Ruhrgebiet 1920: Die Märzrevolution

ArbeiterInnen bildeten in den Städten spontan die sogenannten ArbeiterwehrenDer schon am 13. März 1920
unternommene Versuch konservativer und präfaschistischer Kräfte,
die Weimarer Republik durch Einsetzen eines autoritären Regimes in
Berlin frühzeitig abzuschaffen, ging als „Kapp-Putsch“ in die
Geschichte ein. Der daraufhin ausgerufene Generalstreik, der einzige
landesweite politische Generalstreik Deutschlands, ließ den Putsch
binnen zwei Tagen zusammenbrechen. Im Ruhrgebiet kam es währenddessen
zu einem Aufstand der Arbeiterschaft von enormem Ausmaß, der erst
Wochen später durch massiven Einsatz von Reichswehr und Freikorps
niedergeschlagen werden konnte. Noch während des Aufstands versuchte
die Arbeiterschaft, das Leben im Ruhrgebiet selbst neu zu gestalten.

Die Novemberrevolution von 1918 brachte
den Menschen besonders im Ruhrgebiet nur verhältnismäßig geringe
Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Vor allem im
Bergbau standen, im Rahmen der aufkeimenden „Sozialpartnerschaft“,
die weitreichenden Zugeständnisse der großen Zentralgewerkschaften
der Armut einer bei härtester Arbeit notleidenden Arbeiterschaft
gegenüber. Die Enttäuschung darüber führte dazu, dass einerseits
die Zentralgewerkschaften viele Mitglieder verloren, und dass
andererseits, wie in Hamborn und Mülheim, die Syndikalisten großen
Zulauf hatten. Es entstand eine starke Streikbewegung, die viele
wilde Streiks und auch neue Aktionsformen hervorbrachte. Dem
Kontrollverlust über die äußerst heterogene Masse der
Arbeiterschaft versuchte die Reichsregierung mit militärischer
Gewalt beizukommen. So waren die Menschen vom offenen Kampf und Hass
auf das Militär geprägt, als am 13. März 1920 die Nachricht vom
Rechts-Putsch eintraf.

Freiwillige Arbeiter die sich spontan der Ruhrarmee gegen den Kapp-Putsch anschlossen.

In den Städten des Reviers reagierte
die Arbeiterschaft auf den Putsch zunächst mit der Bildung von
Aktionsausschüssen oder Vollzugsräten, um die örtlichen Behörden
zu kontrollieren. In diesen meist aus Funktionären der
Arbeiterparteien und Gewerkschaften zusammengesetzten Gremien bestand
Einigkeit darüber, dass der Putsch mit dem jetzt durchzuführenden
Generalstreik abgewehrt werden müsse. Darüber hinaus gab es jedoch
sehr unterschiedliche Zielsetzungen: Reichspräsident Friedrich Ebert
und der regierenden Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD)
lag an dem Erhalt der Weimarer Republik. Dem schlossen sich der
Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) sowie die
Arbeitsgemeinschaft für Angestellte (AfA) und der Deutsche
Beamtenbund an. USPD und KPD forderten dagegen den Rücktritt der
Ebert-Noske-Regierung und die Machtübernahme durch die
Arbeiterschaft, die „Diktatur des Proletariats“. Auch die FAUD
machte ihren in der Streikbewegung stark gewachsenen Einfluss geltend
und trieb insbesondere die sofortige Sozialisierung und Übernahme
der Betriebe voran.

In vielen Städten kam es zu
verstärkten Auseinandersetzungen der Arbeiterschaft mit der Polizei,
den Einwohner- und Sicherheitswehren. Es entstanden bewaffnete
Arbeiterwehren, die die Einwohnerwehren und die Polizei entwaffneten.

Kampf der Roten Ruhr-Armee

Ruhrarmisten an einer Straßensperre

Am 14. März entsandte der für das
Ruhrgebiet zuständige Befehlshaber der Reichswehr, General von
Watter, Teile des Freikorps Lichtschlag in die Stadt Wetter, um dort
eine vermeintlich ausgerufene Räterepublik und einhergehende
Plünderungen zu stoppen. Der Führer der etwa 130 in Wetter
eintreffenden Soldaten erklärte sich, wie viele andere militärische
Verbände auch, für die Putschisten. Es kam zum ersten Kampf mit der
örtlichen Arbeiterwehr, viele Menschen aus der Umgebung kamen zu
Hilfe und die Soldaten wurden in kürzester Zeit entwaffnet.

Ähnlich verlief es am nächsten Tag in
Herdecke und Kamen. Eine spontan in Hagen entstehende zentrale
militärische Leitung der Arbeiterschaft sandte Kompanien Bewaffneter
den Truppen entgegen: Die Rote Ruhrarmee.

Mitglieder der Ruhrarmee beim Sammeln.

Die Putschisten in Berlin kapitulierten
am 17. März und die Regierung forderte noch am selben Tag den
Abbruch des Generalstreiks. Da dies den Verzicht auf den weiteren
bewaffneten Kampf bedeutet hätte und keine wirtschaftlichen und
politischen Zugeständnisse gemacht worden waren, kamen die
Streikenden dieser Aufforderung nicht nach. Stattdessen traten bis
zum 29. März mehr als 330.000 Menschen in den Streik und die auf
80.000 bis 120.000 Menschen stetig gewachsene Rote Ruhr-Armee
gliederte sich in mehrere Gruppen auf, die bis zum 23. März ein
Gebiet noch über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus „eroberte“,
indem sie Militär und Polizei entwaffnete und vertrieb.

Verhandlungen und „weißer Terror“

Inzwischen waren aus dem gesamten Reich
Truppen in Richtung Ruhrgebiet unterwegs. Teile der
Reichstagsfraktion bestanden auf einer Verhandlungslösung dieser
Situation, also wurden Vertreter der am Aufstand beteiligten Gruppen
zu einer Konferenz nach Bielefeld eingeladen, um über Möglichkeiten
der Beendigung des bewaffneten Kampfes zu verhandeln. Am 24. März
wurde mit Vertretern einiger Gruppen ein Abkommen getroffen, das
zunächst einen Waffenstillstand vorsah, weiterhin die Pflicht zur
Waffenabgabe der Arbeiterschaft, das Versprechen zur Auflösung der
Putschtruppen, Garantien für die Inangriffnahme der Sozialisierung
der dafür reifen Betriebe sowie die Pflicht zur Wiederherstellung
der verfassungsmäßigen Zustände im Revier bis zum 31. März. Hier
begann die niemals einheitliche Bewegung zu zerbrechen. Während z.B.
die Hagener Zentrale auf der Einhaltung des Abkommens bestand, wollte
man in Mülheim den Kampf mit allen Mitteln fortsetzen. In der Kürze
der Zeit war eine Einigung und somit eine Einhaltung des Bielefelder
Abkommens nicht möglich.

Krankenschwestern mit Rotarmist

Auf Befehl der Reichsregierung
marschierten am 1. April Soldaten und Söldner in das Ruhrgebiet ein.
Darunter waren auch jene Freikorps und Reichswehreinheiten, die kurz
zuvor in Berlin den Putsch unterstützt hatten. Die Militärs gingen
mit äußerster Brutalität vor, darunter besonders die Freikorps.
Durch das Erschießen „Flüchtiger“, durch Standgerichte,
Verstümmelungen und Ermordungen kamen weit mehr Menschen ums Leben
als in den gesamten vorherigen Kämpfen: Der „weiße Terror“.

Bis zum 19. April war das gesamte
Gebiet wieder in der Hand der Regierungstruppen.

Hinter der Front begann die Arbeit
erst

Das Besondere dieses Aufstands sind die
Versuche, das Leben nach der Vertreibung Militär und Polizei selbst
neu zu organisieren.

Zunächst
seien hier die
Aktionsausschüsse
und Vollzugsräte genannt: Zu deren selbstgestellten Aufgaben gehörte
die Übernahme der lokalen Verwaltung, die Bewaffnung der
Arbeiterschaft, die Entwaffnung der reaktionären Bürger und in den
ersten Tagen auch die Verhaftung und Vernehmung der bekannten
Mitglieder der Einwohnerwehren und Freikorps, die sich besonders
brutal am Kampf gegen die Arbeiterschaft beteiligt hatten. Des
Weiteren musste die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln,
die Entlohnung der Vollzugsräte und der Arbeiterwehren und vieles
mehr organisiert werden.

Schon
zu Beginn der Kämpfe hatten die Aktionsausschüsse in einigen
Städten wichtige Hoheitsrechte der Verwaltung übernommen. Dies
erforderte nicht nur Fachwissen, vor allem trafen hier verschiedene
Vorstellungen aufeinander. Der Mülheimer Vollzugsrat bezeichnete es
als seine Aufgabe, den alten reaktionären Beamtenapparat zu
reorganisieren. Die Vertreter der Betriebsbelegschaften wurden
aufgerufen, nur solche GenossInnen in den Vollzugsrat zu wählen,
welche in den Unterkommissionen ihre Posten ausfüllen könnten und
sich durchzusetzten verständen. Die große Zahl der
Kommissionen, welche der Vollzugsrat gründete (unter anderem
Kommissionen für die städtischen Betriebe, die Schulen,
Polizeifragen, Wohnungs-, Gesundheits- und Wohlfahrtswesen) zeigt,
dass er seine Aufgaben darin sah, das gesamte gesellschaftliche Leben
neu zu gestalten.

Die
Löhnung der Mitglieder der Vollzugsräte erfolgte in der Regel über
die Stadtkassen. In Mülheim und Oberhausen mussten die
Unternehmenskassen für die aus ihren Betrieben stammenden
Vollzugsräte aufkommen.

Der
Hagener Aktionsausschuss besetzte einige Räume des Rathauses und
leitete die Beschlagnahmung von Gütern wie Lebensmitteln, Autos,
Benzin, Waffen und Munition ein, ordnete
Hausdurchsuchungen an und verhaftete und verhörte stadtbekannte
Einwohner, die nachweislich in Kontakt zum Militär standen. Zwar
sollte auch weiterhin die politische Kraft vom Aktionsausschuss
ausgehen, doch war dieser vermutlich von der Übernahme der
Verwaltung überfordert und überließ diese bald wieder den
ursprünglichen Beamten.
Ähnliche
Übereinkünfte gab es auch an anderen Orten, so dass die Verwaltung
insgesamt, um einige bekannte reaktionäre Beamte erleichtert, unter
der politischen Kontrolle der Arbeiterschaft bzw. ihrer Beauftragten
unbeirrt weiterarbeitete.

Die
Versorgungslage war schon vor dem Putsch im Ruhrgebiet sehr
schwierig. In allen Städten gab es Nahrungsmittelrationierungen.
Durch einen Boykott der Lebensmittellieferungen ins Ruhrgebiet
verschärfte sich die Situation noch weiter. Neben der
Beschlagnahmung hatten einige Aktions- und Vollzugsausschüsse die
Idee, in Holland und Belgien Kohlen gegen Lebensmittel zu tauschen.

Vielerorts
wurden alle ab dem 9. November 1918 politisch Inhaftierten
freigelassen und aus den Kassen der Betriebe, in denen sie zur Zeit
der Verhaftung gearbeitet hatten, für die Haftzeit und den
Verdienstausfall entschädigt. In Duisburg und Essen gab es Ansätze
zu Gefängnisreformen, die den nicht politischen Gefangenen zu Gute
kommen und ihnen durch die Mitarbeit in Gefangenenräten Mitsprache
erlauben sollten.

Aus
Elberfeld wird über einen bemerkenswerten Versuch einer Justizreform
berichtet: Man ließ das Amts- und Landgericht schließen, um
zunächst über eine neue Rechtsordnung zu beschließen. Ein
daraufhin in einer großen öffentlichen Versammlung gewählter
„Volksbeauftragter für die Sozialisierung der Justiz“
veröffentlichte Folgendes: „Der Erziehungsgedanke hat an die
Stelle des Strafgedankens zu treten. Die gedankenlose Einsperrung
armer, schwacher Menschen, die den rechten Weg nicht kannten oder
sich darauf nicht halten konnten, in Zuchthäusern und Gefängnissen
widerspricht der Menschenwürde, ebenso die Todesstrafe.“ Trotz
seiner Wahl beugte der Beauftragte sich dem u.a. seiner fehlenden
Parteizugehörigkeit wegen eingelegten Widerspruch des
Aktionsausschusses.

Rote Armee in Dortmund Die
Rote Ruhr-Armee war von den herkömmlichen Militär- und
Polizeiformationen in vielen Punkten sehr verschieden: Anfänglich
bestand sie aus Gruppen von Menschen, die sich aus ihren Stadtteilen
und Betrieben kannten. Ohne Kadaver-Gehorsam war es jederzeit
erlaubt, unter Zurücklassen der Waffe die Front zu verlassen. Aus
Mülheim wird davon berichtet, dass es zwar eine Art Hierarchie gab,
jedoch eine gleiche Löhnung für alle. In Gelsenkirchen wurden die
Führenden von den Mannschaften gewählt. Eine wirkliche zentrale
Leitung gab es nicht.

Übernahme
der Betriebe, sofort oder später?

Zwei
Tendenzen unterschiedlicher Vorstellungen wurden im Laufe des
Aufstands deutlich: Während USPD und KPD glaubten, grundlegende
Eingriffe in die Führung der Betriebe erst dann verantworten zu
können, wenn der endgültige militärische Sieg des Aufstands
errungen sei, waren die Anarchosyndikalisten der FAUD gegenteiliger
Ansicht. Genau diese beiden Positionen standen sich 16 Jahre später
in der spanischen Revolution wieder gegenüber, und genau wie dort
fanden sich Beispiele, wie erfolgreich die Strategie der
Anarchosyndikalisten auch in größerem Maßstab sein konnte.
Gegenüber der Befürchtungen seitens USPD und KPD, dass sofortige
Veränderungen in den Betrieben die Fortführung der Produktion
gefährden, und dass Sozialisierungen den Kampf der bewaffneten
Arbeiterschaft schwächen würden, stand das Beispiel der FAUD, das
etwas anderes zeigte: Nachdem in Mülheim und Hamborn die Leitung der
Thyssen-Werke durch die Betriebsräte übernommen worden waren,
vermutete ein Mitglied der Thyssen-Familie, dass dies, da alles so
reibungslos verlaufen war und die Produktion eben nicht einbrach, von
langer Hand geplant gewesen sein musste.

Ein
großer Unterschied zwischen den Ereignissen im Ruhrgebiet von 1920
und der Revolution in Spanien 1936 ist die kulturelle Basis, auf der
beides stattfand. So fehlte in Deutschland im Vergleich jene „Übung“
in Fragen der Selbstverwaltung, Solidarität und Utopie. Die meisten
Arbeiterorganisationen – Gewerkschaften, Parteien, Kultur- und
Sportvereine – führten die Traditionen von Hierarchie und dem
Vertrauen auf Führung von oben weiter. Die Gefahr solcher
Traditionen für eine Gesellschaft zeigte sich nicht zuletzt mit dem
Ende der Weimarer Republik und dem Aufschwung des
Nationalsozialismus.

Nico
Katanek


Zum
Weiterlesen & Hören:

  • Fittkau, Ludger / Schlüter, Angelika:
    Ruhrkampf 1920 – Die vergessene Revolution. Ein politischer
    Reiseführer.
    Klartext-Verlag, ISBN 978-3-88474-256-3
  • Erhard Lucas: Märzrevolution 1920.
    3 Bände, Roter Stern Frankfurt am Main (1973–1978), ISBN
    3878770-758, -642 und -855
  • Zu
    beziehen über www.syndikat-a.de:
    • Broschüre: FAU Duisburg (Hg.): März
      1920 – Die vergessene Revolution im Ruhrgebiet
    • Die
      Grenzgänger & Frank Baier: Lieder der Märzrevolution von
      1920

 

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar