Kolumne Durruti

Es war damals in Kiel – einer Stadt, in der selbst Durchschnittsmenschen harte Drogen nehmen, um die Monotonie des Alltags zu ertragen, – als ich zum ersten Mal davon hörte, dass es mehrere Wahrheiten gäbe. Je nachdem, was und wieviel die NachtschwärmerInnen eingeworfen hatten, sollte es zwei, drei, unendlich viele oder, was aufs selbe hinausläuft, gar keine Wahrheit geben. Wie man die Welt sieht, so sei sie auch. Und wenn dir die Wirklichkeit nach der blauen Pille nicht gefällt, dann nimm eben eine rote. Kopfschüttelnd tat ich das als Blödsinn ab, das übliche Geschwafel zugedrogter Hippies eben. Und als durch Punkrock sozialisierter Mitbürger hielt ich mich an die gute, alte

Matthias Seiffert

Maxime: „never trust a hippie.“ Doch die Blumenkinder sind nur eine der vielfältigen Inkarnationen des BürgerInnentums. Und dieses zog den Schein dem Sein von jeher vor.

In den Zeiten von Digitalisierung und globaler Vernetzung hat denn auch die Inszenierung der Wirklichkeit neue Formen gefunden und gelangt zu nie dagewesener Qualität.
Der neueste Trend im verzweifelt ums Überleben kämpfenden Journalismus nennt sich Docufiction. Am Anfang standen Geschichtsdokumentationen, in denen historische Zusammenhänge, von denen es keine filmischen Quellen gibt, mit Schauspielern szenisch nachgestellt wurden. Lag die Epoche besonders weit zurück, wurden auch die gespielten Episoden auf alt getrimmt: schwarz-weiß mit Sepia-Einschlag, Flecken auf den Bildern und Rauschen im Ton, ganz so, als habe tatsächlich eine Kamera aufgezeichnet, wie Cäsar den Rubikon überschreitet. Fast verschämt wurde dazu der Untertitel „Dramatisierung“ eingeblendet. Immerhin sah man sich noch genötigt, zwischen den gespielten Einblendungen doch den einen oder die andere echteN WissenschaftlerIn zu Wort kommen zu lassen. Davon ist man nun ganz weggekommen.

In einer Docufiction ist ausnahmslos alles frei erfunden. Zur Zeit wetteifern die führenden Spartenkanäle des US-amerikanischen Bezahlfernsehens – z. B. History Channel, Discovery Channel, Animal Planet – darum, mit Pseudo-Dokumentarfilmen auf ZuschauerInnenfang zu gehen. „Megalodon lives!“ erzielte letztes Jahr eine der höchsten Quoten der Fernsehgeschichte. Diese vorgebliche Dokumentation über einen prähistorischen Riesenhai zeigt verblüffende Aufnahmen dieses eigentlich seit Millionen Jahren ausgestorbenen Monstrums, verwackelte AmateurInnenbilder, verstörte AugenzeugInnen, ergriffene WissenschaftlerInnen. Dass es sich tatsächlich um einen Spielfilm handelt, jeder Dialog einem Drehbuch folgt, die angeblichen Dokumente am Computer entstanden und alle auftretenden Personen SchauspielerInnen sind, wird zu keiner Zeit erwähnt – auch nicht in der Anmoderation, auf der Homepage, nicht einmal auf Nachfrage von JournalistInnen. Lügen ist nicht illegal. Discovery Channel legte nach, zwei Filme über Meerjungfrauen sprengten alle Einschaltrekorde, aktuell läuft die Fortsetzung über den Megalodon. Im gleichen Stil widmete sich die Konkurrenz außerirdischen Invasoren, wodurch sich etwa die NASA genötigt sah, in einer Presseerklärung klarzustellen, dass es sich bei einer interviewten Wissenschaftlerin nicht um eine ihrer MitarbeiterInnen, sondern offensichtlich um eine Schauspielerin handelt. Auf kritisches Nachbohren von JournalistInnen, warum zu keiner Zeit der Ausstrahlung der abstrusen Dokumentarreihe „Mountain Monsters“ klargestellt werde, dass es sich um rein gespielte und erdachte Handlungen handelt, antwortete der Sender lapidar: „Wer so was für wahr hält, dem können wir auch nicht helfen.
“Alles ist möglich, Bilder sprechen für sich, die Wahrheit liegt im Auge der ZuschauerInnen, was man sich vorstellt, ist auch wahr. Die alten Ideale pillenwerfender Rave-Hippies feiern fröhliche Urstände.
Aber es gibt nur eine Wahrheit. Never trust a hippie. Never.

Matthias Seiffert

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