Was ist die Arbeiterklasse?

Nahezu gleichzeitig mit
Die globale Krise (siehe Artikel Bilanz einer Krise) ist der opulente Sammelband
(600 Seiten) Über Marx hinaus erschienen. Bereits 2007 haben
Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth begonnen, sich mit
befreundeten WissenschaftlerInnen den Marxschen Geschichtsprognosen
und v.a. der Marxschen Arbeitswerttheorie zu widmen. Auf 43 Seiten
präsentieren dabei die Herausgeber zusammenfassend die Ergebnisse
der 18 Beiträge. Wenn in Kürze der zweite Teil des Rothschen
Projekts „Globale Krise – Globale Proletarisierung –
Gegenperspektiven“ mit dem Fokus auf den globalen Widerstand der
Arbeiterklasse(n) erscheint, werden diese Ergebnisse Grundlage der
Untersuchung sein.

Abrechnung mit dem
orthodoxen Marxismus

Bereits in der Einleitung
stellen die Herausgeber fest, dass das Marx‘sche Theoriegebäude
und seine orthodox-marxistische Interpretation für ein modernes
Verständnis der Arbeiterklasse nicht ausreichen, und führen dafür
zahlreiche Gründe an: Erstens sei die bisherige Grundlage der
marxistischen Textexegese, die MEW, unvollständig und ideologisch
redigiert – begonnen schon beim zweiten und dritten Band des
Kapitals, die von Friedrich Engels herausgegeben wurden. Mit
der nun vorliegenden MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) sei eine
vollkommen neue Marx-Rezeption nötig. Zweitens habe Marx das Studium
der Arbeiterklasse zugunsten eines Studiums des Kapitals deutlich
vernachlässigt. In seinem Beitrag „Eine Theorie der Niederlage“
[311-33] erklärt Ahlrich Meyer dies aus dem Scheitern der
Arbeiterbewegung von 1848, das Marx dazu getrieben hätte, sich von
der Bewegung abzuschotten. Drittens – und dieses Argument scheint
das relevanteste zu sein – privilegiere die Marx‘sche Theorie ein
bestimmtes Segment der (Welt-)Arbeiterklasse, nämlich den „doppelt
freien Lohnarbeiter“. Und viertens argumentiere Marx
methodologisch-nationalistisch und eurozentristisch; besonders
deutlich wird dies am Marx‘schen Entwicklungsbegriff, wie Max
Henninger ausführlich beschreibt [355-61].

Nach Marx bestehe die
Arbeiterklasse, so wird zusammengefasst, aus denjenigen, „die, um
existieren zu können, ihr lebendiges Arbeitsvermögen an die
Eigentümer der vergegenständlichten Arbeit … veräußern müssen“
[557]. Der zweite Aspekt des Marxschen Verständnisses ist die
doppelte Freiheit der Arbeiterklasse (rechtlich frei und frei von
Produktionsmitteln), und diese wird anhand der vorliegenden Beiträge
massiv in Zweifel gezogen: Sehr verkürzt lässt sich zusammenfassen,
dass die doppelt freie Lohnarbeit keineswegs der Standard im
Kapitalismus sei. Vollkommen außer Acht gelassen werde bei Marx die
Rolle der Reproduktionsarbeit (vgl. die Beiträge von Maria Mies &
Silvia Federici), aber auch, dass so etwas wie Sklavenarbeit durchaus
keine Ausnahmeerscheinung war und ist [581-6].

Die Kritik am Marx‘schen
Verständnis der Arbeiterklasse ist umfassend; nur die Minderheit der
beteiligten AutorInnen glaubt, mit diesem weiter arbeiten zu können.
Die Herausgeber benennen schon in der Einleitung, was das bedeutet:
Stelle sich der Marx‘sche Klassenbegriff als unbrauchbar heraus,
müsse auch ein völlig neues Revolutionskonzept her [24]. Aus
anarchistischen Kreisen ist bezüglich einer derartig fundamentalen
Kritik an den Marx‘schen Prämissen mit einer Art Genugtuung zu
rechnen. Doch die analytischen Schlussfolgerungen des Bandes können
auch für libertäre Revolutionskonzepte weitreichende Folgen haben.
Insbesondere die Methoden der Revolution, wie der Generalstreik im
anarchosyndikalistischen Konzept, stehen dabei auf dem Prüfstand.

Ein neues
Klassenverständnis

Es sind eben nicht nur
Lenin und Ché Guevara, die hier in Zweifel gezogen werden. Aber das
Klassenverständnis, das sich aus den Analysen ergibt, lässt sich
für die LeserIn als Marx-Exeget wie auch als Anarchosyndikalistin
durchaus verwenden: „All diejenigen Menschen, die sich im
widerständigen Prozess der Enteignung, der disziplinarischen
Zurichtung und der Entäußerung sowie Verwertung ihres
Arbeitsvermögens befinden, konstituieren das globale Proletariat …
Diejenigen von ihnen, die sich dabei im Prozess der widerständigen
Ausbeutung und Verwertung ihres Arbeitsvermögens befinden, bilden …
die Weltarbeiterklasse“ [592].

Seit dem „cultural
turn“ in den Sozialwissenschaften wird sich bemüht,
wissenschaftlich die Kategorie der Klasse in kulturellen Begriffen zu
fassen. Die entstehenden Analysen verschiedener Schichten oder
Milieus sind plausibel, erfassen jedoch den Begriff einer täglich im
und gegen den Kapitalismus kämpfenden Klasse nicht. Die
postmodern-soziologisch erhoffte Dekonstruktion der Klasse lässt
sich nicht haben, indem verschiedene Kulturen der Arbeiterklasse
erfasst und kritisiert werden. Denn dass sie nicht eine Kultur
hat, ist ganz offensichtlich. Van der Linden und Roth präsentieren
eine andere Dekonstruktion, die praktikabler ist. Die Arbeiterklasse
ist nicht nur nicht mit sich selbst identisch, weil sie kulturell
disharmoniert, sondern v.a., weil sie dies auch in den ökonomischen
Verhältnissen tut, in vielen „Misch- und Übergangsverhältnissen
zwischen Sklaverei und ‚freier’ Lohnarbeit“ [586]. Die
Herausgeber sprechen vom Multiversum der Arbeiterklassen: Eine
Weltarbeiterklasse mit durchaus verschiedenen Ausbeutungs- aber auch
Widerstandsmöglichkeiten. Hier gilt es – da werden wir mit den
AutorInnen und Herausgebern übereinstimmen – anzusetzen.

Torsten Bewernitz

 

Über Marx hinaus

 

Marcel van der Linden &
Karl Heinz Roth (Hg.): Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und
Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen
Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts
, unter Mitarbeit von
Max Henninger, Berlin/Hamburg 2009. 608 Seiten, 29,80 Euro.

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