Bilanz einer Krise

Erneut
hat Karl Heinz Roth das Ergebnis seiner Überlegungen zur aktuellen
Weltlage zu Papier gebracht. Er beabsichtigt damit nichts weniger,
als „die Umrisse einer alternativen Krisenüberwindung, die in
einen globalen Transformationsprozess einmünden könnte“ zu
skizzieren. Der vorliegende erste Band des Projekts „Globale Krise
– Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven“ gliedert sich
in drei Teile: eine ausführliche Darstellung des Verlaufs der
aktuellen Krise, eine Beschreibung des letzten großen Zyklus
kapitalistischer Entwicklung (1966 … 2007) sowie eine vergleichende
Skizze aller großen Wirtschaftskrisen seit 1857.

Neuordnung
am Horizont

In
einer „ersten Annäherung“ analysiert Roth die derzeitige Krise
als eine mehr oder weniger klassische
Überakkumulations-/Unterkonsumptionskrise [60], deren Ausbruch durch
eine Finanzpolitik des billigen Geldes um ein einige Jahre verzögert
wurde. Bemerkenswert beim aktuellen Krisenprozess sei jedoch „das
enorme Tempo seiner weltweiten Synchronisierung und das inzwischen
erreichte Ausmaß der Kapital- und Einkommensvernichtung“ [119].

Die
Auswirkungen der Krise und der von ihr hervorgerufenen Reaktionen
sind noch nicht eindeutig zu erkennen, jedoch zeichne sich eine
„Neuordnung des kapitalistischen Weltsystems“ am Horizont ab.
Indizien dafür seien die gewachsene Bedeutung internationaler
Institutionen wie G20 und IWF, wie auch die Bemühungen in Richtung
einer neuen Weltwährung und eines finanzpolitischen Frühwarnsystems
[116ff]. In den Unternehmen sei es zudem zu einem „breit angelegten
Austausch der Führungsspitzen“ gekommen [126] und die Regierungen
hätten inzwischen einen Kurswechsel zur (Re-)Verstaatlichung
industrieller Schlüsselsektoren vollzogen. Bis dato hätten jedoch
weder internationale Institutionen noch die Regierungen mit ihren
Stützungsaktionen Erfolg gehabt, allerdings agiere inzwischen der
Staat wieder „auf Augenhöhe“ mit den Funktionsträgern der
Wirtschaft [123]. Als wichtigste Fragezeichen bleiben für den Autor
die Entwicklung des bisherigen „Wachstumsmotors“ China [112ff]
bzw. der ökonomischen Verflechtungen zwischen USA und China [135]
sowie die Frage, ob es zum Zerfall oder zur Stärkung der
„supranationalen Machtblöcke“ komme – mithin, ob die
Globalisierung zurückgedrängt oder aber weiter vorangetrieben werde
[131f].

Vorboten
und Wogen

Dass
die aktuelle Krise weder vom Himmel gefallen, noch (alleiniges)
Ergebnis von Auswüchsen auf den Finanzmärkten ist, weist der Autor
im folgenden Kapitel nach. V. a. die 1960er und 1970er seien von
den Anstrengungen des Kapitals geprägt gewesen, die wachsenden
Ansprüche (und damit zunehmenden Kämpfe) der ArbeiterInnen zu
kanalisieren bzw. einzudämmen. Dies führte zu einer Situation
weltweiter „strategischer Unterbeschäftigung“,
arbeitsorganisatorischen Umstrukturierungen und technologischen
Innovationen auf der Ebene der Großbetriebe, der Dezentralisierung
und Flexibilisierung der Produktionsstrukturen sowie einem geld- und
fiskalpolitischen Strategiewechsel auf staatlicher Ebene. Nach dem
Zusammenbruch des Ostblocks kam es zu einem „weltweiten
Proletarisierungsprozess mit deutlichen Homogenisierungstendenzen“
[156]; die „neue internationale Arbeitsteilung“, basierend auf
der globalen Industrialisierung der Landwirtschaft und Umwälzungen
im Transportwesen, wurde vorangetrieben. Die Länder des Südens
wurden „extrem ungleichgewichtig“ in die Weltwirtschaft
integriert, zum großen Teil rekolonialisiert. Teilweise gelang
jedoch einigen Staaten auch der Anschluss an die führenden Ökonomien
der Triade. Der Aufstieg Chinas war dabei das folgenreichste Ereignis
des vergangenen Zyklus [195ff].

Anfang
und Ende des Zyklus gingen mit einem „Generationswechsel“ einher.
Die Unruhen von 1968 waren von einem weltweiten Bruch in den
Generationenbeziehungen geprägt, der tendenziell emanzipatorische
Merkmale aufwies, jedoch nicht zum Systemwechsel führte. Stattdessen
gelang es, erhebliche Teile der sozialen Bewegungen zu kooptieren und
freigesetzte kreative Potentiale zugunsten verstärkter Wertschöpfung
in die Produktion zu kanalisieren. Heute finde ein ebenso
bedeutsamer, wenn auch stiller und schleichender Generationenwechsel
statt. Demnach sei die neue Generation, die soziale Sicherheiten nur
noch vom Hörensagen kenne, durch einen „nüchternen, auf
individuelle Überlebensperspektiven fixierten Pragmatismus“
gekennzeichnet, welcher eine denkbar schlechte Voraussetzung zur
Entwicklung von konkreten und positiven Utopien sei und wodurch sich
auch der derzeit (noch?) kaum stattfindende Widerstand erklären
dürfte [150ff].

Bilanz
einer Lektüre

Das
Buch bietet einen guten und – mitunter zu – detaillierten
Überblick über das Krisengeschehen und seine Vorgeschichte. Die
„ersten Annäherungen“ des Autors sind stimmig, auch wenn einige
seiner Schlüsse etwas vorschnell erscheinen. Insbesondere die These
eines „Elitenwechsels“ in den Führungsriegen von Staat und
Kapital erscheint mir kaum vom realen Geschehen gedeckt, ebenso wie
die These einer gestärkten Position des Staates in den Verhandlungen
mit der Wirtschaft oder die einer gewachsenen Bedeutung der
internationalen Institutionen. Oft bleibt das Buch auch zu sehr auf
einer rein ökonomistischen Ebene. Als Hauptakteure der Krise werden
zwar die „globale Kapitalvermögensbesitzer und ihre
Funktionsträger“ bzw. „einige zehntausend Investorenclans“
[54] benannt, die „arbeitenden Klassen“ z.B. kommen fast
ausschließlich als Konsumenten vor. Das war vom Autor auch erst mal
so beabsichtigt. Inwieweit das Projekt seinem Anspruch, Perspektiven
für Transformationsprozesse aufzuzeigen, gerecht werden kann, wird
sich erst nach Erscheinen des zweiten Teils beurteilen lassen. Als
Nachschlagewerk zum Krisengeschehen des Kapitalismus und als Basis
für weiterführende Diskussionen lohnt sich die Anschaffung des
Bandes allemal.

Ludwig
Unruh

 

Die globale Krise

 

Karl
Heinz Roth: Die globale Krise (Band 1 des Projekts „Globale
Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven“), Hamburg
2009. 226 Seiten, 22,80 Euro.

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