Endgültiger Abschied vom 8-Stunden-Tag

Die Arbeits- und Sozialminister der EU haben sich im Juni
auf eine neue europäische Arbeitszeit- und Leiharbeitsrichtlinie geeinigt. Noch
vor Ende des Jahres soll diese Richtlinie dem EU-Parlament zum Beschluss
vorgelegt werden. Hintergrund der Maßnahme ist die Forderung der Unternehmer,
die bisherige Grenze der maximalen Arbeitszeit zu erhöhen und EU-weit
Arbeitszeiten von 60-65 Stunden und mehr zu ermöglichen. In Deutschland gilt
derzeit laut Arbeitszeitgesetz i.d.R. eine maximale Arbeitszeit von
durchschnittlich 48 Stunden pro Woche.

Ein Kernpunkt der Richtlinie betrifft den
Bereitschaftsdienst, bei dem zwischen „aktiver“ und „inaktiver“ Zeit
unterschieden werden soll. Der „aktive“ Teil der Bereitschaften, bei denen es
am Arbeitsplatz auch zum Einsatzfall kommt, wird auf die Arbeitszeit
angerechnet, der „inaktive“, bei dem kein Notfall eintritt, jedoch nicht. Damit
sollen zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofes ausgehebelt werden, der
Arbeitszeit als die Zeit definiert hatte, in der Beschäftigte am Arbeitsplatz
verfügbar sein müssen.

Außerdem soll die sog. „Opt-out-Regelung“ neu festgelegt
werden. Diese Vorschrift bestimmt, dass durch individuelle Vereinbarungen oder
Tarifverträge die maximale Wochenarbeitszeit von 48 auf 60 Stunden ausgedehnt
werden darf. In einem Referenzzeitraum von drei Monaten kann die wöchentliche Arbeitszeit für den einzelnen Arbeitnehmer so
auf 60 Stunden steigen. Wenn ein Teil der Arbeitszeit aus Bereitschaftsdiensten
besteht, sind sogar 65 Stunden zulässig. Tarifverträge können künftig sogar
noch längere Arbeitszeiten ermöglichen. (Für Ausführlicheres zur 65-Stundenwoche siehe „Geknechtetes Leben“, Direkte Aktion Nr. 189)

Verdi und die „Christen“ lauern schon

Während die Bosse die angeblich
freiwillige „Opt-out-Regelung“ durch Druck auf einzelne Beschäftigte erzwingen
können, benötigen sie für den Bereich der Bereitschaftsdienste die
Kollaboration von Gewerkschaften. Ohne Gewerkschaften, die bereit sind, ihre
Mitglieder und die unorganisierten Beschäftigten der Branche durch
entsprechende Tarifverträge zu verkaufen, hätten es die Bosse schwer.

Auf positive gesetzliche
Regelungen durch die CDU/SPD-Regierung brauchen wir nicht zu hoffen, ebenso
wenig auf die Anerkennung der „inaktiven“ Bereitschaft als Arbeitszeit durch
die „Sozialpartner“. Wenn es nicht zu einer Kampagne kommt, die die EU-Richtlinie
verhindert, bleibt noch die Möglichkeit, Tarifverträge abzuschließen, die
festlegen, dass jede Stunde, in der Beschäftigte am Arbeitsplatz zur Verfügung
stehen müssen, als reguläre Arbeitszeit gewertet und bezahlt werden muss.
Leider heißt die vorherrschende Gewerkschaft in vielen der betroffenen Branchen
Verdi, und die hat bei der Verschlechterung der Arbeits- und Lohnbedingungen in
der Leiharbeitsindustrie mitunter schon die christlichen Pseudo-Gewerkschaften
übertroffen.

Die Lage sieht also nicht sehr
erfreulich aus, sie lässt sich aber durchaus verbessern, wenn die Beschäftigten
eines Betriebes, z.B. einer Feuerwache oder einer Klinik, sich nicht bei Verdi
organisieren, sondern sich z.B. einem FAU-Syndikat anschließen. Mit etwas Mut
und einer Basisgewerkschaft, in der die Mitglieder selbst entscheiden, was sie
wollen, können die geplanten Verschlechterungen im Betrieb bekämpft und
vielleicht auch durch einen eigenen Kontrakt bzw. einen Haus- oder
Firmentarifvertrag verhindert werden.

„Man kann Arbeiter mieten, um
Arbeiter zu töten“ (Jay Gould, Finanzmann 1905)

Auch ohne neue Grausamkeiten ist
die heutige Arbeitsrealität nicht auszuhalten. Seit Jahren steigt der Druck ins
Maßlose: immer effizienter und schneller arbeiten, Dauerstress, Überstunden,
Nacht- und Schichtarbeit, Konkurrenzdruck, Überforderung durch Leistungsmenge,
Arbeitstempo oder Arbeitsinhalte, Steigerung der Produktivität um jeden Preis,
Weiterbildung in der Freizeit, unbezahlte Arbeit… Es ist eine Orgie der
sozialen Gewalt, der viele von uns täglich ausgesetzt sind. Die Folgen der
bisherigen Arbeitsbedingungen – auch ohne 65-Stunden-Woche und neue
Verschlechterungen – haben längst das Maß des Erträglichen überschritten.

Selbstmord durch Druck und
Leistungsterror am Arbeitsplatz ist ein Tabuthema in den Medien, obwohl täglich
Selbstmorde in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeit begangen werden. In
Japan gibt es dagegen einen feststehenden Begriff dafür: „Karoshi“ – Tod durch
Überarbeiten. Japanische Rechtsanwälte schätzen die Zahl der Tode durch
Überarbeiten auf bis zu 10.000 pro Jahr. In Deutschland nehmen sich pro Jahr
mehr als 11.000 Menschen das Leben. Wie viele dieser Selbstmorde durch Arbeit
verursacht werden, wird statistisch nicht erfasst.

Unser Nachbarland Frankreich, in
dem vergleichbare Arbeitsbedingungen herrschen, befindet sich bei diesem
traurigen Thema weltweit unter den Top 5. Seit Ende der 90er stieg die Zahl der
Selbstmorde am Arbeitsplatz in Frankreich. Der Wirtschafts- und Sozialrat geht
tiefstapelnd davon aus, dass jährlich 300 bis 400 Selbstmorde zumindest
teilweise auf als unerträglich empfundene Arbeitsbedingungen zurückzuführen
sind.

Travail suicidal

Im Jahr 2007 haben sich innerhalb
von drei Monaten sechs Mitarbeiter des Autoherstellers Peugeot-Citroën das
Leben genommen. Fünf von ihnen waren in Mülhausen beschäftigt, zwei brachten
sich dort am Arbeitsplatz um. Seit sich ein weiterer Arbeiter zur Mittagszeit
im Lagerraum des Montagewerkes erhängt hat, konnte die Geschäftsleitung nicht
mehr mit „persönlichen Problemen“ argumentieren. Wie andere Unternehmen
versucht auch Peugeot-Citroën, effizienter und schneller zu produzieren. Die
Steigerung der Produktivität um jeden Preis ist das Interesse. Jeden Monat
werden Stellen gestrichen. Wer öfter krank ist, bekommt einen Brief von der
Geschäftsleitung, in dem die Kündigung angedroht wird: „Ihre Abwesenheit stört
die Einheit unserer Fabrik“, heißt es in diesen Briefen, „wir fordern sie auf,
ihr Verhalten zu ändern.“

Im gleichen Jahr begingen auch
drei Mitarbeiter von Renault in einem kurzen Zeitraum Selbstmord. Die Männer
hatten unter massivem Druck am Arbeitsplatz gelitten, besonders seit ein
Sanierungsprogramm auf Kosten der Beschäftigten durchgepeitscht wurde. Ein
Suizidopfer sprang aus dem fünften Stock eines Werkes, ein anderes ertränkte
sich in einem nahen See.

Die Beispiele von KollegInnen, die
durch Arbeit in den Tod getrieben werden, ließen sich fortsetzen. Viel höher
ist aber die Anzahl unter uns, die nicht Selbstmord begeht, aber unter
schlimmen Krankheiten leidet.

Auch ohne die EU-Richtlinie müssen
wir schon jetzt mehr arbeiten, als erträglich ist. Das Interesse der
Unternehmer nach Steigerung der Produktivität um jeden Preis macht nicht Halt
vor unserer Gesundheit. Dem Thema psychische Erkrankungen durch Arbeit ist
daher die gegenüberliegende Seite gewidmet.

KC (FAU-Frankfurt a.M.)

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