die
finanziellen Mittel durch die Gewerkschaftsbosse entzogen, was sich
demoralisierend auf die Streikenden auswirkte. Hinzu kam, dass die
Regierung, getroffen von den Kosten durch die Gratisfahrten,
gewaltsam in den Protest eingriff. Mit einem massiven Polizeiaufgebot
wurden die Straßenbahnen stillgelegt.

Macht und Mittel

Die StraßenbahnerInnen von Melbourne
haben mit ihrem Streik ein deutliches Zeichen gesetzt. Sie zeigten,
was Direkte Aktion bedeutet, indem sie einfach nur das gemacht haben,
was sie sonst auch machten. Sie nutzten die Mittel, die ihnen zur
Verfügung standen, um ihre Ziele zu erreichen. Der bloße Streik und
der Stillstand der Züge hätten der MET und der Stadt keinen Cent
gekostet. Sie hätte, wie aktuell in Berlin, den Streik seelenruhig
aussitzen und abwarten können, bis die Streikkassen leer sind und
die Gewerkschaft einlenkt. Stattdessen ließen die ArbeiterInnen die
Züge rollen, und zwar kostenlos für die Passagiere. Sie trafen die
Bosse dort, wo es ihnen wirklich wehtut. An ihren Bankkonten. Sodass
diese gezwungen waren, die Bahnen gewaltsam stillzulegen. Der Streik
der Melbourner StraßenbahnerInnen war ein Ausdruck für die Macht
der arbeitenden Klasse. Sie sind es, die die Mittel, die ihnen nicht
gehören, für diejenigen benutzen, denen sie zwar gehören, aber
nicht benutzen können. Und die ArbeiterInnen sind es, aus deren
Schweiß und Blut diese Welt geschaffen wurde und wodurch sie
funktioniert. Der bloße Kapitalist ist nur derjenige, der den
Besitzanspruch auf die Mittel behauptet, aber letztendlich sind es
die ArbeiterInnen, die diese Mittel verwalten und benutzen. Und in
ihren Händen werden diese Mittel zu einem gewaltigen Instrument
ihrer Macht.

Benjamin Simmon

 

anmerkungen

(1) „Australian
Tram and Motor Omnibus Employees Association“

(2) Öffentliche Verkehrstickets, die
an Verkaufsstellen erworben werden können. Ähnlich wie unsere
ÖPNV-Tickets.

(3) ALP: „Australian Labor Party“

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