Nach der wirtschaftlichen Erholung 2010 war für das Jahresende ein „Heißer Herbst“ angekündigt. Der DGB wollte den Protest „in die Betriebe und Verwaltungen tragen“, Erwerbslosengruppen riefen zu Protesten auf der Straße auf. Möglicherweise sind viele Aktivitäten gelaufen, aber die Ergebnisse sind bescheiden. Mitte Januar folgert der Bremer Erwerbslosenverband, dass nur eine eigenständige Organisierung die sozialen Bewegungen zur Stärke verhelfen könne; derzeit habe man sich auf eine „längere Aufbau- und Neuorientierungsphase“ einzustellen, etwa um sich vom Mythos der Einheitsgewerkschaft zu befreien. Die Direkte Aktion sprach mit der langjährigen Berliner Erwerbslosenaktivistin Anne Seeck.
Das einzige Ergebnis des „heißen Herbstes“ im Jahre 2010 scheint die seither laufende Debatte um eine „Hartz-IV-Reform“ zu sein. Ist das nur eine andere Form des Wahlkampfes?
Natürlich ist das Wahlkampf. SPD und Grüne, die uns Hartz IV eingebrockt haben, entdecken plötzlich ihre „soziale Ader“. Sie haben den Regelsatz so niedrig angesetzt. Sie haben die einmaligen Beihilfen abgeschafft. Sie haben die Hartz IV-Kinder in Not gestürzt. Sie glauben wohl, wir leiden alle unter Gedächtnisverlust. Ihre verlogene Samariterrolle können sie sich sparen. Von CDU und FDP ganz zu schweigen.
Vor genau einem Jahr beklagtest du in der Direkten Aktion die lähmende Wirkung illusorischer Hoffnungen, die viele Erwerbslose in die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gesetzt hätten. Wie siehst du die Lage heute?
Genau das hat sich bewahrheitet. Die hochbezahlten RichterInnen stellten nicht fest, dass der Regelsatz zu niedrig sei, sondern übten nur Kritik an dem Berechnungsverfahren. Ja, und so wird neu gerechnet. Die Rechenkünstler brachten wahre Meisterleistungen zustande. Sie rechneten Tabak und Alkohol einfach raus, mogelten bei der Referenzgruppe und machten ihr Rechenverfahren nicht transparent. Die KritikerInnen des Verfahrens rechneten dann dagegen, d.h. sie ließen sich auf diese Logik ein. Und so rechneten sie, dass sie zusätzliche 80 Euro für Lebensmittel brauchen, und die fordern sie dann von dem gleichen Staat, der die 5-Euro- Regelsatzerhöhung plant…
Vor kurzem hast du die Erwerbslosenbewegung hierzulande als „nicht mobilisierungsfähig“ bezeichnet. Wie ist die zur Zeit aufgestellt und was macht sie?
Die Erwerbslosenbewegung ist in der Krise, trotzdem wird so weiter gemacht, ohne Reflexion und Strategie. Das Bündnis „Regelsatzerhöhung jetzt!“ in Berlin verschickte Briefe an alle Bundestagsabgeordneten und freute sich, als Siegmar Gabriel antwortete. Dort geht es darum, Verbündete in der Mitte zu finden. Bundesweit gibt es das „Krachschlagen“-Bündnis, das diese 80 Euro mehr vom Staat will. Mitte und Staat als Rettungsanker… Dabei sind sie nicht in der Lage, die Basis der Hartz IV-BezieherInnen zu mobilisieren, was allerdings auch schwer ist. In Berlin-Neukölln standen wöchentlich Mitglieder der linken Gruppe FelS vor dem Jobcenter und führten Befragungen durch, zu den Jobcenterversammlungen kamen dann allerdings kaum „normale“ Erwerbslose.
Welche Rolle spielt hier die Spannung zwischen Sozialberatung und Selbstermächtigung, zwischen Kampf mit dem Amt und kollektiver Aktion?
In Berlin gibt es kaum gute unabhängige Beratung. Sozialberatung ist nicht an sich politisch, erst durch einen kollektiven Prozess wird sie politisch. Ein positives Beispiel ist da die ALSO in Oldenburg. Die Erkenntnisse ihrer Beratung findet man in der Arbeitslosenzeitung quer und diese schlagen sich auch in Aktionen nieder. Allerdings hat die langjährige bundesweite Konzentration auf die Beratungsarbeit die Individualisierung bestärkt und eine kollektive Organisierung und Selbstermächtigung eher behindert. Durch ihre Beratungsarbeit hat die bundesweite Erwerbslosenbewegung aber auch Erfolg, indem Menschen zunehmend klagen, mittlerweile sind die Sozialgerichte überlastet. Im Clement-Report „Vorrang für die Anständigen“ wurden die Berater als „Anstifter zum Sozialmissbrauch“ bezeichnet.
Welche Lehren mussten oder müssten die aktiven Erwerbslosen aus den Montagsdemonstrationen von 2004 ziehen?
Die Parlamentarisierung bringt uns keinen Schritt weiter. Mit dem Aufbau der WASG wurde der Protest in parlamentarische Bahnen gelenkt. Die LINKE, die die WASG dann schluckte, hat von den Hartz-Protesten zwar profitiert, den Hartz IV-BezieherInnen hat das aber nicht geholfen. Dort, wo die Linke mitregiert, macht sie neoliberale Politik. Nicht Befriedung, sondern Aufruhr ist der Weg.
Wir dürfen uns nicht spalten lassen. Die Herrschenden schwingen gegenüber ihren radikalen Gegnern im Kapitalismus mit der Extremismuskeule, unterstützt von den Medienkonzernen. Während bei den Montagsdemonstrationen 1989 in der DDR die Zahl der TeilnehmerInnen und die Bedeutung der Opposition aufgebauscht, die FernsehzuschauerInnen ermutigt wurden, am „friedlichen“ Protest teilzunehmen, wurde bei den Montagsdemonstrationen 2004 schließlich vor Rattenfängern und einer Radikalisierung gewarnt, um die Bürger von den Demonstrationen fernzuhalten. Die DemonstrantInnen sollten in gute (also reformistische) und schlechte (also radikale) gespalten werden. Es sind die immer gleichen Herrschaftsmechanismen, hinter denen mächtige Interessen stehen, auf die wir uns nicht einlassen dürfen.
Mit dem Ausspruch von der „Arbeit für alle“ zeigt Merkel auch rhetorische Kontinuität zu ihrem Vorgänger Schröder. Könnte die Einführung eines „Grundeinkommens“ ein Fluchtweg sein aus unserer Gefangenschaft in Arbeit und Arbeitslosigkeit?
Ich finde die Diskussion um den Arbeitszwang und Arbeitsbegriff wichtig, nur leider gibt es beim BGE Haken. Die Finanzierungsmodelle verlangen, dass die kapitalistische Produktionsweise so weiter funktioniert. Das ist ökologisch eine Katastrophe. Zudem ist es meistens eine nationale Forderung. Also ein gutes Leben auf Kosten des Klimas und der Peripherie? Auch die neuen Freunde des BGE sind mir suspekt, so Götz Werner (Milliardär und dm-Chef), Thomas Straubhaar (Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) und Dieter Althaus (CDU). Und dann noch die FDP mit ihrem Bürgergeld, die würde das jetzige Sozialsystem am liebsten ganz zerschlagen.
Wie ließe sich deiner Meinung nach ansetzen, um die eigene Schwäche oder ein Gefühl der Schwäche zu überwinden?
Um Proteste bewirken zu können, müssen Menschen die Schuld nicht bei sich selbst, sondern beim System suchen. Zudem dürfen sie nicht fatalistisch sein, sondern müssen an die Veränderbarkeit des Systems glauben. Wichtig ist, dass sie Erfolge im Alltag spüren. Daher brauchen wir Alltagskämpfe im Jobcenter und im Stadtteil, z.B. Begleitungen, Zahltage, Jobcenter- und Stadtteilversammlungen. Zudem bedarf es einer Gegenkultur von unten – wir müssen experimentieren mit kleinen Netzen und Eigenökonomie. Aufklärung und politische Bildung sind wichtig, aus der müssen aber Organisierungen und Kämpfe folgen. Es braucht viele Alternativendiskussionen jenseits des kapitalistischen Systems. Reflexion und Aktion! Unberechenbar sein! Die Systemfrage stellen!
Vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Andreas Förster