Der Arzt, Psychotherapeut und gelernte Schmied Michael Wilk ist seit den 1970er Jahren in der Anti-Atom-Bewegung, wie auch in der anarchistischen Szene als Aktivist und Autor engagiert. Die Direkte Aktion sprach mit ihm über die Verflechtung von Politik, Gewerkschaften und Energiewirtschaft und die Perspektiven von Anti-AKW-Protesten in Deutschland.
Welche Position nehmen die DGB-Gewerkschaften bisher zur Atomenergie ein?
Die DGB-Gewerkschaften sind eng verzahnt mit dem ökonomischen System der Bundesrepublik, mit – mehr oder weniger – kritischen Positionen gegenüber gesellschaftlichen Ereignissen. Momentan kann man sagen, dass sich spätestens seit Fukushima die Positionen gewandelt haben, aber es gab auch vorher schon klare Optionen, die Kernkraft zu verlassen, schon seit geraumer Zeit. Die Frage ist nur, geht es grundsätzlich in Richtung Gesellschaftskritik, und das geht es natürlich nicht. Selbst weitreichende Positionen, wie z. B. die der IG Metall, bewegen sich ganz klar systemimmanent. Die Forderung nach einer Vergesellschaftung der Schlüsselindustrie steht zwar im Grundsatzprogramm, spielt jedoch in der Realität keine Rolle. Hier ist vielmehr die Rede von der Schaffung neuer Arbeitsplätze im regenerativen Energiebereich. Zu kurz kommt die Frage nach grundlegender Veränderung, wie etwa die nach einer Demokratisierung im Energiebereich, einer Infragestellung von Großkonzernen, die inzwischen ja auch massiv auf das regenerierbare Pferd setzen. Die großen Offshore-Anlagen in der Nordsee oder auch Wüstenstrom aus Nordafrika sind von ihren Ausmaßen her Großprojekte, die so nur über die Energiekonzerne finanzierbar sind. Und daran wird seitens der Gewerkschaften in der Regel nichts in Frage gestellt. Was kritisiert wird, ist der Betrieb atomarer Anlagen. Aber auch da gehen die offiziellen Stellungnahmen der Gewerkschaften zurück auf den faulen Atomkompromiss unter Rot-Grün aus dem Jahr 2000.
Welche Veränderungen in der gewerkschaftlichen Position sind zu erwarten?
Das ist der Stand von vor Fukushima. Momentan sind diese Positionen intern wieder in der Diskussion, und möglicherweise kommt es hier zu Veränderungen, zu etwas weiterreichenden Positionen, aber mit Sicherheit nicht soweit, wie die der Anti-AKW-Bewegung. Auch weitergehende Forderungen reden meist nur von „nachhaltiger Energieerzeugung“ und es wird argumentiert, dass eine leistungsfähige Infrastruktur unverzichtbar ist für eine moderne Industriegesellschaft und Energie dabei eine tragende Säule darstellt. Was eine solche „moderne Industriegesellschaft“ ist, wie sie aufgebaut ist, wie die Besitzverhältnisse aussehen, die Zusammenhänge von Produktion und Konsumverhalten, wird dabei nicht hinterfragt.
Auch Konzepte wie der Green New Deal, also die Erneuerung der Ökonomie unter Berücksichtigung weitreichender ökologischer Aspekte werden vom linken, radikalen Flügel der Anti-AKW-Bewegung zurecht kritisiert, weil dies keine Infragestellung des Systems an sich bedeutet, kein Infragestellen der Besitzverhältnisse und der Verfügungsgewalt. Ob nun ein Kampfpanzer mit Biosprit läuft oder nicht ist für uns letztendlich eine sekundäre Frage. Die ausschlaggebende Frage lautet: Wer verfügt über diese Gesellschaft? Liegt unser Interesse nicht vielmehr an der Umstrukturierung hin zu einem Gesellschaftssystem, wo schon aus sozialen, politischen Gründen und aufgrund von Verfügungsprinzipien ein Weiterbetrieb der Atomanlagen völlig ausgeschlossen ist und eine Konzernstruktur der Energiewirtschaft so nicht mehr möglich sein wird? Von solchen Auffassungen sind die DGB-Gewerkschaften natürlich weit entfernt.
Inwiefern setzt die radikale Anti-AKW-Arbeit auf eine Zusammenarbeit mit der DGB-Basis?
Es gibt sicherlich einige Ortsgruppen, die da weiter denken. In ihnen können wir schon wichtige Bündnispartner finden. Das Motto zum 1. Mai der IG Metall Frankfurt wird z.B. lauten: „Endlager für Kapitalismus gesucht“. Ich vertrete ohnehin die Haltung, dass eine Diskussion, eine Kooperation, wenn sie denn irgendwie möglich ist, nicht von vornherein ausgeschlossen werden sollte. Es macht keinen Sinn, weiterhin im eigenen Saft zu schmoren. Wir brauchen gesellschaftliche Bündnispartner. Nicht um jeden Preis, versteht sich. Aber in der Situation, die wir momentan haben, wo die Leute dermaßen sensibilisiert – nicht politisiert! – sind, sollten wir als Diskussionspartner und Multiplikatoren zur Verfügung stehen. Hier sehe ich auch die Einzelgewerkschaften – womit ich die Basis meine – in ihrer Pflicht. Wichtig für uns sind hierbei die persönlichen Kontakte vor Ort, die Kontakte in die Betriebe. Da sind die Leute zur Zeit relativ aufgeschlossen. Wir haben da schon gute Erfahrungen gemacht.
Wie groß ist das Interesse der Energiewirtschaft an der Kernkraft? Ist die Rede von der sogenannten „Brückentechnologie“ überhaupt ernst zu nehmen?
Momentan sind Atomkraftwerke reine Gelddruckmaschinen. Ein AKW erwirtschaftet derzeit einen Reingewinn von etwa 1 Mio. Euro pro Tag – ein unschlagbares Argument. Andere Technologien, für die erstmal neue Produktionsstätten geschaffen werden müssen, sind aber das Pferd, auf das die Energiekonzerne setzen. Sie setzen jetzt auf Atomkraft, weil sie damit viel Geld verdienen können, und nicht aus ideologischen Gründen. Sobald andere Technologien ähnlich lukrativ sind, werden sie auf diese setzen. Bei den Konzernstrategien geht es schlicht und ergreifend einfach nur ums Geld. Je schwieriger es wird, mit Atomstrom Profit zu erwirtschaften, und sei es aus politischen Gründen, desto mehr wird die Energiewirtschaft umschwenken.
Wo setzt die Anti-AKW-Bewegung jetzt an? Welche Perspektiven zeigen sich auf?
Wir, von den Südwest-Initiativen, fordern ganz klar die sofortige Abschaltung aller Anlagen, ohne jeden Kompromiss. Das Gefährdungspotential ist einfach zu hoch.
Wir diskutieren derzeit erweiterte Aktionsformen, die nicht nur am Ende der atomaren Kette ansetzen, wie etwa Blockaden der Castor-Transporte abgebrannter Brennstäbe, sondern am Anfang. Aktuell planen wir eine Abschaltblockade am laufenden AKW. In der Diskussion ist z.B. auch, jüngere Meiler, wie das Kernkraftwerk Neckarwestheim II zu blockieren. Das wäre ein neuer politischer Schritt, wo wir versuchen, den laufenden Betrieb durch eine direkte Aktion zum Erliegen zu bringen. Es wird möglicherweise Blockaden gegen das Wiederanfahren momentan abgeschalteter Altmeiler geben.
Welche Möglichkeiten ergeben sich für gewerkschaftlichen Protest – auch jenseits des DGB – und für betrieblichen Widerstand?
Letztendlich geht es immer um gesellschaftliche Lernprozesse, die sich auf die Frage beziehen: Wo verdiene ich mein Geld, wo arbeite ich? Wie kann ich selbst innerhalb meiner Produktionsverhältnisse eingreifen, um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen? Da gibt es viele Möglichkeiten, und es ist absolut zwingend notwendig, hier anzusetzen. Politische Streiks und/oder Aktionen in den Betrieben gegen den Weiterbetrieb von Atomanlagen – das wäre doch mal was…
Interview: Matthias Seiffert
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