Alltag ist Krieg

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Der 1. Mai gilt
traditionell als der Arbeiterkampftag. Einmal im Jahr putzen
sich die hiesigen Gewerkschaften heraus, um sich an diesem Tag in
Szene zu setzen. Was viele hierzulande nicht wissen, ist, dass der 1.
Mai schon länger nicht der einzige Arbeiterkampftag ist –
zumindest international betrachtet. Alljährlich begehen am 28.
April, im Dunstkreis des 1. Mai, GewerkschafterInnen auf der ganzen
Welt den Workers’ Memorial Day (WMD). Keine kleine Sache, denn
i.d.R. finden dabei Veranstaltungen, Demonstrationen, Kundgebungen
und Aktionen in mehreren dutzend Ländern und auf allen Kontinenten
statt. So auch in diesem Jahr.

Diesmal gab es Berichte
von größeren Veranstaltungen und Aktionen aus 45 Ländern. Es wird
geschätzt, dass über 14 Mio. ArbeiterInnen an knapp 10.000
Aktivitäten teilgenommen haben. Wie einst der 1. Mai ist auch der
WMD ursprünglich ein Tag des Gedenkens, jedoch nicht an bestimmte
Personen, sondern an das alltäglich Martyrium der anonymen
Arbeitermasse, die den kapitalistischen Arbeitsbedingungen zum Opfer
gefallen ist.

Hintergrund ist, dass
weltweit jedes Jahr über 2,2 Mio. ArbeiterInnen bei Arbeitsunfällen
ums Leben kommen oder aufgrund von arbeitsbedingten Krankheiten
sterben.[1] Weitere 160 Mio. tragen jährlich
Verstümmelungen, Verletzungen und Krankheiten davon, bei einem
Gesamtaufkommen von 270 Mio. Arbeitsunfällen. Durchschnittlich
stirbt somit alle 15 Sekunden ein/e ArbeiterIn. Mit 6.000 Toten
täglich sterben mehr Menschen durch Arbeit als durch Kriege. Der WMD
richtet sich explizit gegen diesen alltäglichen Terror: Das Problem
soll ins öffentliche Bewusstsein getragen und sicherere
Arbeitsbedingungen erkämpft werden.

Aus der Taufe gehoben
wurde der WMD 1984 von einer kanadischen Basisgewerkschaft. Im Jahr
darauf schloss sich der größte kanadische Gewerkschaftsdachverband
dieser Initiative an, schließlich auch zahlreiche US-amerikanische
Gewerkschaften.

War
der WMD ursprünglich nur als Tag des Gedenkens an ArbeiterInnen
gedacht, die aufgrund ihrer Arbeit getötet, verstümmelt oder
verletzt wurden, weitete sich dessen Charakter Anfang der 1990er aus.
Bereits ab 1989 fanden vereinzelt auch in Europa und Afrika Aktionen
statt, wesentlich für die Entwicklung des WMD war aber 1992 die
Ausdehnung auf Großbritannien, wo v.a die Hazard Campaign den Tag
bekannt machte und ihn dem heute bekannten Slogan verpasste: “Der
Toten gedenken, für die Lebenden kämpfen!” Seither wird an diesem
Tag auch ganz konkret für Verbesserungen gekämpft, selbst
betriebsbezogene Streiks gab es in diesem Zusammenhang schon.

In Deutschland ist diese
neuere Tradition gänzlich unbekannt, und das, obwohl hier
arbeitsbedingt durchschnittlich fast zehn Menschen sterben und ca.
2.600 verletzt werden – täglich![2] Sowohl die FAU als
auch die IAA prüfen momentan ernsthaft die Möglichkeit, im nächsten
Jahr den WMD mit einer Beteiligung zu bereichern. Ansatzpunkte für
SyndikalistInnen bietet er genug, zumal die Themen Arbeitsunfälle
und -hetze unmittelbar mit dem klassischen Gewerkschaftsthema der
Arbeitszeiten zusammenhängen, das einst den 1. Mai beseelte. Nicht
zuletzt bietet der konkrete thematische Ansatz des WMD die bereits
angedeutete Perspektive direkter ökonomischer Aktionen, eine
Tradition, die im Kontext des politisch verwässerten 1.
Mai-Feiertags kaum mehr zurück gewinnbar scheint.

Holger Marcks

Anmerkungen:

[1] Ein Großteil
(440.000) fällt giftigen Substanzen wie z.B. Asbest (100.000) zum
Opfer.

[2] 2007 gab es 630
tödliche Arbeits- und 496 Wegeunfälle sowie 2.296 Tote in Folge von
Berufskrankheiten. Zudem gab es knapp 960.000 nichttödliche
Arbeitsunfälle. Dabei sind die Opfer psychologischer Belastungen
durch Lohnarbeit, bis hin zu Selbstmord, noch nicht einberechnet
(siehe DA Nr. 190).

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