Die Verformung der Gewerkschaften

Betriebsratswahlkampf 2008 in Frankreich ©Whisperpress

Die Ordnung in der
Bundesrepublik Deutschland hat Vorbildcharakter in Europa. Oder
anders formuliert: sie setzt sich durch. Und zwar nicht nur in Sachen
Wirtschafts- und Sparpolitik. Auch der rechtliche Rahmen für
Gewerkschaftsaktivitäten mausert sich zum Exportschlager, so zum
Beispiel in Frankreich. Zwar ging die Krise im vergangenen Jahr mit
massiven Demonstrationen einher, die eine oder andere Belegschaft mag
zu rabiateren Methoden wie dem Bossnapping gegriffen haben, das auch
in diesem Jahr wieder zunimmt, aber letztlich ist das nichts neues.
Seit 1995 werden viele Kämpfe vor Ort von den Vollversammlungen der
Basis kontrolliert und von Entlassung bedrohte Beschäftigte drohen
seit gut zehn Jahren mit drastischen Maßnahmen. Das Motto der
Zentralgewerkschaften lautet indes: Aktionstage statt Generalstreik.
So zahlt sich aus, dass Präsident Sarkozy die zwei größten
Gewerkschaften CGT und CFDT, trotz aller Polemik, zu privilegierten
Gesprächspartnern auserkoren hat.

Relikte des Fordismus

Im Dschungel der
Arbeitswelt tatsächlich ein klares Kräfteverhältnis aufzubauen,
ist auch mit einem liberalen Streikrecht (siehe Randspalte) noch
lange kein Selbstläufer. Insbesondere in kleinen und mittleren
Privatunternehmen sind die Gewerkschaften oft weit davon entfernt,
auf eine solide Basis bauen zu können. Daraus entspringt die hohe
Bedeutung des rechtlichen Rahmens – im Guten wie im Schlechten. Auf
der institutionellen Haben-Seite existieren drei Ebenen: in Firmen
mit bis zu zehn Beschäftigten gibt es keine besonderen Rechte. Über
dieser Schwelle ist die Wahl eines Belegschaftsvertreters
vorgeschrieben. Bei über 50 Beschäftigten kommt es zur Wahl eines
Betriebskomitees, das die befriedende Funktion, allerdings nicht die
Kompetenzen eines bundesdeutschen Betriebsrates hat. In Betrieben
dieser Größe ist auch die Benennung eines Gewerkschaftsdelegierten
vorgesehen, der Betriebsvereinbarungen unterzeichnen kann.

Um auf diesen Ebenen zu
agieren, muss eine Gewerkschaft „repräsentativ“ sein – ein
rechtlicher Status, der in etwa der hiesigen Tariffähigkeit
entspricht. Daran sind einige Rechte geknüpft, die das
gewerkschaftliche Agieren im Betrieb erleichtern, wie etwa schwarze
Bretter, Bewegungs- und Informationsfreiheit sowie Sprechstunden im
Betrieb. In den Genuss dieser Rechte kommt eine Betriebsgruppe meist
nur, wenn sie einer der fünf großen, per Dekret als repräsentativ
angesehenen Organisationen angehört. Alle anderen haben sich darauf
einzustellen, ihren Gewerkschaftscharakter vor Gericht belegen zu
müssen – sei es auf Bestreben der Bosse oder anderer
Gewerkschaften.

Die Postmoderne:
Gewerkschaft als Wahlmaschine

Damit ist nun Schluss.
Als Vertreter einer kraftstrotzenden Rechten mit dem Willen zum
Durchregieren, kündigte Nicolas Sarkozy (Präsident seit Mai 2007)
an, die verkrustete Gewerkschaftslandschaft aufzubrechen. Bereits im
August 2007 – im Sommer ist die Mobilisierungskraft wegen der
großen Ferien praktisch gleich Null – schränkte die Regierung mit
dem „Minimaldienstplan“ das Streikrecht der Arbeiter im Zug- und
Busverkehr sowie in den Grundschulen stark ein.

Dann im August 2008 der
große Wurf: die Reform der Repräsentativität und
Kollektivverträge. Von nun an gilt keine Gewerkschaft mehr per se
als repräsentativ. Alle können gleichermaßen vor Gericht gezerrt
werden. Der Kern der Reform sind neue Kriterien für die
Repräsentativität: An die Stelle der „patriotischen Gesinnung
während des deutschen Okkupation“ etwa tritt die Treue zu nicht
näher bestimmten „republikanischen Werten“. Außerdem wird die
Teilnahme an den Betriebswahlen zur Pflicht. Ab 2013 müssen alle
Gewerkschaften belegen, dass sie unter den Beschäftigten auf
Zustimmung zählen können. Und die Unterzeichner eines
(Haus-)Tarifvertrags müssen mindestens 30 Prozent der Stimmen auf
sich vereinigen; bisher hatte es ausgereicht, dass eine der
offiziellen Gewerkschaften den Vertrag unterschreibt.

Der regierenden Rechten
ging es dabei nicht um die Abschaffung von Privilegien der Apparate.
Vielmehr, so befürchtet der Fachhistoriker Dominique Andolfatto in
dem Magazin Marianne, „wird [die Reform] die Gewerkschaften
in reine Wahlmaschinen verwandeln.“ Einigen Branchenföderationen
der „großen“ Verbände droht der Statusverlust. Das schafft
einen bisher ungekannten Fusionsdruck und einen Konzentrationsprozess
in den Branchenverhandlungen. Profitieren werden die Apparate der
größten: CGT und CFDT. Zusammen mit den Wahlen zu den paritätisch
besetzten Arbeitsschöffengerichten stehen nun also regelmäßig zwei
Wahlzyklen an. Der Verparteiisierung der Gewerkschaften ist somit Tür
und Tor geöffnet.

Zuckerli:
Chancengleichheit im Betrieb

So verheerend sich die
Reform auf die Zentralstrukturen auch auswirken dürfte, für die
anarchosyndikalistische CNT, die sich auf Aktivitäten im Betrieb
konzentriert, bietet sie eine Erleichterung. Für die Zeiten zwischen
den Wahlen werden die betrieblichen Grundrechte auch
nicht-repräsentativen Gewerkschaften eingeräumt. Die CNT muss nicht
mehr – wie zuvor – erst im Geheimen eine Aktivität entfalten, um
ihre Existenz notfalls vor Gericht belegen zu können.

Politisch positioniert
sich die CNT gegen die Reform, insbesondere weil die Wahlteilnahme
zwingend erforderlich ist und den Apparaten dadurch einen legitimeren
Anstrich verpasst. Praktisch aber kann sie dagegen nichts ausrichten
und ist darauf bedacht, die Chancen, die sich ihr bieten, zu nutzen.

Widerstand regt sich
ansonsten allein vor Gericht. Denn die größten Verbände haben kein
Interesse, die Reform zu kippen. Und die kleineren – wie z.B. FO
und SUD – sind dazu nicht stark genug. Hinzu kommt die Konkurrenz
unter den Gewerkschaften, die dazu führte, dass sich beispielsweise
FO in einem Fall auf Seiten des Unternehmers stellte. So zog sie die
legale Verankerung einer Sektion des Handelssyndikats (SCIAL) der CNT
Paris in Zweifel. Schließlich wolle die CNT „den Staat abschaffen“
und zolle daher den „republikanischen Werten“ keinen Respekt. Die
erste Instanz stellte indes fest, dass die „republikanische
Ordnung“ im wesentlichen in der „Souveränität des Volkes“
besteht. Die Abschaffung des Staates ist damit durchaus vereinbar und
schließlich stellt auch die revolutionäre Charta von Amiens ein
grundlegendes Dokument der französischen Gewerkschaftsbewegung dar.
Der Revisionsprozess steht noch aus.

André
Eisenstein, STICS 13 CNT

 

Liberaler Rahmen –
doch der Teufel steckt im Detail

Trotz einer großen
Gewerkschaftspluralität liegt der Organisationsgrad in Frankreich
mit etwa acht Prozent weit unter dem europäischen Durchschnitt. Die
Funktionärsdichte hingegen soll im Verhältnis zur Mitgliederzahl zu
den höchsten gehören. Gründe dieser Schwäche gibt es viele. Dabei
könnte es so einfach sein, denn streiken ist ein Grundrecht.
Beschäftigte in der Privatwirtschaft können legal streiken, sobald
sich zwei von ihnen zusammentun – auch ohne Gewerkschaft. Allein im
Öffentlichen Dienst braucht es zum Streik eine „Vorankündigung“
von fünf Tagen, und zwar von einer repräsentativen Gewerkschaft.
Allgemein gilt außerdem, dass keine Friedenspflicht existiert;
sollte sie dennoch im Tarifvertrag stehen, ist sie nicht
rechtswirksam. Darüber hinaus sind in allen Betrieben mit
Gewerkschaftspräsenz alljährlich Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen
gesetzlich vorgesehen. Soweit zur Theorie.

 

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