Teilweise fällt es angesichts der Dreistigkeit der medialen Krisenberichterstattung, alle Leidtragenden der globalen Krise als faul und asozial zu bezeichnen – ob deutsche SozialhilfeempfängerInnen oder gar ganze Populationen südeuropäischer EU-Staaten – schwer, nicht an eine gezielte politische Kampagne zu glauben. Alles bloß stinknormale bürgerliche Ideologie oder doch eiskaltes Kalkül? Dieser Frage soll sich in einer zweiteiligen Betrachtung angenommen werden. Teil 1: Zur politischen Krisenökonomie in Kultur und Unterhaltungsindustrie
Sie wussten, dass ihre Stunde geschlagen hatte: die Lobby der Hochkultur blies fatalistisch zum Wettstreit der „humanistischen Werte“ versus der „finanzindustriellen Wertschöpfung“ (Deutscher Kulturrat 2009), und erklärte dieses Ringen zu einem Kampf um und für eine menschliche Zukunft. Schließlich lag es auf der Hand, dass auch die staatlichen Subventionen für jene Kunst und Kultur, die sich in erster Linie an eine als Bildungsbürgertum getarnte Oberschicht wendet, mit den freigemachten Milliarden zur Rettung von Banken und Konzernen nun politisch auf dem Prüfstand standen. Die IntendantInnen der Theater- und Opernhäuser, die Vorsitzenden der Musiksäle und Kulturverbände argumentierten teilweise analog zu den Gewerkschaftsspitzen aus dem Gesundheitssystem oder der Kinderbetreuung: Hier ginge es um unverzichtbare Investitionen in die Nachhaltigkeit der bundesdeutschen Infrastruktur, um die Zukunft des Landes, um eine wichtige Stütze im politisch-ökonomischen Ganzen. Ein besonders prägnantes Beispiel für die oft unbeholfen wirkende Argumentation lieferte dabei das Jenaer Max Planck Institut: Offensichtlichste Ursache-Wirkungszusammenhänge verdrehend, wurde allen Ernstes der Dreisatz formuliert, dass eine höhere Dichte an Opernhäusern höher qualifizierte Angestellte nach sich ziehe und dies in stärkerer Wirtschaftsleistung der Region münde. Dass Opernhäuser vielmehr traditionell an Orten zu finden sind, die längst von der Elite okkupiert wurden und der wirtschaftlichen Bedeutung dieser Regionen eher folgen als sie zu begründen, dürfte der Bundesregierung dann doch bewusst gewesen sein. Und so kam es dann doch nicht etwa zu einer Verlagerung der Hamburger Elbphilharmonie aus der Hafencity nach Mümmelmannsberg. Hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Konjunkturpaket II, in welchem dann tatsächlich „Kultur und Bildung“ berücksichtigt wurden, war eine politische Argumentation dann auch erfolgreicher als der hingebogene Ökonomismus: Hochkultur als Hort der zeitlosen Vernunft wider dem Chaos des Finanzmarktes, als gesellschaftliche Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Phrase von der „Krise als Chance der Gesellschaft zur Rekulturalisierung“ machte die Runde. Somit wurde diejenige Schicht, die weltweit die Milliarden der verschiedenen staatlichen Rettungspakete empfing, nicht bloß wie üblich zur „Leistungsgesellschaft“ erklärt, sondern auch noch zur Trägerin von Vernunft, Anstand und Kultur.
Formvollendete neoliberale Krisenökonomie: Von der Kultur zur Unterhaltungsindustrie
Nichtsdestotrotz zieht sich der Staat immer weiter als Finanzier und Produzent kultureller Güter zurück. Klassisch neoliberal wird dies natürlich auch als eine positive Entwicklung entgegen der „Marktverzerrung“ durch staatliche Intervention gewertet, aber auch vor einer Kettenreaktion in die private Kulturökonomie aufgrund ihrer strukturellen Verflechtung mit öffentlichen Kulturstätten gewarnt. Das als Ausdruck der Krise noch konzentrierter anzutreffende Kapital wird aber letztendlich klare Verhältnisse schaffen: Hochkultur als statusanzeigendes Konsumgut einer globalen Oberschicht. Dies entspricht dann paradoxerweise viel eher der Logik derjenigen, die für die staatlichen Zuwendungen auf diesem Gebiet kämpfen. Denn als reines Luxusgut wäre jene Hochkultur, derer sich privates Sponsoring annähme, tatsächlich weitgehend vor Spekulationen und Investitionsunsicherheiten gefeit. In der Vision Gerald Basts, dem Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, hätte die Hochkultur dann auch wieder einen „konservativen Charakter“, da für Experimente mit der Mittelmäßigkeit kein Geld mehr übrig bliebe. Für alle anderen kulturellen Sphären bleibt so nur noch das Haifischbecken der Unterhaltungsindustrie, und genau dort könnten sich im Kontext der anhaltenden Krise interessante Entwicklungen im Zusammenspiel von Produktion und Konsum andeuten. 2010 war eines der erfolgreichsten Jahre der RTL Group überhaupt, und das, obwohl die Konkurrenz der Internetangebote ebenso stieg wie die Finanzdecke vieler Werbepartner von RTL sank. Ausschlaggebend war allein die Konsumseite: „Supertalent“, „DSDS“, „Bauer sucht Frau“ erzielten unvergleichlich gute Einschaltquoten, das restliche RTL Angebot stagnierte auf äußerst hohem Niveau. Zielsicher investiert RTL die angehäuften Ressourcen an Kapital und Material nun in die Ausweitung der eigenen Dominanz: Eine Fülle an Clips wird im Internet wiederverwertet, öffentliche Events geraten genauso wie erhebliche Teile der Musik- und Comedybranche in unmittelbare Abhängigkeit zu Europas größter Mediengruppe. Der Erfolg von RTL ist ein Indiz dafür, dass „Kultur“ als konsumbasierte Dienstleistung einer der letzten boomenden Wirtschaftszweige des so genannten Westens ist. Ein weiteres ist die verschärfte Konkurrenzsituation der Bookingagenturen für Musikbands – ein Plus an neuen „Existenzgründungen“ von über 30% in den letzten drei Jahren! – genauso wie das kaum noch überschaubare Sprießen von Festivals aus den Äckern des Kontinents. Ebenso verhält es sich mit unzähligen Nachtclubs in jeder noch so kleinen Kleinstadt. Musik, Akrobatik, Performance sind nachgefragter denn je. In der Regel ist die Bezahlung derjenigen, die das Angebot letztlich „herstellen“, zwar äußerst prekär, jedoch findet sich in diesem Bereich eine äußerst hohe Bereitschaft zum Hetzen von Arbeit zu Arbeit, zum Aneinanderreihen von Vertrag und Vertrag. Der Organisierungsgrad unter den Produzierenden von Kultur auf Ebene der Unterhaltungsindustrie ist denn auch praktisch gleich Null, was eine Voraussetzung für den Boom gewesen sein dürfte. Ihnen steht eine hochprofessionalisierte und durchstrukturierte Branche gegenüber, die ihren Markt zu lenken versucht. Denn der Profit in der Unterhaltungsindustrie basiert, anders als in vielen anderen Wirtschaftsbereichen, wesentlich auf immer kürzeren Produktionszyklen und Konsumtrends: Je schneller sich das Konsumverhalten ändert, desto höhere Gewinne lassen sich durch das Platzieren neuer Produkte – Musikstile, Fernsehformate, Events – generieren. Mit einem solchen Produktionsmodell ist die Unterhaltungsindustrie voll auf der Höhe der Zeit, ohne dass sie von der allgemeinen Krise – im Gegensatz etwa zur Automobilindustrie – dazu gezwungen worden wäre. Die Situation ist dabei für diejenigen, die die kulturellen Inhalte der Unterhaltung herstellen, jedoch noch bedrohlicher und trägt weiter zu ihrer Erpressbarkeit durch die Branche bei.
Das Problem mit dem Inhalt
Die Strategie der Themenplatzierung stellt jedoch ein komplexes Problem dar. Ohne den Hintergrund der andauernden finanziellen, ökonomischen und politischen globalen Krise könnte von einem recht willkürlichen, lediglich auf die Herstellung kurzlebiger Produktzyklen abzielenden System ausgegangen werden. Da allerdings spätestens mit dem Einbruch der Krise 2008 von einer zunehmend prekarisierten und vor allem verunsicherten Bevölkerung – eben auch als Planungsgröße in den Vorstandszimmern der Unterhaltungsindustrie – auszugehen ist, erscheinen die Inhalte solcher kultureller Produkte in einem anderen, ungemein politischeren Licht. Branchenriesen wie RTL verabschieden sich von inhaltlicher Breite und forcieren offensiv ein gesellschaftliches Bewusstsein als Reaktion auf die Krise – den leistungsbasierten Hedonismus. Nichts würde solche Unternehmen mehr treffen, als wenn die steigende Verunsicherung großer Bevölkerungsschichten in Zurückhaltung gegenüber Lifestyleprodukten und Unterhaltung münden würde. Daher spielt Massenpsychologie in den Konzepten der Unterhaltungsindustrie eine wesentliche Rolle, wie auch ein Verständnis der politischen Ökonomie in der Krise. Schwierig zu kontrollieren sind, beziehen wir uns auf die deutschen Verhältnisse, dabei nicht die unmittelbaren klassenspezifischen Reaktionen des Publikums auf die Krise – gerade RTL hat die eigenen Grenzen mit „Undercover Boss“ und „Frauentausch“ schon längst ausgelotet – sondern das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Während sich in anderen, von der Krise befallenden Wirtschaftszweigen das Kapital konzentriert – Deutsche Bank und VW sind die prominentesten deutschen Beispiele – setzt gerade in Krisenzeiten in den wenigen boomenden Bereichen die umgekehrte Entwicklung ein. Vor allem Jugendliche aus mittelständigen Milieus, denen die Perspektive zur Reproduktion ihres Status z.B. durch Industriearbeit verwehrt bleibt, drängen als Unternehmen und InvestorInnen auf den Markt. Zugleich explodiert die Zahl derjenigen, die ihre Arbeitskraft als ProduzentInnen von kulturellen Inhalten anbieten – und damit auch die Anzahl der Inhalte selber.
Kontrollverlust über Angebot und Nachfrage?
In einer solchen Situation wird natürlich jede Marktlücke irgendwann ausgenützt, und je mehr leistungsfetischisierende Inhalte durch die Marktriesen à la RTL dominiert werden, desto größer das Interesse von neuen Marktteilnehmenden an komplett gegensätzlichen Inhalten. Die nur schwer durch reine Marktmechanismen erklärbare Einheitlichkeit der medialen Kriseninterpretation mit ihren allgegenwärtigen Erzählungen über notorisch faule und korrupte Südländer (mehr dazu in der kommenden Ausgabe) färbt zwar ohne Frage auch auf die Konsumgewohnheiten der Masse ab, doch gerade im Bereich der Popmusik zeigt sich eine zunehmende inhaltliche Vielfalt kultureller Angebote. Den aggressiven Kampagnen des Privatfernsehens gegen die EmpfängerInnen sozialstaatlicher Leistungen steht der Erfolg von Bands oder einzelner Lieder – ob im Netz oder auf Events – entgegen, die sich selbstbewusst mit denen als negativ verkauften Attributen der eigenen Schicht identifizieren. Was auch sonst politisch von Gruppen wie „Deichkind“ oder „K.I.Z.“ zu halten sein mag, so zeigt ihre Popularität doch durchaus, dass es auch ein weit verbreitetes Bedürfnis nach einem Kontra entgegen der leistungshedonistischen Ideologie von RTL und Co gibt.
Marcus Munzlinger