Der „Sturm“ der Karlsruher Richter

Ein Sturm im Wasserglas?!

Wie waren sie doch alle gespannt. Hartz
IV stand zur Debatte, v.a. die Regelsätze für Kinder. Familien
hatten geklagt und das Bundesverfassungsgericht sollte nun
entscheiden. Mir stellte sich schon im Vorfeld die Frage, ob sich ein
Verfassungsrichter überhaupt vorstellen kann, von 359 Euro im Monat
zu leben. Denn das ist der Hartz IV-Regelsatz für einen Erwachsenen;
Partner in Bedarfsgemeinschaften erhalten nur 323, Kinder von 14–17
Jahren 287 Euro. Eine „normale“ Bundesverfassungsrichterin in der
Besoldungsgruppe R 10 dagegen erhält 11.070 Euro monatlich. Hinzu
kommt dann noch eine Amtszulage, wie sie auch die Präsidenten der
obersten Bundesgerichtshöfe erhalten. Diese beträgt 12,5 % des
Grundgehaltes. Damit bekommt eine Hartz IV-Bezieherin ca. 2,88 %
von dem, was ein Bundesverfassungsrichter bezieht.

Als dann der als politischer Aktivist
geltende Politikwissenschaftler Peter Grottian am Vortag der
Urteilsverkündung posaunte: „Die Karlsruher Richter laden die
Bevölkerung nachdrücklich zum gesellschaftspolitischen Konflikt
ein“ (jW), stellten sich bei mir erhebliche Zweifel ein. Am 9.
Februar traten die RichterInnen dann auf die Bühne.

Elendskonkurrenz

Den RichterInnen war natürlich nicht
aufgefallen, dass die Regelsätze zu niedrig sind: „Da nicht
festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten
Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber
nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere
Leistungen festzusetzen“
(Pressemitteilung des BVerfG). Und der
Höhepunkt: „Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der
für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich
geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist“ (Rd.Nr. 155
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 155).

Von einer Anhebung der Regelsätze
steht also nichts im Urteil. Das Gericht war nur zur Methodenkritik
fähig. Die RichterInnen kamen zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber
ein anderes Berechnungsverfahren beschließen solle. Ihre
Phraseologie aus den Leitsätzen zum Urteil lautete dann so: „Zur
Ermittlung des Anspruchsumfangs hat der Gesetzgeber alle
existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und
sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf
der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger
Berechnungsverfahren zu bemessen.“ Sie faselten dann noch ein wenig
von Menschenwürde.

Für diese „phänomenale“
Feststellung wurden die hochbezahlten RichterInnen von den
autoritätsfixierten „ExpertInnen“ im Lande bejubelt. Der DGB
beeilte sich auch gleich, das Urteil zu begrüßen.
DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagte dazu: „Dies ist ein
guter Tag für die Kinder und Familien in Deutschland“
(DGB-Pressemitteilung, 9.2.2010).

CDU und FDP stellten jedoch fest, dass
die Höhe der Regelsätze nicht per se in Frage gestellt worden sei,
es könne sogar zu Reduzierungen kommen. Man könne gar über die
Reform des Sozialtransfersystems als Ganzes sprechen. Das
„Lohnabstandsgebot“ dient dabei als Totschlagargument. Demnach
sollen Hartz IV-Familien mit Kindern nicht mehr bekommen als
Erwerbstätige mit Kindern. Von der Erhöhung der niedrigen Löhne
ist natürlich keine Rede. „Arbeit sollte sich wieder lohnen“,
meint Herr Westerwelle. Für ihn hat die Debatte um Hartz IV gar
„sozialistische“ Züge.

Diskriminierung und Illusion

Für Kinder ab dem Schulalter und
Jugendliche von 14 bis 17 Jahren ist momentan weder der
Wachstumsbedarf noch der Schulbedarf (also Schulmaterialien)
berücksichtigt. Wie menschenverachtend sind da Äußerungen von
Westerwelle und Konsorten? Oder wie sozialistisch ist die Reparatur
einer Waschmaschine, die man aus dem pauschalierten Regelsatz nicht
zahlen kann, weil man bei 359 Euro nichts ansparen kann? Deshalb muss
zumindest wieder die Beantragung einmaliger Beihilfen möglich sein.
Diskutiert werden aber Gutscheine, die eine weitere Diskriminierung
von Armen bedeuten, weil sie sich damit „outen“ müssen und noch
mehr unter Kontrolle geraten. Das zeigt die Erfahrung der Gutscheine,
die schon ausgiebig bei AsylbewerberInnen ausprobiert wurden, deren
Regelsätze gar noch fragwürdiger sind. Fest steht: Je größer die
Armut, desto mehr boomt die Armutsindustrie (Sozialkaufhäuser,
Lebensmitteltafeln, Kleiderkammern, Beschäftigungsträger etc.).

Der Sozialwissenschaftler Rainer Roth,
dessen Analyse lesenswert ist, resümiert: „Die hauptsächliche
Wirkung des Urteils besteht darin, der Kritik an Hartz IV das Wasser
abzugraben, ohne dass es etwas kostet. … Angesichts der eigenen
Schwäche erträumen sich viele, dass die … bestellten Professoren
des BVerfG es für sie richten würden … Medienkonzerne und
Hartz-IV-Parteien haben diese Hoffnungen geschürt, indem sie die
Milliarden Euro an die Wand malten, die möglicherweise aufgrund des
Urteils auf sie zukämen. Die allseits geschürten Hoffnungen auf das
Bundesverfassungsgericht erschweren das selbständige Auftreten der
LohnarbeiterInnen, seien sie erwerbslos oder beschäftigt. Sie
bekommen hier nicht das Recht, das ihnen nützen würde“ (zu finden
auf: www.tacheles-sozialhilfe.de).

Wir können weder auf
Bundesverfassungsrichter, Politikerinnen, Gewerkschaftsfunktionäre
und Armutsverwalterinnen hoffen. „Wenn die Republik nicht
vollkommen verrottet ist, wird dieses Urteil zu einem Sturmzeichen“,
so die Ankündigung Grottians im Vorfeld. Möge er Recht behalten.
Denn der Klassenkampf von oben geht weiter und wir müssen uns
gemeinsam von unten dagegen wehren.

Anne Seeck

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