Direkte Aktion gegen kapitalistische Zumutungen

Die enorme
Teuerung bewegt nicht erst in den letzten Wochen die Gemüter in Griechenland.
Seit Monaten ist sie das politische Thema und Hauptstreitpunkt zwischen der
konservativen Regierung unter Kóstas Karamanlís und den Oppositionsparteien. So
lagen die Preise im August um durchschnittlich 4,6% (EU-Mittel 3,6%) über denen
von August letzten Jahres. Die Teuerung bei Lebensmitteln liegt hierbei
vielfach noch deutlich über der Inflationsrate. Wohl auch deshalb sind
Banküberfälle, trotz des hohen Risikos, gefasst zu werden, noch immer nichts
Ungewöhnliches in Athen. Seit einigen Monaten wird nun eine weitere Form der
Enteignung – oder besser: der Wiederaneignung gesellschaftlichen Reichtums –
immer populärer.

Anfang Oktober
war es wieder so weit, diesmal in der nordgriechischen Metropole Thessaloniki.
Ungefähr zwanzig vermummte Personen stürmten gegen Mittag einen Supermarkt,
verließen ihn kurz darauf mit vollen Einkaufswagen, ohne zu bezahlen, und
verschenkten die erbeuteten Lebensmittel an die AnwohnerInnen. Vor allem in
Athen hatten in den letzten Monaten wiederholt unbewaffnete Vermummte
Supermärkte gestürmt, Lebensmittel ins Freie geschleppt und an die Bevölkerung
verteilt. Die „Robin Hoods der Supermärkte“ oder „Supermarkt-Phantome“, wie sie
von den Medien getauft wurden, protestieren auf diese Art gegen die
galoppierenden Preissteigerungen.

Erstmalig hatten
die „Robin Hoods“ am 31. Mai zugeschlagen. Seitdem gab es jeweils bei großen
Supermärkten eine ganze Reihe solcher Enteignungsaktionen. Diese laufen im
Wesentlichen immer gleich ab. Zwanzig bis dreißig Leute, teilweise vermummt,
dringen in den Supermarkt ein, füllen Einkaufswagen und Rucksäcke mit Nudeln,
Reis, Öl, Milch und anderen Grundnahrungsmitteln und verteilen sie an die
Leute, die draußen am Einkaufen sind. Wenn die Polizei kommt, sind sowohl die
erbeuteten Lebensmittel als auch die AktivistInnen längst verschwunden. Nach
der Aktion in Thessaloniki zitierte ein Rundfunksender den Polizeisprecher
damit, dass „sie nie Geld gestohlen oder jemandem verletzt haben. Sie bitten
die Leute nur ruhig zu bleiben.“

Zornige
Konsumenten

Dass die
AktivistInnen bisher immer unbehelligt flüchten konnten, liegt auch an den gut
gewählten Orten ihrer Aktionen. Die werden immer in Arbeiter- und
Migrantenvierteln durchgeführt, und zwar an den Tagen der wöchentlich
stattfindenden Straßenmärkte, auf denen immer extrem viel Publikumsverkehr ist.
Diese sog. Volksmärkte sind Gemüse- und Kleinartikelmärkte in den einzelnen
Stadtteilen und sehr populär in Griechenland. Die Stimmung dort ist auch ein
Barometer für die Stimmung in der Bevölkerung, aktuell für die Unzufriedenheit
der Leute wegen der Teuerung, den Sozialkürzungen und den sinkenden Reallöhnen.
Angesichts dessen kommen die Enteignungsaktionen gegen die Supermarktkonzerne
unerwartet gut an. Die Leute geben positive Kommentare ab und nach wenigen
Minuten sind die Einkaufswagen leer geräumt. Während die „Robin Hoods“ die
erbeuteten Waren verteilen, skandieren sie Parolen gegen die steigenden Preise
und werfen Flugblätter in die Luft:

„In letzter Zeit
sind wir Zeugen eines Phänomens, das Bestandteil der Taktik der Kapitalisten
ist. Unter dem Vorwand, der freie Markt erfordere es, werden
Grundnahrungsmittel zu extrem hohen Preisen verkauft. Es ist derselbe freie
Markt, der uns zwingt, unser halbes Leben für 600 Euro im Monat in den Kerkern
der Lohnsklaverei zu verschwenden. Hier produzierte Lebensmittel kosten in
Griechenland doppelt so viel wie in anderen europäischen Ländern. Die Regierung
spricht von einzelnen Spekulanten und versucht mit lächerlichen Tricks den
sozialen Zorn zu beschwichtigen. Die politischen Parteien und die Medien klagen
den unkontrollierten Kapitalismus an, fordern die Isolierung von Spekulanten
und heben die Bedeutung des Konsumbewusstseins durch den Boykott teurer
Produkte hervor. Da wir uns weigern, das Spiel mitzuspielen, ergreifen wir
unsere eigenen Maßnahmen gegen die Teuerung. Enteignung aller von uns
produzierten Produkte! Alles ist geklaut, alles gehört uns! Zornige
Konsumenten.“

Weil die Preissteigerungen
über Monate ein zentrales Thema der Massenmedien waren, haben die
„Supermarkt-Phantome“ auch dort ziemlichen Widerhall gefunden. Da es sich um
AnarchistInnen handelt, die in bürgerlichen Medien zumeist als „Krawallmacher“
verleumdet werden, wird mit einer gewissen Verlegenheit über die gelungenen
Enteignungen berichtet. Denn inzwischen ist Sendern und Zeitungen klar, dass
solche Aktionen auf große Sympathie ihres Publikums stoßen. Folgerichtig hat
der Präsident der Supermarkt-Vereinigung TV-Sendern im Sommer mit Strafanzeige
gedroht, sollten sie erneut über die Aktionen berichten. Geteilt wird die
Befürchtung der Polizei, dass die Berichterstattung zur Nachahmung anregen
könnte.

Ralf Dreis (Lokalföderation Rhein/Main)

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