Im blauen Morgenrot

Der
Sommer 36 war ungewöhnlich heiß, lang und trocken. Seit Wochen
hatte es nicht mehr geregnet, und selbst nachts sanken die
Temperaturen kaum unter 30 °C. Doch während die meisten Leute die
Ferien genießen konnten, schob ich mein zweites Jahr Grunddienst
beim THW, kaserniert irgendwo in Thüringen zwischen Gotha und
Meiningen. Denn wie viele junge Anarchosyndikalisten hatte ich nicht
einfach den Armeedienst verweigert, sondern mich für sechs Jahre
beim Technischen Hilfswerk verpflichtet. Das schien uns ein cleverer
Gedanke zu sein, denn schließlich brauchte es nur wenige, den
verhältnismäßig kleinen Laden zu übernehmen.

Das
THW, die Genossen

Anfang
der 30er hatte ein regelrechter Ansturm junger Wehrpflichtiger auf
das THW begonnen, ohne dass die Obrigkeit deswegen stutzig wurde.
Schließlich sollte der internationale Katastrophenschutz ausgeweitet
werden. Und tatsächlich war es uns gelungen, unsere Kampagne Blau
Machen
(wegen der blauen Farbe des THW) geheim zu
halten; selbst in der FAU wussten nur wenige davon. Ich übertreibe
nicht, wenn ich behaupte, dass damals gut zwei Drittel der THWler
Mitglied der Anarchosyndikalistischen Jugend (ASJ) waren – allein
in meinem Zug gab es praktisch nur Genossen.

Die
lange Verpflichtungszeit von sechs Jahren schreckte kaum noch
jemanden ab. Die meisten Rekruten stammten aus dem
heruntergewirtschafteten, verarmten Westdeutschland und waren froh,
auf diese Weise die nächsten Jahre über abgesichert zu sein. Und
der Ausblick, eine staatliche Infrastruktur, die – sieht man einmal
von Waffen ab – mindestens ebenso gut ausgerüstet war wie die
Polizei und über schweres Räumgerät, Schutzkleidung, Gasmasken,
LKW und Geländewagen verfügte, klammheimlich in die Hände der
gerechten Sache zu überführen, machte die Angelegenheit für viele
regelrecht verlockend.

Thüringen
schwarz-rot

Aber
in diesem Sommer überkamen mich Zweifel. Die Hitze in unseren
Unterkünften war unerträglich. Nur die zermürbende Langeweile,
diese ewige Warterei im Bereitschaftsdienst, dass im näheren Umkreis
vielleicht ein Waldbrand ausbräche und die Feuerwehr unsere
Unterstützung anforderte, war noch schlimmer. Ich wünschte mich
nach Hause, oder, noch besser, in ein fremdes Land, wo es abging, die
Fahnen der Revolution wehten. So wie in Nordengland, wo ein Jahr
zuvor die Vereinigten Arbeiterrepubliken
ausgerufen worden waren. Ich hatte davon gehört, dass man dort noch
Freiwillige für den selbstverwalteten Kohlebergbau suchte. (Nach dem
weitgehenden Zusammenbruch der Erdölreserven war es zu einer kleinen
Renaissance der Kohle auf den
britischen Inseln gekommen, wenngleich dies nicht unumstritten war.
Doch den englischen Kolleginnen und Kollegen galten die riesigen
Kohlereserven, die noch vom letzten niedergeschlagenen
Bergarbeiterstreik Ende des 20. Jahrhunderts übrig geblieben waren,
als ihr ureigenster Reichtum. Unter dem bläsernen Klang der brass
bands
hatten
sie die stillgelegten Zechen wieder in Betrieb genommen und hüteten
eifersüchtig ihren schwarzen, stinkenden Schatz wie ein Heiligtum.)
Nie hätte ich damit gerechnet, dass ausgerechnet hier, im Gewimmel
beschaulicher Kleinstädte, der bedeutendste soziale Umsturz der
deutschen Geschichte losgestoßen werden sollte, direkt vor meiner
Nase.

Von
den Vorgängen in Meinigen erfuhren wir aus dem Radio. Die
südthüringische Kleinstadt, die vor wenigen Monaten in ein
gemäßigtes Projekt lokaler Selbstverwaltung übergegangen war, sei
von Bundespolizei abgeriegelt worden. Die Landesregierung wollte auf
diese Weise durchsetzen, dass die Meininger ihre Steuern wieder
zahlten. Unmittelbar danach erhielten wir die Order, auszurücken.

Es
gehört zu den zahllosen Märchen rund um die Revolution von 2036,
dass wir vom THW in den Kasernen revoltiert hätten. In Wirklichkeit
wurden wir ganz regulär angefordert, um etwaige Barrikaden, falls
sie denn errichtet werden sollten, schnellstmöglich einzureißen.
Wir überblickten die Situation erst vor Ort und entschieden dann,
dass die Zeit reif sei, die Masken fallen zu lassen.

Wie
es wirklich war

Wenn
heute, zu Beginn des 22. Jahrhunderts, über die Revolution von 2036
gesprochen wird, vereinfachen die meisten leider viel zu stark.
Spielfilme wie „Es geschah an einem Dienstag“ oder „In der
Hitze von Meiningen“ führen den Sturz des alten Regimes und den
Aufbau der freien Gesellschaft, in der wir heute leben, allein auf
die Ereignisse im Juli und August zurück und dramatisieren die
Auseinandersetzungen. Und auch in der Literatur begegnet man immer
wieder Darstellungen, die den Eindruck erwecken, der Sieg des
Anarchosyndikalismus in Deutschland sei mehr oder minder ein Geschenk
der Rohstoffkrise von 2033 gewesen. (Die
im übrigen nicht nur eine Krise war, denn in manchen Bereichen
führte die Erschließung alternativer Energiequellen und Rohstoffe
rasch zu wirtschaftlichem Wachstum. Die Rückbesinnung auf den
Segelantrieb z.B. bedeutete aus damaliger Sicht durchaus einen
Fortschritt.) Aber so einfach darf man es sich nicht machen,
will man dem Thema gerecht werden.

Und
dazu gehört, sich von gängigen Klischees über das 21. Jahrhundert
zu lösen. Gerade jüngeren Menschen mag es heute schwer fallen, sich
in die damalige Situation zu versetzen, aber sie dürfen auch nicht
vergessen, dass sie es dieser Generation verdanken, dass Begriffe wie
Löhne, Passkontrollen, Preise, Mieten oder Fahrkarten ihnen heute
fremd sind.

So
ist es absolut unzutreffend, dass wir an Außerirdische geglaubt
hätten. Dies betraf lediglich eine kleine trotzkistische Minderheit
am Rand der Arbeiterbewegung. Unwahr ist ebenfalls die Behauptung,
die Feuerwehr sei von der FAU organisiert worden und habe eine aktive
Rolle in den Sommerkämpfen gespielt. Vielmehr stellte sie sich erst
nach und nach auf unsere Seite, nicht zuletzt dank des Einflusses der
revolutionären Feuerwehrgewerkschaft aus Frankreich. Richtig
allerdings ist, dass sie maßgeblichen Anteil am gesellschaftlichen
Neuaufbau hatte, übernahm sie doch etwa das Regeln des
Straßenverkehrs, nachdem wir die Polizei abgeschafft hatten.

Die
Unterlegenheit der Unschlüssigen

Was
die Frage betrifft, weshalb der Coup weitgehend unblutig über die
Bühne ging, möchte ich zweierlei zu bedenken geben: Zum einen war
die politische Staatsführung heillos zerstritten und verstand es
immer weniger, sich zu irgendwelchen Entscheidungen durchzuringen.
Ich bin mir heute sicher, dass an die Armee gar kein Befehl erging,
in die Geschehnisse einzugreifen. Zum anderen waren wir uns darüber
völlig im Klaren, dass wir in einer direkten Konfrontation mit den
zeitgenössischen Sicherheitskräften chancenlos gewesen wären.
Daher entwickelten wir schon früh Strategien, es gar nicht erst
soweit kommen zu lassen. Dennoch stellten wir uns darauf ein.

Innerhalb
weniger Stunden hatte das THW alle Ausfallstraßen Meiningens
blockiert. Überall am Stadtrand hatten wir Straßensperren
eingerichtet und verwehrten der Polizei den Zugang. An unseren blauen
Fahrzeugen wehte die schwarz-rote Fahne, und mit weißer Farbe hatten
wir die Embleme zu THW-ASJ bzw. THW-FAU korrigiert.

Die
Einsatzleitung der Polizei drohte uns zwar, griff aber zunächst
nicht ein. Die Verunsicherung war ihnen deutlich anzumerken. Gegen
Abend erreichten uns dann die Nachrichten, dass sich die
Nachbargemeinden mit uns solidarisch erklärten und ihre lokalen
Regierungen abgesetzt hatten.

In
den Medien waren wir bald Thema Nr. 1 und es dürfte kaum eine
Fabrik, eine Stadt, eine Familie gegeben haben, wo nicht die Frage
diskutiert wurde, ob man es jetzt endlich wagen und direkt zur
Selbstverwaltung übergehen sollte. Denn niemandem
waren damals die anarchosyndikalistischen Anschauungen und Konzepte
mehr unvertraut.

Proletarische
Wende

In
den vorangegangenen Jahren hatte sich um die FAU und den allmählich
populärer werdenden Anarchosyndikalismus herum eine eigenständige,
neue Kultur entwickelt. Anteil daran hatten nicht zuletzt bekannte
Kulturschaffende, die soziale Themen ansprachen und aus ihren
sozialrevolutionären Sympathien keinen Hehl machten. Nicht zuletzt
aber traf die Direkte Aktion mit ihrem
zeitgemäßen Layout und der Mischung aus Nachrichtenmagazin und
Arbeiterillustrierte den Geschmack der Zeit und prägte eine ganze
Generation; gegen Ende der 20er hatte sie die Auflage des
Spiegels – ein damals viel gelesenes,
bürgerliches Organ – überflügelt. Die Proletarische
Welle
(im Englischen auch class romantics
genannt), die Europa in dieser Zeit erfasste und sogar die
Kleidermode beeinflusste, wurde von diesen Entwicklungen zweifellos
mit angestoßen.

Heute
kaum noch bekannt, war es in den 20ern zu einer kleineren Welle von
Arbeitskämpfen im damaligen Deutschland gekommen, in die die FAU
involviert war und die sie zu einer festen Größe in sozialen
Auseinandersetzungen und Debatten hatte reifen lassen. Sie war nun
weithin bekannt und syndikalistisches Vokabular floss in den
allgemeinen Sprachgebrauch ein, während die etablierten
Altgewerkschaften, die sich als unfähig erwiesen, auf den
gesellschaftlichen Wandel wirksam zu reagieren, zusehends an
Mitgliedern und Einfluss verloren.

Das
Vertrauen des Großteils der Bevölkerung in das politische und
wirtschaftliche System war tief zerrüttet. Wahlbeteiligungen
erreichten kaum mehr 20 %. Die Nachfrage nach alternativen
Gesellschaftsmodellen war groß und die syndikalistische Propaganda
fiel auf fruchtbaren Boden.

Das
Land ohne König? Der König ohne Land!

Diese
Voraussetzungen muss man sich vor Augen halten, will man verstehen,
wieso Ende Juli 2036 die Bundesregierung abdankte. Für uns kam dies
kaum noch überraschend, nachdem sich mit München und Hamburg die
letzten beiden Großstädte eine provisorische selbstverwaltete
Struktur zugelegt hatten. Lediglich in der Hauptstadt Berlin blieb
die Lage bis zuletzt verworren.

Marxistische
Gruppen witterten ihre Chance und versuchten, die Staatsmacht an sich
zu reißen. Innerhalb von drei Wochen bildeten sich nicht weniger als
vier Regierungen unter wechselnd trotzkistischen, neo-maoistischen
oder konventionell sozialdemokratischen Vorzeichen. Mehrmals
besetzten kleine spartakistische Trupps das Kanzleramt, die MLPD
schlug im Verteidigungsministerium ihr Hauptquartier auf, während
parallel sieben (oder waren es acht?) 4. Internationalen die
Volksrepublik Berlin ausriefen. Allerdings bekamen wir davon kaum
etwas mit, denn schließlich funktionierte der Staatsapparat
allenfalls noch rudimentär und das Telekomsyndikat der FAU hatte
längst alle Leitungen und Funknetze, die aus den ehemaligen
Regierungsgebäuden führten, unterbrochen. So blieb der Wirkungsgrad
aller jetzt noch folgenden Regierungen auf die Gebäude beschränkt,
in denen sie saßen.

Bis
Mitte August hatten die letzten Polizeieinheiten ihre Uniformen an
den Wachstuben von THW und Feuerwehr abgegeben, so dass die
Straßensperren abgebaut werden konnten. Der außerordentliche
Kongress der FAU vom 31. August 2036 schließlich erklärte
Deutschland für aufgehoben.

Erwin Werner *


*)
Die Erinnerungen des heute über 90-jährigen FAU-Aktivisten Erwin
Werner wurden von seinem persönlichen Biografen Matthias Seiffert zu
Papier gebracht. Werner
kam am 25. März
2018 als Sohn der berühmten FAU-Aktivistin Berta Harwich zur Welt. Berta, die wie die Mehrheit der
Medienschaffenden im Ruhrgebiet anarchosyndikalistisch organisiert
war, begründete mit Hilfe der „Freien Frauen“ und ihrer
Ortsgruppe noch im selben Jahr den deutschen Zweig der spanischen
Paideda Schule. Dadurch verhalft sie Erwin zu einer damals noch
unüblichen libertären Schulbildung. Als er schon längst im
Ruhestand war, erklärte Werner, seine Abneigung gegen Abhängigkeiten
(auch die von den Eltern), gegen Privateigentum, Autoritäts- und
Konsumgläubigkeit verdanke er letztlich seiner Mutter.

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