Prinzip der Selbstverwaltung

Mit diesem Artikel schließen wir die vierteilige Reihe über
die Bedingungen, unter denen Klassenkämpfe in Mexiko stattfinden.(1) Zum
Abschluss wollen wir der Frage nachgehen, was wir hier in Mitteleuropa von den
Kämpfen in Mexiko lernen können. Wo liegen gemeinsame Möglichkeiten, wo
Unterschiede in den Bedingungen des Klassenkampfes?

Palette der Gewerkschaften

Das mexikanische Gewerkschaftssystem beruht auf vollkommen
anderen Voraussetzungen als das deutsche. Mexiko hat drei gleichermaßen
konservative und an dieselbe Partei gebundene Dachverbände, deren Einfluss auf
die ca. 9.000 angeschlossenen Betriebsgewerkschaften, die eher die Aufgaben
hiesiger Betriebsräte übernehmen, oft massiv überschätzt wird. Wir dagegen sind
in der Regel mit einem einzigen, weitestgehend an die Sozialdemokratie angelehnten
Einheitsverband konfrontiert, dessen politischer Einfluss auf die lokalen
Untergliederungen aber wesentlich stärker ist. Die meisten unabhängigen
Gewerkschaften Mexikos agieren im Wesentlichen der DGB-Praxis ähnlich. Dass
eine Gewerkschaft unabhängig ist, muss dabei nicht zwangsläufig heißen, dass
sie die bessere Wahl für die ArbeiterInnen ist. Die mexikanische
Gewerkschaftsforscherin Cirila Quintero Ramírez unterscheidet daher auch in
unabhängige und sich unterordnende Gewerkschaften statt in korporatistische(2)
und unabhängige. Zweite agieren im Sinne des Kapitals, fungieren also
letztendlich als gelbe Gewerkschaften wie hierzulande AUB, CGB u.ä.

Auf verschiedene Weisen und in verschiedener Intensität sind
die meisten mexikanischen wie die deutschen Gewerkschaften korporatistisch; sei
es durch eine Arbeitsgemeinschaft mit regierenden Parteien, mit dem Kapital
oder mit beiden. Im Unterschied zur Situation in Deutschland war der
Korporatismus in Mexiko bis 2000, so lange die PRI regierte, Staatsdoktrin,
auch wenn diese bereits seit den frühen 1980ern an Einfluss verlor. Dennoch
gilt für beide Staaten: Die meisten Gewerkschaften stehen einer großen Partei
nahe und fast alle agieren im Sinne einer „Sozialpartnerschaft“. Mit dem Ende
der Alleinherrschaft der PRI haben sich die korporatistischen Gewerkschaften im
Rahmen eines „Neokorporatismus“ neue politische Bündnispartner gesucht; auch
der unabhängige Dachverband UNT steht der PRD nahe.

Für ArbeiterInnen, die den unerbittlichen Klassenkampf als
solchen ansehen und sich an Selbstverwaltung und innergewerkschaftlicher
Demokratie orientieren, sind die meisten dieser Gewerkschaften keine Wahl. Dem
ist hier wie dort eine Syndikalisierung (im Sinne einer Orientierung auf den
proletarischen Alltag) entgegenzusetzen. Mexikanische Gewerkschaften sind immer
dann am stärksten, wenn sie sich auf ihren Betrieb und ihre Region
konzentrieren. Gewerkschaftliche Arbeit in einem anarchosyndikalistischen Sinne
leisten deswegen am ehesten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie z.B. das CETLAC
in Ciudad Juarez, das CAT in Puebla oder das CFO entlang der
amerikanisch-mexikanischen Grenze. Die Praxis dieser NGOs kommt der Idee des
Anarchosyndikalismus am nächsten. Den Titel „Gewerkschaft“ bekämen sie in
Mexiko aber erst, wenn sie von staatlichen Gremien anerkannt und die Funktion
der Betriebsgewerkschaften ausüben würden, also zwangsläufig korporatistisch
werden müssten.

Das Syndikat ist nicht die Mafia

Im Verständnis der mexikanischen Bevölkerung sind die
Begriffe „Gewerkschaft“ (sindicalismo) – was vor allem mit mafiösen
Funktionärsapparaten verbunden wird – und „Arbeiterselbstverwaltung“ weit
voneinander entfernt. Es ist kein Wunder, dass an den Arbeitertreffen der von
der EZLN initiierten „Anderen Kampagne“(3) keine Gewerkschaften und nur
vereinzelt GewerkschaferInnen teilnehmen. Der Haken besteht darin, dass die
Basis der EZLN in erster Linie aus Kleinbauern -bäuerinnen besteht, weniger aus
ArbeiterInnen; die Inhalte der EZLN-Organisierung bieten Letzteren nur wenige
Perspektiven. Denn, zugespitzt formuliert, das Konzept der EZLN sieht eine
Nutzung der Arbeitermacht ihrer Basis nicht vor.(4) Doch immerhin orientiert
sich die EZLN an den Interessen ihrer Basis, und dieses Prinzip wäre auf
proletarische Organisationen zu übertragen.

In Deutschland wiederum ist es so, dass der Begriff
„Gewerkschaft“ zwar hauptsächlich mit dem korporatistischen DGB-Konzept
verbunden wird, von dem nicht wenige enttäuscht sind, doch im Gegensatz zu
Mexiko ist der Begriff nicht so diskreditiert. Wie in Mexiko, so erscheint auch
hier die Organisierung der von den korporatistischen Gewerkschaften
Enttäuschten in selbstverwalteten Strukturen notwendig. Hier gilt es, neue
Perspektiven zu eröffnen – insbesondere in den organisatorisch unerschlossenen
Bereichen. Was in Mexiko die Maquiladoras sind, sind hier die CallCenter und
Leiharbeitsklitschen.

Eben diese Bereiche sind es aber, in denen die Arbeitermacht
recht gering ist. Strategische Bündnisse sind notwendig, selbst wenn sie nicht
in den eigenen Ideologie-Kosmos passen. Das Rechtssystem und die politische
Schicht müssen im Sinne der arbeitenden Klasse weitestgehend genutzt werden.
Konsumentenmacht und Medienmacht – das zeigen z.B. die Aktionen gegen den
Kaffeeriesen Starbucks – sind zwar nicht gleich Arbeitermacht, werden aber
gerade dort strategisch benötigt, wo letztere gering ist. Nicht im politischen
Sinne, sondern basierend auf der gemeinsamen Erfahrung der Ausbeutung ist hier
eine internationale Solidarität erst aufzubauen.

Eine syndikalistische Alternative zum DGB muss auch die
Formierung von Genossenschaften fördern. Solidarische Ökonomie ist möglich und
vor allem oftmals für die eigene ökonomische Existenz notwendig. In Folge von
Hartz IV sind Genossenschaftsgründungen auch in der BRD im Kommen. Die FAT
macht in Mexiko einen gemeinsamen Dachverband von Genossenschaften,
Gewerkschaften und Vereinen im Sinne des Syndikalismus vor. Diese Praxis, die
nicht nur dem real existierenden Proletariat eine Perspektive bietet, sondern
auch denjenigen, die einen Weg heraus gefunden haben – oder gefunden zu haben
meinen – muss sich etablieren. Es gilt, die Idee des gemeinsamen Eigentums an
Produktionsmitteln wieder modern zu machen – hier wie in Mexiko.

Torsten Bewernitz

 

Anmerkungen

  1. Die ersten drei Teile finden
    sich in der Direkten Aktion, Nrn. 187-189.
  2. Korporatismus bezeichnet ein System der
    Interessenvermittlung zwischen ArbeiterInnen und Bossen mit dem Staat, das
    nicht durch Konkurrenz/Konflikt, sondern durch Aushandlungsmechanismen geprägt
    ist. Im Interesse der Nationalökonomie („Standort“) soll so möglichst
    reibungslos eine Einigung bei Interessengegensätzen erzielt werden.
    Voraussetzung dafür ist ein Repräsentationsmonopol der vertretenen Verbände,
    die die Verhandlungsergebnisse gegenüber ihren Mitgliedern von oben
    durchsetzen. Vorbild für den klassischen Korporatismus war der italienische
    Faschismus.
  3. In der „Anderen Kampagne“,
    welche die EZLN im Juni 2005 angestoßen hatte, sind über 1.000 Organisationen
    zusammengeschlossen, um „von unten und für unten“ eine neue,
    antikapitalistische Verfassung für Mexiko zu erarbeiten. Die
    außerparlamentarische Mobilisierung hat den hohen Anspruch, in einem mehrjährigen
    Prozess alle marginalisierten Gesellschaftssektoren zu vernetzen und mit dem
    kapitalistischen System „Schluss zu machen“.
  4. Die wildcat (Nr. 82, S.
    9) kritisierte z.B. kürzlich eine zu wenig an den Erfahrungen mit ländlicher
    und urbaner Lohnarbeit orientierten Politik der EZLN, die stattdessen das
    Bündnis mit politischen Bewegungen suche.

 

Glossar

AUB – Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsräte

CAT – Centro de Apoyo des Trabajadores

CFO – Comité Fronterizo de Obrer@s

CETLAC – Centro de Estudios y Taller Laboral

CGB – Christlicher Gewerkschaftsbund

DGB –  Deutscher
Gewerkschaftsbund

EZLN – 
Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung

FAT – Frente Autentico de Trabajo

PRD – Partido de la Revolución Democrática

PRI – Partido Revolucionario Institucional

UNT
Unión Nacional de Trabajadores

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