Precarium Perpetuum Mobile

Kundgebung Mitte Oktober in Friedrichshain

Ein Kollege berichtet, in einem Spätkauf zu einem Minilohn bis zu 60 Stunden die Woche gearbeitet zu haben. Über die Arbeitsbedingungen in solchen Läden hört man vielfach nichts Gutes. Was also steckt genau hinter der „Späti“-Industrie? Fakt ist: Es ist ein äußerst prekärer Wirtschaftsbereich. Nicht nur Minilöhne und undurchsichtige Arbeitsverhältnisse sind weit verbreitet, auch Selbstausbeutung und wirtschaftlicher Überlebenskampf prägen das Bild.

In den meisten Fällen entstehen die Betriebe aus der Not heraus. Für viele sind sie eine Flucht aus der Arbeitslosigkeit. Seit der Einführung der Hartz-Gesetze gibt es einen starken Anstieg der Selbständigen. Insbesondere MigrantInnen, die am Arbeitsmarkt schlechtere Jobchancen haben, tendieren zur „Flucht nach vorn“. Allerdings lässt die prekäre Ausgangssituation zumeist nur eine beschränkte Auswahl des Geschäftsfeldes zu: geringe finanzielle Mittel und geringe unternehmerische Kenntnisse erlauben keine großen Sprünge. Ein kleiner Laden oder Imbiss erscheint da noch am leichtesten zugänglich.

Das hohe Gründungsaufkommen in diesem Bereich führt zu einer starken „Branchenkonzentration“ und damit zu einer hohen Wettbewerbsintensität, in deren Folge mit günstigsten Preisen gerungen wird. Es entsteht eine hohe Fluktuation, so dass den vielen Gründungen nicht wenige Schließungen folgen. Um diesen Druck zu kompensieren, ist die Branche durchsetzt mit Niedriglöhnen, mithelfenden Bekannten und Familienangehörigen sowie mit Mini-Minijobs von Hartz-IV-Betroffenen, die im Bereich des ihnen zugestandenen Zuverdienst von 160 Euro honoriert werden. Häufig arbeiten sie informell weitaus mehr als vereinbart. Auch die Ladeninhaber, sofern sie nicht zugkräftige Standorte oder gut aufgestellte Ketten haben, ackern öfters bis zum Umfallen. Manche von ihnen hausen gar im Laden.

Die Wettbewerbsintensität wirkt sich auch auf die Organisierungs- und Widerstandsmöglichkeiten aus. Denn die Niedriglohnjobs nehmen natürlich nur jene Lohnabhängigen an, die unter besonderem Druck stehen. Das gilt insbes. für Hartz-IV-Betroffene. Dabei funktioniert das Aufstock-Reglement in Wirklichkeit als verkappter Kombilohn, mit dem ein möglichst lohnnebenkostenfreies Unternehmertum indirekt subventioniert wird. Knapp 90% der in den letzten Jahren „geschaffenen“ Minijobs fallen in die Kategorie der 160-Euro-Jobs. Dies ist die Grenze, wo sich der Verdienst nicht auf die Transferleistung auswirkt. Diese Mini-Mini-Job-Verträge sind in den Spätis gängig.

Lage und Zusammensetzung der Späti-Beschäftigten machen betriebliche Konflikte schwierig. Gerade da, wo viele Familienangehörige sind, liegt das auf der Hand. Kaum jemand organisiert sich gewerkschaftlich gegen seine Verwandten. Aber auch die anderen Beschäftigten sind recht ohnmächtig. In den zahlreichen Kleinstbetrieben ist man vereinzelt. Auch sind viele so eingeschüchtert, dass sie froh sind, überhaupt einen Job zu haben. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad in den Spätis geht entsprechend gegen Null. Auch Klagen in diesem Bereich sind weitestgehend unbekannt. Und das, obwohl Lohnniveaus von ein bis zwei Euro die Stunde keine Seltenheit sind.

Dabei wirkt sich auch aus, dass die Branche – meist zu Recht – als prekär wahrgenommen wird und dass dort nicht viel zu verteilen wäre. Eine Logik, die auch das gewerkschaftliche Handeln auf dem Feld bestimmt. Das sozialpartnerschaftliche Verantwortungsgefühl sorgt für Hemmungen. Man möchte die Läden nicht ruinieren. Letztlich gilt das auch für viele Beschäftigte. Oft hat man im Hinterkopf, dass höhere Löhne gar nicht leistbar wären, dass eine Klage dem Laden schaden würde usw. Auf diese Weise entstehen in den Läden zahlreiche Mini-Korporatismen, die durch soziale und verwandtschaftliche Verbandelungen, aber auch durch ökonomische Zwangslagen zusammengehalten werden.

Holger Marcks & Sebastien Nekyia

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