Arme Bevölkerung, boomende Wirtschaft

Angesichts der derzeitigen Finanzkrise werden immer alte und
auch neue Diskussionen über das bestehende Wirtschaftssystem geführt. So stehen
u.a. Fragestellungen nach dem Selbstzweck wirtschaftlicher Tätigkeit im Vordergrund.
Diese Diskussionen mögen zwar ein Problem erörtern, sie lassen aber gewiss die
Wurzeln des Problems aus. Dass kapitalistisches Versagen nicht auf das Handeln
weniger Menschen zurückzuführen ist, sondern vielmehr die logische Konsequenz
aus dem Wirtschaftssystem selbst ist, soll der folgende Artikel an einigen Beispielen
mit einem kleiner Einführung in die Theorie zeigen.

Aus alt mach neu

Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 erkannten
die betroffenen Staaten, dass sich Markt und Wirtschaft eben nicht, wie von den
liberalen Denkern prophezeit, selbst regulieren. Der britische Ökonom John M.
Keynes(1) machte sich Gedanken, wie durch staatliches, gesamtwirtschaftlich orientiertes
Handeln das Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems verhindert oder wenigstens
gemildert werden könnte.

Keynes behauptete: Der gesamtwirtschaftliche Ablauf müsse
staatlich geplant werden. „Wir können die Wünschbarkeit und sogar die
Notwendigkeit von Planung akzeptieren, ohne Kommunist, Sozialist oder Faschist
zu sein.“ Keynes Theorie der antizyklischen Fiskalpolitik sah den Staat als
wichtigen Regler der Wirtschaft. In Zeiten eines Aufschwunges greift der Staat
hemmend auf den Marktmechanismus ein, indem er die Geldmenge reduziere und so
einer Inflation vorbeuge. Während er in Zeiten der Rezession, also im Abschwung,
als Konsument am Markt auftritt, um die Nachfrage zu steigern.

Die 1930er und 40er waren von stärkerem Staatsinterventionismus,
Protektionismus und zentraler Wirtschaftslenkung geprägt. Kritik an Keynes und
der bestehenden Wirtschaftsordnung kam v.a. aus den Reihen der klassischen Liberalen.
Sie forderten eine Rückbesinnung auf die Ideen des Liberalismus, die sie nun konsequenter
weiterdenken wollten. Diese „Neoliberalen“ sahen die Weltwirtschaftskrise nicht
als Produkt der „freien Märkte“, sondern vielmehr als Produkt von falschen
Eingriffen des Staates.

Aus ihrer Sicht bestehe die Gefahr darin, dass ein
ungeregelter Markt dazu tendieren könne, durch Monopolbildung den Wettbewerb aufzuheben.
Er würde dadurch seine eigene Grundlage zerstören. Die Aufgabe des Staates
bestehe also allein darin, durch Wettbewerbspolitik für funktionsfähige Märkte
zu sorgen und Monopolen vorzubeugen. Andere staatliche Eingriffe wie
Subventionen oder Schutzzölle seien marktverzerrend und werden strikt
abgelehnt.

Im Wesentlichen gab es zwei Strömungen. Zum einen die
„Chicagoer Schule“, deren Gründer Frank Knight und dessen Schüler Henry Simons
und Milton Friedman( 2) waren. Zum anderen die „Freiburger Schule“, deren
bekanntester Vertreter zunächst Walter Euken(3) war. Der Begriff des Ordoliberalismus(4)
stammt aus dieser Denkrichtung.

Der Ordoliberalismus sieht den Staat als Instrument der
Wirtschaft, der vor allem folgende wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen
schaffen soll: Durch Kartell- und Wettbewerbsgesetzen die Bildung von Monopolen
verhindern, um so ein Versagen des Marktes vorzubeugen. Er soll für
Markttransparenz und den freien Zugang zu Märkten sowie für eine
Preisniveaustabilität sorgen. Da die Idealvorstellung des vollständigen
Wettbewerbs am Markt aus ordoliberaler Sicht nicht möglich ist, weicht diese
der Vorstellung des funktionsfähigen Wettbewerbs. Marktungleichgewichte können in
einer dynamischen Wirtschaft aufgrund von Innovationen hingenommen werden.
Allerdings steht dahinter die Erwartung, dass diese Ungleichgewichte durch
darauf folgenden Wettbewerb wieder abgebaut werden.

Ähnlich den Theorien des Ordoliberalismus sahen auch die Denker
der „Chicagoer Schule“ das Funktionieren des Marktes in seiner Freiheit. Allerdings
sahen sie jegliche Einmischung des Staates als unwirksam oder gar schädlich an.
Milton Friedman sprach sich gegen eine Wettbewerbspolitik des Staates aus. Zwar
ergäben sich aus der Bildung von Monopolen negative Effekte, aber könnten diese
auch als Anreiz für verstärkten Wettbewerb dienen.

Chile: kapitalistisches Versuchslabor

Erste Erfahrungen mit den neoliberalen Leitideen der
Chicagoer Schule machte das damals totalitär geführte Chile. Unter dem Diktator
Pinochet wurde das chilenische Wirtschaftssystem auf Betreiben der „Chicago
Boys“(5) nach liberalen marktwirtschaftlichen Aspekten umgebaut. Die
chilenische Wirtschaft wurde dereguliert. Eine umfassende Privatisierung der
Infrastruktur, des Bildungswesens und der Gesundheitsversorgung sowie der Abbau
des Sozialsystems waren die Folge dieser Politik.

Chile konzentrierte sich verstärkt auf den Außenhandel. So
wurden die Außenzölle von durchschnittlich 94% auf 10% gesenkt. Des Weiteren
wurde der Peso stark aufgewertet. Eine Deindustrialisierung des Landes
verbunden mit steigender Arbeitslosigkeit war die Folge. Entgegen aller
Erwartungen stieg die Inflation in Chile aber dennoch stark an.

1982/83 brach aufgrund dieser Politik eine schwere Krise
aus. Grund dafür waren zum einen die enorm verschuldeten Banken. Diese hatten
sich dank des freigegebenen Kapitalmarktes zu hohen variablen Zinsen im Ausland
verschuldet und das Kapital im Inland weiter verliehen. Mit steigenden Zinsen und
einer Abwertung des Peso gerieten die Banken in Zahlungsschwierigkeiten und
wurden so in eine starke Finanzkrise geworfen. Ausgelöst durch die Bankenkrise
geriet auch die chilenische Volkswirtschaft in eine tiefe Rezession. 1982 brach
die Wirtschaftsleistung Chiles stark ein. Ein Drittel der Bevölkerung war
unterernährt, die Arbeitslosenquote lag bei 30%; 50% der Chilenen lebten unter
oder an der Armutsgrenze.

„Cut Back Washington“ (6)

Mit dem Wahlsieg der konservativen Partei 1979 in England
kam eine Frau an die Macht, die es verstand, die neoliberalen Ideen umzusetzen und
den wohlfahrtstaatlichen Idealen ein Ende zu bereiten. Premierministerin Thatcher(7)
sah es nicht als Aufgabe des Staates Lohn-, Einkommens- oder Konjunkturpolitik zu
betreiben. Sie setzte sich für Privatisierungen oder zumindest Teilprivatisierungen
des öffentlichen Sektors und Reprivatisierungen von Staatsbetrieben wie der
British Telecom ein.

Der Staat zog sich beinahe aus fast allen Bereichen der
Gesellschaftspolitik zurück, um der Privatwirtschaft ihren Weg zu bereiten. Das
Ziel dieser Politik war es, die britische Wirtschaft von nicht
wettbewerbsfähigen Strukturen zu befreien und den einzelnen Briten zu mehr
Eigeninitiative bzgl. seiner wirtschaftlichen Situation herauszufordern.

Man besann sich auf eine neue Denkweise. So wurden
Arbeitslosigkeit, größere Armut, Obdachlosigkeit und eine ungerechte Verteilung
des gesamtgesellschaftlichen Reichtums nicht mehr als gesellschaftliches
Problem gesehen, sondern als individuelle Einzelschicksale, aus deren Fängen
sich nur die Betroffen selber befreien könnten. Der Maßstab für soziale Leistungen
war nicht länger der Bedarf, sondern vielmehr deren Finanzierbarkeit.

Was in England der Thatcherismus war, war in den USA die
sog. Reaganomics. Reaganomics bezeichnet die US-amerikanische wirtschaftspolitische
Strategie unter Ronald Reagan(8), der in den achtziger Jahren ebenfalls eine
angebotsorientierte Politik(9) wie in England betrieb. Reagans
Wirtschaftsförderungsprogramm beinhaltete eine drastische Senkung des
Spitzensteuersatzes von 70 auf 25%. Die Strategie war, amerikanische
Unternehmen zu mehr Produktion anzureizen und so letztendlich ein höheres
Steuereinkommen zu erzielen. Außerdem wollte man, wie in England, durch
Privatisierung die Wirtschaft von behördlicher Regulierung und
Vorschriftendichte befreien. Das US-Budgetdefizit wollte man mit diversen
Einsparungen, v.a. im Bereich der Sozialleistungen, kompensieren. Aber anders
als in England gelang es der Regierung nicht, den Haushalt auszugleichen. Grund
dafür war u.a. die steigende Rüstungspolitik, die das Defizit immer weiter
ansteigen ließ.

Was beide Regierungen gemein hatten, war die Konsequenz, mit
der sie ihre wirtschaftspolitischen Strategien umsetzten. Was unter Thatcher
für einen ausgeglichenen Haushalt bei steigender Armut sorgte, war unter Reagan
eine Politik der steigenden Armut bei steigender Verschuldung. Bei seinem Amtseintritt
1980 betrug die Staatsverschuldung der USA 930 Mrd. Dollar. Unter Reagan schnellte
sie Ende 1988 auf 2,6 Bio. Dollar. Amerika wandelte sich vom größten Gläubiger der
Welt zum größten Schuldner der Welt. Die unter Reagan vorgenommene Ausweitung
des Freihandels, u.a. durch das US-Kanadische Freihandelsabkommen, und die
Beseitigung anderer ökonomischer Beschränkungen ließen zwar Aktienkurse enorm
steigen und senkten die Inflation. Allerdings kam dies der amerikanischen
Volkswirtschaft mit erheblichen Budget- und Außenhandelsdefiziten teuer zu
stehen.

Schmerzliche Erfahrungen

Auch Neuseeland machte, nachdem es sich, durch eine
Wirtschaftskrise ausgelöst, neu orientieren musste, schmerzliche Erfahrungen mit
dem Neoliberalismus. Wichtigster Handelspartner des Agrarstaates war bis zu seinem
Eintritt in die EWG das Vereinte Königreich England, in das Neuseeland die
Hälfte seiner, meist landwirtschaftlichen Güter exportierte. Als England 1973
der EWG beitrat, unterlag es dem europäischen Protektionismus. Das bedeute für
Neuseeland den Verlust eines starken Handelspartners. Hinzu kam noch im selben
Jahr die weltweite Ölkrise. Beide Einflüsse katapultierten das Land in eine tiefe
Wirtschaftskrise.

Darauf schloss sich Neuseeland dem neoliberalen Leitbild an.
Unter dem Finanzminister Roger Douglas, dessen Politik in Anlehnung an den
US-Neoliberalismus Rogernomics genannt wird, entwickelte sich Neuseeland zu der
am stärksten deregulierten und privatisierten Volkswirtschaft der Welt. Man
überließ die Wirtschaft den Kräften des freien Marktes. Subventionen für die
Landwirtschaft und andere Bereiche wurden gestrichen. Der gesamte Warenverkehr
wurde liberalisiert und auf ein Mitspracherecht bei den Löhnen, Zinsen und Preisen
für Dienstleistungen wurde verzichtet. Durch eine Sparpolitik konnte zwar das Haushaltsdefizit
ausgeglichen und die Inflation von 18 auf 3,9% reduziert werden. Auf der
anderen Seite aber brachte sie auch eine Welle der Arbeitslosigkeit (15%) und
eine steigenden Armut mit sich.

In den 80ern und 90ern wurden beinahe alle Staatsbetriebe
privatisiert. Weil die neuen Unternehmen aufgrund der geringen
Bevölkerungsdichte Neuseelands keinen Grund sahen, ihre Netze, gerade im
Bereich Schienenverkehr und Stromversorgung, auszubauen, folgte nach dem
anfänglichen Boom eine tiefe Rezession. Als dann 1998 im Norden des Landes für
mehr als 60 Tage die Stromversorgung zusammenbrach, wurden ehem. Staatsbetriebe
wieder verstaatlicht. 2008 wurde die in den 90ern an die australische Firma
Toll Holdings verkaufte Bahn für umgerechnet 366 Mio. Euro zurückgekauft. Eine
schmerzliche Erfahrung für Neuseeland, wenn man bedenkt, dass das Land 1993
beim Verkauf umgerechnet 202 Mio. Euro bekam.

Neoliberalismus verschärft soziale Ungerechtigkeit

Entgegen mancher Behauptungen erzeugt der Neoliberalismus
weniger Wachstum, als er soziale Ungerechtigkeit schafft. Übergibt man das Kapital
den freien Kräften des Marktes, wird es mit all seiner Härte und
zerstörerischen Kraft auf die Menschen einschlagen. Die „unsichtbare Hand“(10)
ist deshalb unsichtbar, weil sie gar nicht existiert. Die Einmischung des
Staates in bestimmte wirtschaftliche Abläufe ist deshalb verpönt, weil
Institutionen wie der IWF oder die WTO am Einfluss gewonnen haben,
bürokratische Einrichtungen, die nur einen Zweck verfolgen: selbst das
indirekte wirtschaftliche Mitspracherecht der Weltbevölkerung auszulöschen und
den multinationalen Konzernen den Weg für die Plünderung unserer
Existenzgrundlagen zu bereiten.

Wenn man auf die vier angesprochenen Länder schaut, dann
konnten sie alle einen Inflationsrückgang und sinkende Staatsausgaben, mit
Ausnahme Chile, verbuchen. Es liegt auf der Hand, dass dies nichts mit der
neoliberalen Politik zu tun hat, sondern eher mit der Tatsache, dass der Staat
sich der Verantwortung entzieht und die Menschen eher hungern lässt als sozial
abzusichern. Da scheint es auch klar, warum als Konsequenz auch die Inflation zurückging:
Wenn die Geldmenge in der Bevölkerung sinkt, nimmt auch ihre Kaufkraft ab;
weniger Geld ist im Umlauf und es kommt zu keinem Überangebot der Geldmenge –
ergo auch zu keiner Inflation. Im Umkehrschluss heißt das, dass sinkende
Inflation ein Zeichen für negatives Wirtschaftswachstum ist.

Benjamin Simmon

 

Anmerkungen

  1. Ökonom, Politiker und Mathematiker (1883-1946), Namensgeber
    für den Keynesianismus.
  2. US-amerikanischer Ökonom und führender Vertreter neoliberaler
    Ideen (1912-2006). 1976 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft. Neben
    Keynes wird er als der einflussreichste Ökonom des 20. Jahrhunderts bezeichnet.
  3. Deutscher Ökonom und Begründer des Ordoliberalismus (1891-1950).
  4. Der Begriff wurde 1950 in Anlehnung an die Zeitschrift
    ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft geprägt.
  5. Die „Chicago Boys“ sind eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler,
    die in den 1970ern an der University of Chicago bei Prof. Milton Friedman
    studiert haben.
  6. Motto, unter dem Ronald Reagan sein Programm des Sozialabbaus
    rechtfertigte.
  7. Brit. Premierministerin von 1979-1990, von 1975-1990 Vorsitzende
    der Conservative Party.
  8. Von 1981-89 40. Präsident der USA (1911-2004).
  9. Bei einer angebotsorientierten Politik stehen die
    Produzenten und die Frage, wie man ihre Produktionsbedingungen verbessern kann,
    im Fordergrund (Mikroökonomie).
  10. Der Begriff wurde von dem Philosophen Adam Smith in
    seinem Werk „Die Entstehung des Wohlstands der Nationen“ geprägt. Danach würden
    Märkte, wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, sich ständig selbst
    regulieren, und jeder Marktteilnehmer „fördert einen Zweck, den zu erfüllen er
    in keiner Weise beabsichtigt hat.“

Für weitere Einblicke in die
neoliberale Privatisierungspolitik, siehe „Der freie Fall der Kräfte“. 

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