Sind wir nicht alle ein bisschen Tabak?

Die Ausgangslage hätte für einen
Streik kaum ungünstiger sein können: Nachdem bereits 2006 der
Löwenanteil des türkischen Tabakmonopolunternehmens Tekel an
British American Tobacco („Lucky Strike“) veräußert wurde,
beschloss die konservative Regierung Erdoğan
nun die Abwicklung des restlichen noch in staatlicher Hand
befindlichen Bereichs. Betroffen sind knapp 12.000 Arbeiterinnen und
Arbeiter, denen eine vorübergehende Herabstufung in Kleinstlöhne
und anschließende Entlassung in Aussicht gestellt werden. Anfang
Dezember 2009 beschlossen sie zu streiken und errichteten in der
Hauptstadt Ankara ein Zeltlager vor der Zentrale des
Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is, wo man sich zunächst nur mäßig
für ihr Anliegen interessierte.

Zähigkeit fordert Respekt

Wenn die Betriebsschließung
beschlossene Sache ist, wiegt das ökonomische Druckmittel wenig in
den Händen der Streikenden. Dass es der Protestbewegung gelungen
ist, trotzdem mit Verve zu kämpfen, bezeugt die vielfältige und
gesamtgesellschaftliche Dimension, die ein Streik annehmen kann, wenn
er erfindungsreich, hartnäckig und gut organisiert durchgeführt
wird.

Mit ihrem bald zur Zeltstadt
angewachsenen Protestcamp weckten die Tekel-ArbeiterInnen nicht nur
Medieninteresse, sondern landesweite Aufmerksamkeit weit über ihre
Branche hinaus. Denn ihr Schicksal stellt keinen exotischen
Sonderfall in einem ökonomischen Randbereich dar, sondern spiegelt
die wirtschaftspolitische Entwicklung in der Türkei des letzten
Jahrzehnts wieder, die von umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen
mit tiefgreifenden, sozialen Konsequenzen bestimmt ist. Der Umbau des
kemalistischen Wirtschaftssystems, das auf staatlichem Monopol in
zentralen Sektoren wie Energie und Infrastruktur fußte, und die
Schaffung eines Niedriglohnsektors sind in vollem Gange. Der Streik
bei Tekel trägt von daher Symbolcharakter. Nicht nur in der Türkei,
auch im Ausland wird er zunehmend als Widerstand gegen
Privatisierungspolitik und verschlechterte soziale Bedingungen
wahrgenommen.

Von Woche zu Woche zeigten sich mehr
und mehr Belegschaften solidarisch, eine Gewerkschaft nach der
anderen erklärte ihre Unterstützung, und ein Ende ist noch nicht
absehbar. 80.000 TeilnehmerInnen einer Demonstration für die
streikenden TabakarbeiterInnen am 17. Januar in Ankara offenbarten
eine überraschend starke Mobilisierungskraft.

Wir sind Tekel

Hinzu kommt die politische Dimension.
Schnell wurde die kemalistische Opposition auf die Bewegung
aufmerksam. Sie ist sichtlich bemüht, den Arbeitskampf von Tekel in
ein politisches Votum der Straße gegen Erdoğan
umzudeuten. Wenn der Beistand von parteipolitischer Seite auch die
Gefahr der Vereinnahmung birgt, so hat er doch mit dazu beigetragen,
dem Protest weitere Schärfe zu verleihen.

Die Regierung reagiert bisher mit einem
Wechselspiel aus Repressalien, Hinhalten und dem Signalisieren von
Gesprächsbereitschaft. Gerade zu Beginn wurde gegen die Proteste mit
Knüppeln und Tränengas vorgegangen, Demonstrationen verboten und
der Streik für illegal erklärt. Zwischenzeitlich stellte sie dann
ein gewisses Entgegenkommen in Aussicht, um nun wieder mit der
Räumung der Zeltstadt zu drohen.

Umgekehrt formiert sich der Widerstand
immer breiter. Scheiterte im Januar noch die Absicht, die wichtigsten
Gewerkschaften für die Idee eines solidarischen Generalstreiks zu
gewinnen, organisierten schließlich die sechs größten Dachverbände
am 4. Februar einen türkeiweiten Streik mit überwältigender
Beteiligung. In der jüngeren Geschichte hatte es keine derartig
massive Streikbewegung mehr gegeben. Bemerkenswert ist, dass in der
Öffentlichkeit über einen Generalstreik diskutiert wird.

Kräftemessen

Währenddessen verschärfen die
Tekel-AktivistInnen ihre Gangart. Per Urabstimmung beschlossen sie
die Fortsetzung der Proteste, bis wenigstens die Übernahme der
Tekel-Beschäftigten in andere staatliche Betriebe zu unveränderten
Konditionen garantiert wird. Seit dem 19. Januar befinden sich 130
KollegInnen sogar im Hungerstreik.

Mittlerweile stößt der Streik auf
internationales Echo. Der weltweite Dachverband von
Nahrungsmittelgewerkschaften IUF organisiert ebenso Spendenmittel wie
die deutsche NGG. In Berlin und München haben sich
Solidaritätskomitees gebildet, in beiden Städten wurden bereits
Kundgebungen und Demonstrationen zur Unterstützung des Streiks bei
Tekel abgehalten, weitere sind angekündigt.

Aber reicht das? In seiner politischen
Dimension erinnert der Tekel-Widerstand an den britischen
Bergarbeiterstreik von 1984/85, wenngleich damals Hunderttausende
Kumpel streikten. Doch auch damals ging es um totale Privatisierung
und Sozialabbau, auch damals wurde der Streik zum Symbol eines
breiten Protestes gegen die konservative Regierung und erlebte
gewaltige internationale Solidarität. Und dennoch scheiterten die
Bergleute und mit ihnen die ganze Arbeiterklasse
nicht nur in Großbritannien. Denn dort war es dabei geblieben, über
den Generalstreik bloß zu diskutieren.

Matthias Seiffert

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