Jenseits des Betroffenheitsgedusels

Um
es gleich vorweg zu schicken: Das Buch von Martin Veith ist
Erinnerung und Kampfansage – es ist Feuerwerk! Seine provokanten
Einsichten werden Widerspruch hervorrufen, vor allem bei jenen, die
sich der Straßengewalt von Neonazis zwar theoretisch nähern, den
Erfahrungshorizont eines Alltags aus permanenter Bedrohung,
Einschüchterung, Angst, Wut und Hass jedoch nicht kennen. Vielleicht
können gerade deshalb AntifaschistInnen in den Ost-Bundesländern,
einigen Regionen im Westen, vor allem aber MigrantInnen sich sehr
viel eher mit dem Anliegen des Autoren identifizieren als diejenigen,
die sich nur “betroffen” fühlen. Sicher jedoch ist, dass dieses
Buch von allen mit Gewinn gelesen werden kann, die eine
antifaschistische Praxis aufweisen bzw. diese entwickeln wollen. Es
reiht sich ein in die Tradition von Überlieferungen, die mit Truus
Mengers “Im letzten Augenblick“ und dem auch hier mehrfach
erwähnten “The 43 Group“ von Morris Beckman bisher ihresgleichen
suchten. Nur schreibt der Autor nicht über die
Widerstandsgeschichte vor mehr als 60 Jahren, sondern über die
Jugendgeneration Anfang der 90er Jahre.

Authentische
Schilderung

Veith
zeichnet die Geschichte der Anarcho-Syndikalistischen Jugend (ASJ) im
Stuttgarter Raum Anfang der 90’er als einer ihrer ehemaligen
Aktivisten nach.

Immer
schwingt jenes Lebensgefühl mit, das viele dieser Generation bis
heute prägte. Der Autor widmet sich dem Thema auf eine äußerst
persönliche Weise;
v
ielleicht ist dies
das Erfolgsrezept des Buches, da so Erlebtes unheimlich lebendig und
aufmunternd beschrieben wird, eingebettet in die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen jener Zeit. Deutlich wird: Die Kämpfe der ASJ
entwickelten sich aus ihrem sozialen Alltag heraus, waren direkte
Impulse gegen die sie umgebende Wirklichkeit. Dabei konnte es sich um
ihre Wohnsituation handeln, um Konfrontationen mit Neonazis,
Autoritäten, Nationalismus und Rassismus, Krieg oder um ihre
Ausbeutung im Betrieb. Die ASJ bot dabei keinen Raum für einen
aufgesetzten ideologischen Habitus, sondern zeichnete sich vielmehr
durch die persönliche Verwurzelung in den sozialen Kämpfen aus.

Mit
einigen Standpunkten des Autors in puncto Widerstand gegen Neonazis
kann sicherlich nicht jede und jeder d’accord gehen, auch wenn vielen
AntifaschistInnen die Problematik unter ganz bestimmten Bedingungen
durchaus vertraut ist: Sie gewinnt rein “militärischen“
Charakter. Dass die ASJ viel differenzierter war, hat sie in der
Praxis bewiesen. Die Trennung von rechten MitläuferInnen und hartem
Kern, Gesprächsversuche, die Schaffung von Gegenöffentlichkeit, das
Outen von Neonazis in ihrem sozialen Umfeld, das Vermeiden der
Überhöhung von Bedrohungspotenzialen einzelner Nazi-Gruppen durch
gründliche Recherche, einschließlich des Besuchs ihrer
Versammlungen unter Tarnung bei hohem persönlichen Risiko, oder die
passable Methode, sie der Lächerlichkeit preiszugeben, sind Dinge,
die sich bis heute bewährt haben. Allerdings wird in dem Buch
versäumt, angewandte Gegengewalt als ein aufgezwungenes Übel zu
beschreiben, das sich nicht idealisieren lässt. Es bestand eben die
Notwendigkeit, sich zu wehren oder anderen beizustehen, denn tätliche
faschistische Angriffe waren gerade auch im Osten der Nachwendejahre
alltäglich. Zurück blieb jedoch immer Katerstimmung, da derart
nichts Positives vermittelt werden kann. In dem Buch fehlt hierbei
die kritische Distanz, auch wenn das Verhältnis zur Gewalt als
Taktisches beschrieben wird. Der Anarchokommunist Malatesta wird
nicht umsonst zitiert.

Die
Tradition des anarchosyndikalistischen Antifaschismus im Südwesten

Im
zweiten Teil des Buches beschreibt Helge Döhring in gewohnt
akribischer Manier die Widerstandstätigkeit illegaler FAUD-Kreise in
Baden-Württemberg nach 1933, quasi in Anknüpfung an “Syndikalismus
im Ländle”, das im gleichen Verlag erschienen ist. Prozesse, sog.
“Schutzhaft”, Folter, Zusammenhalt, aber auch Misstrauen prägten
diese Zeit. Nicht alle, die überlebt hatten, versuchten nach ’45
einen Neuanfang. Den Unermüdlichen bot der Briefwechsel mit dem im
Exil lebenden Rudolf Rocker Halt und Richtschnur. Döhring hat an
dieser Stelle auch Interessantes über den Anarchisten Theodor
Plivier zusammengetragen, das in dieser Form bisher unbekannt sein
dürfte.

Fazit:
Kaufen, lesen, weiter empfehlen! Womöglich die bislang wichtigste
Veröffentlichung 2009.

Anarr


Buchtitel: Martin Veith: Eine Revolution für die AnarchieMartin
Veith: Eine Revolution für die Anarchie. Zur Geschichte der
Anarcho-Syndikalistischen Jugend (ASJ) im Großraum Stuttgart
1990-1993 / Helge Döhring: Aus den Trümmern empor!
Anarcho-Syndikalismus in Württemberg 1933 bis 1956. Verlag Edition
AV, Lich 2009. 380 Seiten. ISBN 867-3-86841-005-1. Preis: 22 €.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar