Als der aktuelle Krisenzyklus 2007/2008 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wunderten sich emanzipatorische Kräfte über ein Ausbleiben der Proteste. Lediglich jene, die sich mit ökonomischen Prozessen beschäftigten, blickten erwartungsvoll nach China und Indien.
Und in der Tat: Die Zahl der Streiks in China stieg frappant. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Streikwelle im Sommer 2010. Weniger erwartet war die Vielzahl der Revolten im Maghreb und den arabischen Staaten. Die Medien zeigten sich geschichtslos und erklärten sich die vermeintlich spontanen Erhebungen mit dem steigenden Einfluss von Facebook, Twitter, Skype & Co anstatt mit vorhergehenden Kämpfen und den sozialen Umständen. Mit den Protesten in Griechenland, Spanien und Portugal war es dann vorbei mit der Beliebigkeit: Der Zusammenhang mit den Strukturanpassungsprogrammen (SAPs) von Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU mit den Protesten ist nun allzu deutlich geworden.
Krieg als Krisenlösung
Der Widerstand gegen SAPs von IWF und Weltbank in den 1980er Jahren war kaum geringer als heute, er fand allerdings nicht in der Peripherie Europas statt, sondern in den Staaten der „Dritten Welt“. Im Zentrum solidarisierten sich die Leute in Form von Protesten gegen die Tagungen von IWF und Weltbank – daraus entstand letztlich die Antiglobalisierungsbewegung.
Die den Krisen folgenden SAPs konnten aber auch ein anderes Nachspiel haben: Krieg. Es ist im kollektiven Gedächtnis völlig verschwunden, dass es die gesamten 1980er Jahre hindurch in Jugoslawien einen relevanten Arbeiterwiderstand gegen die Programme von IWF- und Weltbank gab. Diese Proteste wusste die Regierung letztendlich durch das Schüren eines neuen Nationalismus zu kanalisieren. Die Folge war ein Jahrzehnt Krieg auf dem Balkan.
Krieg ist auch heute eine der Optionen, wie mit der Krise umgegangen werden kann, das zeigt das Beispiel Libyen. „Kapitalismus kann[…]ohne die Drohung der militärischen Unterdrückung im Hintergrund nicht bestehen“, so interpretiert der kenianische Politikwissenschaftler Firoze Manji das Bombardement der NATO. Diese agiert zwar vordergründig im Interesse der Rebellierenden, macht damit aber gleichzeitig auch deutlich, dass sie überall dort in Nordafrika, wo die Revolte keinen demokratisch-marktwirtschaftlichen Ausgang nimmt, ebenfalls intervenieren wollte. Die Ansagen nach der Flucht Gaddafis sprechen eine deutliche Sprache:„Westliche Stabilisierungsberater“ (taz) sollen den Wiederaufbau des Landes übernehmen.
Ob dies das einzige Beispiel bleibt, ist noch lange nicht ausgemacht – es wird auch davon abhängen, wie sich die einzelnen Revolten weiter entwickeln. Bezüglich der griechischen Situation kommentierten AutorInnen auf linksunten.indymedia.org: „Ein Staat, der beschließt, weil er eben nicht mehr kann, seine Schulden nicht mehr oder nur teilweise zurückzuzahlen, kann schwer gezwungen werden. Nicht mal pfänden kann man ihn, jedenfalls nicht ohne Krieg, und das wollen ja zumindest offiziell landein, landaus die Politiker_innen ganz sicher nicht.“ Genau das ist aber in Jugoslawien seinerzeit passiert.
Die Bewegung im hoch verschuldetenGriechenland ist exemplarisch und gilt gerade in Deutschland vielen Linken als Vorbild: Mit 48 Generalstreiks seit 1980 ist Griechenland in Sachen Streik einsame Spitze in Europa, die anarchistische Bewegung besitzt einige Bedeutung, präsentierte sich jedoch in der Vergangenheit in Teilen auch besonders gewaltbereit. Nach dem Tod der drei Bankangestellten im Mai 2010 hat hier aber ein breites Umdenken eingesetzt. Die griechische Protestbewegung harmoniert in ihren Methoden mit den spanischen und portugiesischen „Empörten“. Teile der libertären Bewegung arbeiten an alternativen Konzepten und setzten statt auf gewaltsame Proteste vermehrt auf die direkte Intervention auf den Vollversammlungen der Plätze und Stadtteile.
Bewegungen für Demokratie?
Ein gemeinsamer Nenner der südeuropäischen Demokratiebewegungen (aber auch z.B. der Proteste in Wisconsin und Israel) ist die Berufung auf die Revolten in Nordafrika. Das ist insbesondere für die USA erstaunlich. Nach dem 11. September 2001 erschien dort eine positive Berufung auf etwas, das in der islamischen Welt geschieht, nahezu unmöglich. Außerdem scheint hier wieder ein Klassenbewusstsein auf: Die arbeitende Klasse in den arabischen Staaten und dem Maghreb hat etwas gemeinsam mit der arbeitenden Klasse in den USA, das wird den Menschen nun klar. „Für die Protestlandschaft der USA war besonders auffällig, dass sich in der Sprache der Proteste durchgängig Begriffe wie Klasse und sogar Klassenkampf befanden“ schreiben die Soziologen Erik Olin Wright und João Alexandre Peschanski.
Um Demokratieforderungen geht es – mit der Ausnahme England – in allen aktuellen Protesten, und zwar um die Forderung demokratischer Teilhabe der Arbeiterklasse, je nach Ausprägung um Mit- oder Selbstbestimmung und je nach bisherigem politischen Regime um die Etablierung demokratischer Strukturen oder gegen den Abbau derselben.
Das Vorgehen der Troika aus EZB, IWF und EU insbesondere in Griechenland macht deutlich: In Zeiten der Krise bekommt das Kapital seine Schwierigkeiten mit der sonst so hochgelobten Demokratie – und sei sie auch nur parlamentarisch. Die Bedürfnisse des Kapitals lassen sich mit demokratischen Mitteln nicht mehr erfüllen. In dieser Situation neigte das System schon immer zu autoritären Lösungen. Die Debatte um Ausgehverbote für Jugendliche in London, die Sperrungen der virtuellen Netzwerke in den arabischen und nordafrikanischen Staaten und der Einsatz direkter Gewalt gegen die Bevölkerung des eigenen Staates – in Libyen und Syrien wie in England – sind nur die Spitze des Eisbergs. Libyen wie England verweisen zudem auf die rassistische Ebene der Krise: Im ersten Fall wurde auch bombardiert, um nach dem Sturz Gadaffis weiterhin.Flüchtlinge von Europas Grenzen fernzuhalten, im zweiten Fall wird der soziale Sprengstoff ethnizistisch übertüncht.
Streik als Kern der Revolten
Aus klassenkämpferischer Position ist zu betonen: Den meisten der jetzigen Aufstände sind konkrete proletarische Kämpfe, oftmals Streiks, vorausgegangen: Die ägyptische Revolte entstand aus dem Textilarbeiterstreik in Mahalla 2006 und der folgenden Streikwelle, Mubarak gab erst klein bei, als zu den Protesten die Streikdrohung kam. In Tunesien kam es 2008 zu einer relevanten Streikbewegung in der Bergarbeiterstadt Gafsa, die die Revolte ausgelöst hat. Zu diesem Zeitpunkt konnte das Zentrum die Folgen der globalen Krise noch auf die Peripherie und Semiperipherie ablenken. Diese Arbeiterkämpfe wurden in den Medien mit keinem Wort mit der globalen Krise in Verbindung gebracht. Nur deshalb wirkt die momentane globale Revolte „überraschend“.
Die allerorts entstandene Zusammenarbeit von sozialen Initiativen, Gewerkschaften und politischen Oppositionsgruppen in den Jahren 2010 und 2011 basiert auf proletarischen Identitäten: Sie resultieren aus den Resten der Arbeitermacht, die sich in den genannten Streiks zeigt und oft genug Initialzündung der Proteste war, zum anderen sind es die Proletarisierten oder jene, die Angst vor der Proletarisierung haben und die Überproletarisierten – die Prekären – die auf ihre spezifische Art und Weise revoltieren.
Gerade die Entstehung der Revolten aus Streiks weist darauf hin, dass das syndikalistische Organisierungsmodell nichts an Relevanz eingebüßt hat. Als Proteste gegen die Troika haben diese zudem einen dezidiert antikapitalistischen Charakter. In diesem Sinne ist auch die Demokratieforderung – mag sie auch bei erstem Hinblick als „reformistisch“ erscheinen – nicht zu unterschätzen: Die Forderungen weisen auf ein Bedürfnis nach mehr Demokratie und direkter Einflussnahme hin. Elemente also, welche dem syndikalistischen Grundprinzip der Selbstverwaltung sehr nahe kommen. Daher kommt es momentan auf internationale Solidarität an, und zwar auf eine kompromisslose. Denn auch wenn uns die Mittel nicht gefallen, sind die Riots in England ein Ausdruck der Revolte. Sie haben nur vordergründig nichts verändert. Doch haben den Revoltierenden vielleicht wenigstens gezeigt, dass sie eine Macht entwickeln können. Aus dieser Erfahrung der eigenen Mächtigkeit kann etwas Positives entstehen.
Torsten Bewernitz
„Etwas ist aufgebrochen“
Laure Akai (Internationale Sekretärin der ZSP | Polen)
Es
ist beeindruckend, wie an den verschiedensten Orten der Welt
Massenproteste entstehen. Wenn sie auch z.T. unterschiedliche Ursachen
haben, so ist doch klar, dass der Grad an Elend, das Menschen erdulden
müssen, so hoch war, dass letztlich etwas aufgebrochen ist.
Wir
sind froh, die Menschen protestieren zu sehen, haben aber
unterschiedliche Ansichten über manche Ereignisse. Wir sehen, dass die
Menschen sich gegen etwas wehren, doch manchmal ist nicht klar
erkennbar, wofür sie eigentlich sind – wobei dies in solchen Situationen
auch nicht anders zu erwarten ist. Wir empfinden Freude angesichts der
Aufstände in Nordafrika, und wir hoffen, dass dies in Zukunft zu einem
Wachstum revolutionärer Bewegungen beiträgt. Auf der anderen Seite
stimmen uns die „orangenen“ Elemente dieser „Revolutionen“ skeptisch,
ebenso wie die unklaren politischen Ziele und die Möglichkeit, dass die
Bewegungen von machtambitionierten Kräften vereinnahmt werden könnten.
An manchen Orten ist dies bereits geschehen und es scheint, dass die
Massen mit einem Austausch der Politiker abgespeist werden. In Spanien
wiederum beobachten wir eine Bewegung von Menschen, die empört sind, die
aber vielfach andere politische Ziele als die unsrigen haben oder
einfach nur diffus sind.
Wir wissen, dass es nötig ist, sich
kritisch in solche Bewegungen einzubringen und deren Richtung
mitzugestalten. Labels wie „Spanische Revolution“ sind da aber
irreführend, denn sie verzerren das Konzept einer sozialen Revolution.
Wir befinden uns zweifellos in einer Phase von Massenprotesten und
Revolten. Doch klarere Ziele sind notwendig, wenn sie auch ein Schritt
Richtung sozialer Revolution sein sollen.
„Optimisten – für den Moment zumindest“
Miguel A. Fernández (Pressesekretär der CNT | Spanien)
Noch
im März erklärte die CNT, dass „die unteren Klassen in der arabischen
Welt gezeigt haben, dass es möglich ist, Regimen und – als unbewegbar
empfundenen – Zuständen die Stirn zu bieten.“ Zudem verfasste sie einen
Aufruf mit dem Ziel, den Impuls der Revolte auf die andere Seite der
Meerenge zu tragen. Was zu jenem Zeitpunkt wie ein weit entferntes Echo
erschien, als etwas immer noch Undenkbares in Spanien, ist mittlerweile
Wirklichkeit geworden: die Massen sind auf den Straßen, sie formulieren
und verlangen ihre Rechte. Und es verbreitet sich weiter, über
verschiedene Länder, einer Sturmflut ähnlich, wie wir sie nur noch vom
weit entfernten 1968 kennen.
Auch wenn die Eigenheiten und
Besonderheiten jedes Landes zu berücksichtigen sind, so lassen die
organisatorischen Ansätze in den Mobilisierungen doch allmählich
erkennen, dass direkte Partizipation möglich ist. Durch das Mittel der
Versammlung werden Entscheidungen getroffen, welche die Forderungen und
Bestrebungen kanalisieren und so den Individualismus überwinden.
Die
Hoffnungen, die durch die sozialen und die Arbeitskämpfe hervorgerufen
werden, dürfen uns jedoch nicht vergessen lassen, dass politische,
soziale, aber auch gewerkschaftliche Kräfte diese Situation
instrumentalisieren, abschwächen und führen wollen werden. Sie bangen,
vielleicht noch mehr als die Regierungen, um den Verlust des letzten
Rests an Legitimität, die sie noch bei den Menschen genießen.
Nichtsdestotrotz machen uns die Vorgänge und das Gefühl, einige Momente
des Kampfes und der Mobilisierungen gelebt zu haben, zu Optimisten – für
den Moment zumindest.