Ja, es ist wahr: Seit der Antike sollen Brot und Spiele die unglückliche Menschheit bei Laune halten. Während römische Plebejer es noch spaßig fanden, Gladiatoren zuzusehen, wie sie sich gegenseitig zerhackten, oder wie Gefangene von wilden Tieren zerrissen wurden (der pure Sadismus also), dreht es sich heute vor allem um einen scheinbar harmlosen Ball aus Kunststoff oder Leder, der über eine Linie in ein Tor getreten oder geköpft werden soll. Doch niemand sollte sich täuschen: Nicht zufällig ähneln die römischen Arenen den neuen Fußballstadien, und beide verschlucken sie riesige Menschenmassen. Und ebenso wenig zufällig umarmen Staatsoberhäupter jedweder Couleur als selbststilisierte Mütter und Väter der „Nation“ „unser aller Mannschaft“ und sonnen sich im Glanz der Sieger – wie einst die Cäsaren. Diese durch Sport und besonders Fußball erzeugte Illusion eines „Wir“ ist wirksamer Kitt jeder Herrschaft, dabei geht es den Mächtigen doch sonst vor allem um ein übles Treten nach unten und Pressing der Reichtümer nach oben. Fußball ist eine der wirkmächtigsten Religionen des Planeten. Der Junge in einem Flüchtlingscamp im Sudan oder Syrien, der gegen einen Knäuel Lumpen tritt und von der Weltmeisterschaft träumt,
glaubt genauso daran wie der Junge, der von seinen profilneurotischen reichen Eltern in eine Fußballschule gesteckt wird und sich so Anerkennung und Liebe erhofft. Um diesen Fußball herum gedeiht das Gegenteil von selbständigem, freiem Denken: Man schaue sich nur die oft besoffenen Männerbünde an, meist nur für Nachmittage und Abende geschlossen, deren höchsten Glück es scheint, den „anderen“ ordentlich „eins in die Fresse zu hauen“. Hier fühlt Mann sich noch als Mann. Dennoch ist dieses Machogehabe beinahe harmlos, verglichen jedenfalls mit dem, was die Bosse mit dem Fußball anstellen. Soccer ist heute das Opium fürs Volk – und der Gebrauch daher genauso schmutzig wie der Griff nach den Mohnfeldern Afghanistans: Bei der WM in Brasilien 2014: Vertreibung und Umsiedlung zehntausender Familien, WM 1978 Argentinien: Vertuschung der bestialischen Folter und unzähligen Morde der Militärs, WM-Qualifikation 1969 aus Anlass eines verlorenen Spiels: „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador mit über 2000 Toten. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Und dann ist da das tägliche Geschäft. Der weltweite Fußballverband Fifa entblödete sich nicht, die WM 2022 an den Bewerber mit den höchsten Schmiergeldern zu verschachern, nämlich an die Golfautokratie Katar. Offensichtlich machen sich auch hier die Reichen und Großen daran, die Kleinen zu fressen. Zu sehen auch am Aufkauf von Profivereinen in den letzten fünfzehn Jahren: Der Emir Al Thani (aus Katar) investierte 95 Millionen Euro in den FC Malaga, Roman A. Abramovic 140 Millionen Pfund für den FC Chelsea, Malcom Glazer kaufte Manchester United für 790 Millionen Pfund, und Dietmar Hopp baute seiner TSG 1899 Hoffenheim immerhin ein hübsches Stadion (unter anderem).
Kleine Jungs übertrumpfen sich mit Top-As-Autokarten, große Jungs mit Top-Fußballvereinen.
Der Konzern Red Bull, dessen Fußballliebe ebenso unappetitlich wirkt wie sein klebriges Getränk, ist Eigentümer des achtfachen österreichischen Meisters Red Bull Salzburg, dazu gehören ihm New York Red Bull, Red Bull Brasil und Red Bull Ghana. Auch RB Leipzig wurde von Red Bull 2009 am Reißbrett entworfen, und zwar ohne die sonst in Deutschland überall vorhandene Stimmberechtigung von Mitgliedern!! Und gespielt wird immer noch mit Bällen, die unter erbärmlichen Bedingungen in Pakistan und China gefertigt werden. – Leute, kauft Fairtradebälle wie „Derbystar“! Capitalism kills.
All dies ist grotesk, aber eben leider wahr. Und doch lässt sich gerade beim Fußball auch völlig Gegensätzliches finden. Denn der Vergleich stimmt auch in die andere Richtung: Fußball wie Religion ist an und für sich weder gut noch schlecht, immerhin ließen Gläubige ihren Göttern wundervolle Tempel errichten oder fertigten Bücher wie das „Book of Kells“ an. Vor allem aber hat Religion z.B. John Ball, Thomas Rainsborough, Malcolm X oder Thomas Münzer inspiriert, die für Freiheit und Gleichheit kämpften, labte MystikerInnen und helle Köpfe wie Rabia von Basra oder Meister Eckhart, die, obwohl tief religiös, keiner Fliege etwas zu Leide taten. Und so geschieht auch Wunderbares im Fußball: Im Sommer 2013 begruben Istanbuler Fanvereine von Besiktas, Galatasaray und Fenerbace ihre jahrzehntelange Feindschaft, und die Besiktas-Fans schützten die Gezi-DemonstrantInnen vor den Übergriffen der Polizei, solidarisierten sich mit einer Basisbewegung, die mehr Mitbestimmung einfordert. Die Staatsmacht reagierte brutal: Während der Unruhen tötete sie landesweit acht und verletzte mehr als 7000 Menschen. Zudem zerrt die Staatsanwaltschaft 35 Mitglieder des linksgerichteten Besiktas-Club Carsi vor Gericht (der Club mit dem umrundeten A im Namen) und wirft ihnen, halb wahnsinnig oder vielleicht doch eher bösartig, die „Vorbereitung eines Staatsputsches“ vor.Was den Anarchismus betrifft, so hatte er auch seinen Verein, sogar einen der ruhmreichsten der Welt (allerdings teilte er sich ihn mit den linksgerichteten katalanischen Nationalisten): Den FC Barcelona. Viele Fans und sogar auch Spieler kämpften 1936 bewaffnet gegen die Franco-Faschisten. Der linke Präsident Josep Sunyol wurde von Falangisten ermordet. Nach Ende des Bürgerkrieges trafen sich Überlebende der bisher größten anarchistischen Bewegung der Geschichte bei den Spielen. Nicht zufällig bereiteten denn auch Barça-Fans dem sich etablierenden Francoregime eine erste Niederlage. In Barcelona wurde Anfang März 1951 wegen Fahrpreiserhöhungen die Straßenbahn boykottiert (die fünfzehn Jahre zuvor noch anarchistisch organisiert war). Niemand fuhr mit den wenigen Bahnen, deren Fahrer nicht streikten, 97 bis 99 Prozent der Fahrgäste blieben aus. In dieser Situation gab es ein Spiel gegen Santander im abgelegenen Stadion Les Corts. Der faschistische Stadtrat hoffte, den Boykott durch kostenlose Straßenbahnen zu brechen. Doch nach dem 2:1 Sieg von Barca liefen die Massen trotz strömenden Regens kilometerweit zu Fuß nach Hause. Eine klatschnasse Ohrfeige für die Diktatur. Schließlich musste die Fahrpreiserhöhung zurückgenommen werden.Zurück in die Gegenwart: Es sind nicht selten die (echten) Fans, die sich dem Zugriff des grenzenlosen Kapitalismus entziehen. Als Manchester United aufgekauft wurde, gründeten über tausend enttäuschte AnhängerInnen kurzerhand einen neuen Verein, den FC United of Manchester. Auch hierzulande gibt es Vereine wie Roter Stern Leipzig oder Roter Stern Flensburg mit heute Hunderten von aktiven KickerInnen, die sich für Toleranz und Antirassismus einsetzen. Bei den Profis sticht hier St. Pauli heraus. Stellvertretend für vieles, was dessen Fans tun, sei die aktuelle Aktion der Ultras genannt, die Fahrräder und Winterkleider für Flüchtlinge sammelten. „Nein zu Rassismus“ läuft ja auch als Medienkampagne mit Manuel Neuer, Lionel Messi und anderen Halbgöttern und ist von den einzelnen Spielern sicher ehrlich gemeint und wirksam. (Und wenn der DFB endlich Fairtrade-Bälle und -Trikots produzieren lässt, anstatt mit Adidas auszubeuten, dann sing ich sogar ein Loblied auf ihn.) Doch wichtiger scheinen mir die ungezählten Soli-Fußballturniere und Spiele vor Ort. Hier bewegen immer wieder viele etwas selbstorganisiert und gemeinsam: Es wird geplant, gebacken, gesungen, verkauft und natürlich gekickt, am Ende werden durch die Erlöse z.B. Schulen oder Brunnen gebaut. Gelebte Solidarität also, und das weltweit in Hunderttausenden von kleinen und großen sozialen Projekten rund um den Fußball.Hier zählt wirkliches Miteinander, und wer die Gesänge der irischen Fans nach ihren (irgendwann unvermeidlichen) Niederlagen gehört hat oder die Freude am Millerntor miterlebt, wenn Pauli ein Tor schießt, der oder die weiß, dass ein wirkliches „Wir“ sich nicht gegen ein anderes richten muss.Und rein sportlich gesehen? Ist dieses „Kampfspiel“ nun mehr Kampf oder Spiel? Während Kampf und Krampf immer Verlierer zurücklässt, ist Spielen für mich das Schönste an der menschlichen Entwicklung. Auch Fußballspielen! So sollte die „dritte Halbzeit“ keine verabredete Massenschlägerei von Hooligans mehr sein, sondern die gemeinsame Party beider Teams und ihrer Freunde mit Luftschlangen, Musik, veganer Sahnetorte. Und dann trotzdem die anderen nicht vergessen, die Fans von Besiktas Istanbul zum Beispiel, die weggesperrt werden sollen, weil sie solidarisch waren.
Oliver Steinke