Ver.dis Scherbengericht

Eigentlich weiß in Berlin so recht
niemand zu sagen, ob der Streik im öffentlichen Nahverkehr nun doch
noch richtig losgeht oder endgültig im Sande verläuft. Zunächst
hatten sich die Unterhändler von ver.di und der Berliner
Verkehrsgesellschaft (BVG) auf einen schäbigen Kompromiss
verständigt, der die Streikführer nicht einmal das Gesicht waren
ließ. Als daraufhin die Straßenbahn sowohl unangekündigt wie
völlig unerwartet einen Tag lang bestreikt wurde, war die Verwirrung
groß. Sollte etwa das für deutsche Verhältnisse Unerhörte
eingetreten sein, ein wilder Streik? Aber nein, weit gefehlt. Eher
schon ein wirrer Streik, eine verzweifelte Tat einer Gewerkschaft,
die nie eine sein wollte und den Streik auf dem Müllhaufen der
Geschichte verortete und es nun mit einem Gegner zu tun hat, der
trotzig die Arme verschränkt und hämisch lächelnd sagt: „Nö,
mach ick nich’“.

Es war Finanzsenator Sarrazin, in der
Funktion als oberster Boss der BVG derjenige, der das letzte Wort
hat, der den Daumen nach unten streckte und ihn unbeirrt in dieser
Position verharren lässt. Ganz offensichtlich deshalb, weil er ganz
genau begreift, dass ver.di nicht mehr weiter weiß. Warum sollte man
jetzt auch nur auf die winzigste Forderung eingehen? Sarrazin mag
vieles sein, provokant, unsympathisch, ein kleiner
Schreibtisch-Noske, dumm ist er ganz bestimmt nicht. Es wäre mehr
als überraschend, wenn er die sich am Boden windende Gewerkschaft
nicht treten würde, bis sie vollends gedemütigt ist. Sarrazin ist
jemand, dem sowas Freude bereitet.

Doch in dem vorliegenden Prozess ist
der Charakter Sarrazins eine Nebensächlichkeit, und der peinlich
hilflose Auftritt ver.dis verblasst in Anbetracht der Konsequenzen,
die folgen könnten. Der Streik bei der BVG war ein Schritt, zu dem
sich ver.di gezwungen gesehen hatte, um ihre Daseinsberechtigung zu
reklamieren. Sie befindet sich schon lange in der Defensive. Die
Mitglieder laufen ihr weg. Und während sich ver.di verzweifelt wie
vergebens müht, den Kolleginnen und Kollegen zu vermitteln, welchen
Nutzen sie von einer Mitgliedschaft hätten, erregen unabhängige
Kleingewerkschaften mit trutzigem Streikgebaren öffentliches
Aufsehen und ernten Sympathien. Der Streik bei der BVG sollte ein
Befreiungsschlag werden, gerade noch rechtzeitig, bevor die im
Nahverkehr Beschäftigten reihenweise zur GDL überlaufen.
Stattdessen droht Verdi nun ein fulminantes Fiasko, an dessen Ende
die schlimmsten Befürchtungen wahr werden könnten und der DGB-Riese
vor dem Aus steht. Ver.di, streikwie kampfunerfahren, hat sich in
Berlin bei der BVG und bundesweit im öffentlichen Dienst so weit aus
dem Fenster gelehnt, dass es kein Zurück mehr gibt. Es bleibt ihr
nur noch die Wahl, auf einen notfalls langen und erbitterten
Arbeitskampf zu setzen, mit der Gefahr, auch die letzten Sympathien
in der Öffentlichkeit zu verlieren und der GDL eine Steilvorlage zu
liefern.

Es gibt soetwas wie eine Physik der
Macht, eine fast schon naturwissenschaftlich erfassbare innere Logik,
derzufolge ein Machtvakuum früher oder später von neu auftretenden
Kräften ausgefüllt wird. Wenn ein organisatorischer Riese wie
ver.di zerbricht – und dies wäre mittelfristrig die logische
Konsequenz, sollten den vollmundigen Streikvorhaben keine adäquaten
Abschlüsse folgen –, wird sein Platz nicht ewig verwaist bleiben.

Ver.di war das Zukunftsmodell des DGB
schlechthin, ein Vorbild, nach dem sich schließlich alle
Branchengewerkschaften ausrichten sollten. Mit ver.di würde der DGB
selbst und sein scheinheiliges Konzept der unpolitischen
Einheitsgewerkschaft scheitern. Mögen die Funktionäre von IG Metall
und Konsorten auch noch so oft gebetsmühlenartig mit dem Zeigefinger
vor französischen Verhältnissen warnen, ihre Behauptung, eine in
Richtungsgewerkschaften „zersplitterte“ Arbeiterschaft sei
schwach und eine unter sozialpartnerschaftlichen Prämissen von oben
geeinte stark, wird dadurch nicht richtiger. Dem DGB gelingt es nicht
einmal, bisher Errungenes zu verteidigen und Lohnhöhen der
Teuerungsrate anzupassen. Da drängt sich fast schon die Ansicht auf,
dass jede wie auch immer neugestaltete Gewerkschaftslandschaft besser
wäre als der in Agonie erstarrte zahnlose Tiger DGB.

Matthias Seiffert

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