Nationalismus und Emanzipation Hand in Hand?

Irische Soldaten in Stafford Gaol nach dem gescheiterten Osteraufstand von 1916

Ostermontag 1916, Dublin – mitten im großbritischen Imperium
George des V. geschieht Beispielloses: Über dem Hauptgebäude der Post wehen
zwei neue Fahnen, eine grüne, mit Schriftzug der soeben ausgerufenen irischen
Republik, dazu flattert etwas tiefer eine Trikolore in Grün, Weiß, Orange, die
Irland gleichermaßen als Land der Katholiken (Grün) und der Protestanten (Orange)
ausweist.

Kurz zuvor hatte Patrick Pearse (1879–1916) vor Passanten
auf der Straße die Unabhängigkeitserklärung gegenüber England verlesen. Pearse
ist Schulleiter und Schriftsteller, aber auch Herausgeber der gälischen
Zeitschrift An Claidheamh Soluis, „Das Schwert des Lichts“1, dazu gläubiger Katholik, der Parallelen der
Auferstehung Jesu mit der Erweckung seiner Nation sieht.

Allerdings gab es bis dahin nie einen irischen
Nationalstaat.2 Auch die alte
gälische Sprache und Kultur hatte sich nur in entlegenen Landesteilen erhalten,
denn in den letzten Jahrhunderten waren Millionen der armen, meist gälisch
sprechenden Iren nach England, Schottland, USA, Kanada, Australien, usw.
ausgewandert.3

An diesem kirchlichen Feiertag scheinen die meisten der
zahlreichen Spazierenden im städtebaulich gesehen sehr britisch wirkenden
Zentrum von Dublin mehr verwirrt als begeistert; Zustimmung erhält Pearse für
seine Rede kaum. Auch die Bewegungen der 1200 mit Gewehren Bewaffneten, die
sich zunächst ohne nennenswerten Widerstand in der ganzen Stadt auf strategisch
wichtige Gebäude verteilen, werden mit Misstrauen beobachtet.

Unabhängigkeitserklärung, Ostern 1916

Die meisten der Aufständischen sind einfach gekleidet,
stammen aus der Arbeiterklasse. Ihr Anführer ist der Sozialist und
Gewerkschaftsführer James Connolly, dessen proletarische Irish Citizen Armee
(ICA) sich erst vor wenigen Tagen mit den Aufständischen der Irisch
Republikanischen Bruderschaft (IRB) zusammengeschlossen haben. Vielerorts, vor
allen auch in Cork und Belfast warten weitere Männer der IRB auf ihre Befehle.

Was sich an diesem Montag vor den Augen der unwilligen
Dubliner*innen abspielt, schwelte lange: Seit 1913 traten die Irish Volunteers,
„irische Freiwillige“, immer offener als eine Art Gegenmacht gegenüber der
englischen Polizei auf, jedenfalls bis die Eskalation zum Weltkrieg im Sommer
1914 ihre Organisation gehörig durcheinander wirbelte. Der weitaus größte Teil,
etwa 175.000, befolgte den Aufruf des gemäßigten irischen Führers John
Redmonds, sich der englischen Armee anzuschließen, um durch diese Loyalität
später mehr Rechte zu erhalten. Die kleinere radikalere Gruppe innerhalb der
Freiwilligen, etwa 13.500 Männer, im Geheimen von der IRB geleitet, sah die
Sache genau umgekehrt: England war der Feind und durfte nicht unterstützt
werden. Die IRB, verbunden mit der 1905 gegründeten Partei Sinn Fein, „Wir
selbst“, organisierte den Osteraufstand an der offiziellen Führung der Irish
Volunteers vorbei, was einen Teil der auftretenden Abstimmungsschwierigkeiten
erklärt. In Dublin stellt die IRB 1000 der 1200 Kämpfenden. Die übrigen
zweihundert Männer und Frauen der ICA entstammen dem bisher heftigsten
Klassenkampf Irlands: Vom August 1913 bis Januar 1914 versuchten, angefangen
mit der Straßenbahn4, etwa 400 Unternehmer, in ihren Betrieben Gewerkschaften
zu verhindern. Davon betroffene 20.000 Arbeiter*innen in Dublin streikten und
wurden ausgesperrt. Nach Unruhen, die zwei Menschenleben und viele hundert
Verletzte kosteten, bildeten die Gewerkschaften die ICA zum Selbstschutz.

Patrick Pearse im Jahre 1916

Hintergrund: Irland als
Kolonie

Seit jeher war vielen Iren aller Schichten die englische
Krone mit ihren Lords, Handelsherren und Großgrundbesitzern verhasst.
Schließlich waren sie es, die ihnen über Jahrhunderte das Land raubten, im 17.
Jahrhundert Klöster und Kirchen zerstörten, einige zehntausend Menschen direkt
versklavten und in die Karibik deportieren ließen. Mitte des 19. Jahrhunderts
verhungerten gar eine Million arme Iren, weil ihre zum Eigenbedarf angebauten
Kartoffeln verfaulten, während englische Geschäftemacher massenhaft andere
Lebensmittel aus Irland nach England ausführten. In den letzten fünfzig Jahren
vor dem Osteraufstand gab es zähe Kämpfe der Landbevölkerung, um das enteignete
Land zurückzuerhalten, und starke politische Bewegungen, die zur irischen Home
Rule führen sollten. Dennoch war auch der Gedanke mächtig, dass England mit
Irland vereinigt sein sollte und das nicht nur im Norden, wo sich seit 1912 die
Nachfahren englischer und schottischer protestantischer Siedler bewaffneten, um
diese Union und damit ihre Vorherrschaft zu verteidigen.

 

Königstreue Iren und eine
verlorene Waffenladung

Ostern 1916 wäre die Gelegenheit an sich günstig gewesen,
das Kolonialregime abzuschütteln, da die Hauptstreitmacht Englands in Flandern
und Nordfrankreich stand. Doch wie angedeutet, wird der Krieg gegen die
„Hunnen“ von der großen Mehrheit in Irland unterstützt. Insgesamt bis zu
zweihunderttausend irische Soldaten kämpfen für die Alliierten, wobei im
Gegensatz zu den Katholiken nur die protestantischen Unionisten eigene
Offiziere haben dürfen. Ihr Blutzoll ist ungeheuerlich: Gezählt wurden 49.400
Soldaten aus den irischen Regimentern von England, Kanada, USA oder Australien,
die im Grabenkrieg starben.5 Als
Robert Casement6 in
Vorbereitung des Aufstandes versucht, mit in Deutschland gefangenen irischen
Soldaten eine Einheit zur Befreiung ihres Landes aufzustellen, weigern sich
diese. Viele glauben wie ihre Leitfigur John Redmond noch an Home Rule, das vom
englischen Parlament bereits bewilligt, allerdings aufgrund des Krieges
ausgesetzt worden war.

Es gibt weitere Schwierigkeiten. So durchbricht das
Dampfschiff „Libau“ aus Deutschland mit zwanzigtausend Gewehren, zehn
Maschinengewehren und Munition zwar als norwegischer Trawler „Aud“ getarnt die
englische Seeblockade und landet vor der Grafschaft Kerry. Doch gelingt es
nicht, die Waffen an Land zu bringen. Die deutsche Mannschaft muss ihr Schiff
am nächsten Tag selbst versenken, um sie nicht an die Briten zu verlieren. Auch
Casement, der die Lieferung in monatelangen zähen Verhandlungen in Deutschland
ermöglicht hat und von einem deutschen U-Boot ganz in der Nähe abgesetzt wird,
verfehlt seine Kontaktleute und muss sich in einer frühzeitlichen Festung
verbergen.

In der Woche nach Ostern bewegen sich die Aufständischen
innerhalb Dublins kaum, sie hoffen auf Verstärkung, die letztendlich nur
vereinzelt eintreffen wird. So harren sie aus, bis die Post und einige andere
wichtige Knotenpunkte von der paramilitärischen britischen Polizei, übrigens
überwiegend Iren, umstellt und mit Granaten beschossen werden. Es gibt einige
wenige Gefechte im Hinterland, aber im Wesentlichen bleibt das Geschehen auf
die Hauptstadt beschränkt, vor allem, weil der offizielle Führer der Irish
Volunteers, Eoin
Mac Néill, in einer chaotischen Informationslage zeitgleich mit Beginn
des Aufstandes den Befehl zum Abbruch gibt.

Die Gefechte in Dublin werden heftiger, ein Teil der Post
wird samt anderen Gebäuden durch Granatenbeschuss fast dem Erdboden
gleichgemacht. Schließlich stolpern die überlebenden Aufständischen aus den
brennenden Ruinen und ergeben sich, viele sind schwer verletzt.

Die Kämpfe haben 64 Rebellen und 132 Polizisten und Soldaten
das Leben gekostet, 254 Zivilisten sind meist von der Polizei erschossen
worden, oft in Panik, weil sie irrtümlich für Kämpfende der IRB oder ICA
gehalten wurden.

 

Constance Markiewicz, Zeichnung des Dichters Yeats

Eine Gräfin, die Juwelen
verschenkt und zu den Waffen greift

Der 2. Offizier einer ICA-Einheit im Dubliner Stephen’s
Greens ist überraschenderweise eine Frau, Constance Markievicz. Sie distanzierte
sich von ihrem gesellschaftlichen Stand und verkehrte in der Arbeiterklasse.
Diese lebte in Slums, oft mit dutzenden von Familienmitgliedern in einem Haus.
Jahrelang finanzierte die Gräfin Volksküchen, bis sie selbst völlig verarmt
war. Sie war Mitbegründerin der ICA und entwarf ihre Uniformen. Auch Constance
muss sich ergeben. Als ihr Todesurteil aufgehoben wird, weil sie eine Frau ist,
ruft sie dem Militärgericht zu: „Ich wünschte wirklich, ihr hättet den Anstand,
mich zu erschießen!“

Denn Großbritannien zeigt sich ansonsten hart: 90
Todesurteile werden gefällt, davon 15 vollstreckt (oder 16, wenn man Casement
mitzählt, der inzwischen gefangen, im August als Verräter gehenkt wird).
Darunter sind alle sieben Männer, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet
haben.

 

Sinn Feins Triumph
1918/1919

Hatte die irische Bevölkerung den eigentlichen Aufstand
überwiegend feindselig gegenübergestanden, so kündigte sie der englischen
Herrschaft nach der Erschießung der für ihren Idealismus bekannten Männer die Gefolgschaft
auf.

Und als die überlebenden irischen Soldaten aus Flandern und
den anderen Schauplätzen des 1. Weltkrieges zurückkehrten und ihr Land in
Aufruhr vorfanden, schlossen sich die meisten der Unabhängigkeitsbewegung an.
Bei den (Regional-)Wahlen in Irland Mitte Dezember 1918 für das
Abgeordnetenhaus in London gewann Sinn Fein die große Mehrheit, 73 der 105
Sitze, einer ging an Constance Markievicz als einzig gewählte Frau. Fast alle
Sinn-Fein-Abgeordneten waren wie die Gräfin Teilnehmer des Osteraufstandes
gewesen und sie dachten nicht im Entfernsteten daran, ihre Sitze in Westminster
einzunehmen. Stattdessen bildeten sie in Dublin den Dáil Éireann, die „irische
Versammlung“, und riefen erneut die Unabhängigkeit aus. Als Antwort schickte
England die „Black and Tans“ zur Verstärkung der Polizei, ehemalige britische
Söldner, die für ihre Brutalität berüchtigt waren. Die aus IRB und ICA
gebildete Irish Republican Armee (IRA) griff sie ihrerseits sofort an. Angeführt
von Michael Collins (1890-1922) begann ein zweieinhalbjähriger Guerillakrieg,
über 2000 Menschen wurden getötet. Das war aber nur der Auftakt zu dem noch
blutigeren Bürgerkrieg der Iren untereinander, der um die Einheit des Landes
geführt wurde. Bis 1923 war er zwar weitgehend beendet, brach aber 1969 mit den
„Troubles“ in Nordirland wieder vehement aus.

 

Nationale Befreiung und
soziale Revolution

James Connolly, der Gewerkschaftler und Sozialist, von dem
Michael Collins sagte, er wäre ihm auch durch die Hölle gefolgt, war nicht nur
der Anführer der Dubliner Brigade und damit der eigentliche Kopf des
Aufstandes. Ihm war sehr bewusst, dass nationale Befreiung alleine keine
wesentliche Änderung der sozialen Verhältnisse bringen würde. Connollys Worte
aus dem Jahr 1915 sind immer noch aktuell:

„‚Wenn Irland frei sei wird’,
sagt der Patriot, der vom Sozialismus nichts wissen will, ‚werden wir alle
Klassen beschützen. Doch wenn du deine Miete nicht mehr zahlen kannst,
schmeißen wir dich auf die Straße. Aber diejenigen, die Zwangsräumungen
ausführen und anordnen, werden grüne Uniformen mit einer Harfe ohne Krone
tragen und der Befehl wird den Stempel der irischen Republik tragen!’…
Deswegen sage ich, organisieren wir uns alle als eine Klasse, die den
Herren entgegentritt und ihre Herrschaft beendet. Organisieren wir uns, um die
Umklammerung des öffentlichen Lebens durch ihre politische Macht zu lösen,
organisieren wir uns, um ihre Krallen wegzureißen vom Land und von den
Werkstätten, in denen sie uns versklaven. Organisieren wir uns, um unser Leben vom
sozialen Kannibalismus zu reinigen, vom Ausrauben des Menschen durch seinen
Mitmenschen.“

 

Oliver Steinke

 

Anmerkungen

[1] In der Frühzeit und im Mittelalter beanspruchten zwar
immer mal wieder einige keltische Stammesführer den Titel „Hochkönig“, aber
diese archaische Bündnisorganisation war denn doch etwas anderes, als der
Staat, um den es den Aufständischen ging.

[2] Lichtschwerter entstammen ursprünglich nicht George
Lucas „Star Wars“, sondern der irischen Mythologie von Lugh mit der silbernen
Hand, der gegen den einäugigen Riesen Balor kämpfte.

[3] Schätzungen gehen von bis zu 10 Millionen seit dem 17.
Jahrhundert aus, wobei etwa 80 Millionen ihrer Nachkommen sich auch heute noch
als Iren verstehen, das entspricht mehr als dem Zwölffachen der Einwohnerzahl
der gesamten irischen Insel.

[4] Eigentümer der Straßenbahn war ironischerweise der
irische Nationalist William Martin Murphy, während die Streikenden von
englischen Gewerkschaften unterstützt wurden – ein früher Hinweis, dass
Klassenkämpfe nur antinational geführt werden können.

[5] Wobei nur etwa 70% in diesen Regimentern auch
tatsächlich Iren waren.

[6] Sir Robert Casement (1864-1916), irischer Protestant,
zunächst im Auftrag der englischen Krone als Gesandter tätig, klärte Verbrechen
gegen die Menschlichkeit in Peru und Kongo auf und wurde dafür zum Ritter
geschlagen. Ab 1913 beteiligte er sich am Aufbau und der Bewaffnung der Irish
Volunteers.

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