„Zündstoff der schwarzen Flamme“

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Flame
ist der erste Band eines
ausgesprochen ambitionierten Projekts namens „Counter-Power“:
Lucien van der Walt und Michael Schmidt versuchen darin gleichzeitig,
zu einem „klaren Verständnis“ des Anarchismus zu gelangen [43]
und eine umfassende Geschichte dessen zu schreiben, was sie die
„breite anarchistische Tradition“ nennen [6]. Genauer: „Was wir
in diesen zwei Bänden tun wollen, ist, … Geschichte und Analyse
miteinander zu verbinden, um die Politik der breiten anarchistischen
Tradition zu studieren, die Leben, Kämpfe und Bewegungen von
AnarchistInnen und SyndikalistInnen darzustellen sowie die
historische Bedeutung der breiten anarchistischen Tradition
aufzuzeigen“ [9]. Der Syndikalismus wird von den Autoren als der
„seit jeher wichtigste Zweig“ des Anarchismus bezeichnet [7].

Anarchismus
und Klassenkampf

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Was
die Definition des Anarchismus betrifft, so bedarf es den Autoren
zufolge eines „neuen Zugangs“ [41], der „einigen herkömmlichen
Definitionen widerspricht“ [19]. Für van der Walt und Schmidt ist
Anarchismus ausschließlich das, was im deutschen Sprachraum
allgemein als Sozialanarchismus bekannt ist: ein Anarchismus, der
sich auf die ökonomischen Widersprüche der kapitalistischen
Gesellschaft konzentriert, die Klassenfrage in den Mittelpunkt stellt
und sich klar zu einer sozialistischen Tradition bekennt. Van der
Walt und Schmidt machen deutlich: „Wenn wir Spezifikationen wie
‚Klassenkampf‘ oder ‚sozial‘ dem Wort Anarchismus hinzufügen,
dann würde das implizieren, dass es AnarchistInnen gäbe, die dem
Klassenkampf keine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen oder
individualistisch sind. Dies wäre jedoch keine korrekte Verwendung
des Begriffs ‚Anarchismus‘ “ [71].
Als Folge dieser Haltung werden eine
Reihe von Denkern, die häufig als anarchistische Größen gelten,
aus der anarchistischen Geschichtsschreibung ausgeklammert: Godwin
ebenso wie Proudhon, Stirner ebenso wie Tolstoj.

Auch
Gedanken an einen „alten“ oder „ewigen“ Anarchismus scheinen
den Autoren des Buches verschwendet. Der Anarchismus sei eine
„moderne“ Bewegung, die in den 1860er Jahren „mit Bakunin, der
[Ersten] Internationalen und der Allianz [der sozialistischen
Demokratie]“ [44] beginne. „Wir weisen die Vorstellung zurück,
dass die menschliche Geschichte immer wieder anarchistische
Strömungen kannte. Die anarchistische Bewegung entstand erst in den
1860er Jahren als ein Flügel der modernen sozialistischen
Arbeiterbewegung … Die Schlüsselfiguren bei der Bestimmung des
Anarchismus und Syndikalismus waren Michael Bakunin und Peter
Kropotkin“ [9]. Die einzige gröbere Unterscheidung, die von den
Autoren zugelassen wird, bezieht sich auf die „strategische“
Differenz zwischen einem „Massenanarchismus“, der „betont, dass
nur Massenbewegungen eine revolutionäre gesellschaftliche Änderung
schaffen können“ [20], und einem „aufständischen Anarchismus“,
der „die bewaffnete Aktion … als wichtigstes Mittel erachtet“
(ebd.).

Der Ansatz
der Autoren wird jene, die ihre Arbeit bisher verfolgt haben, nicht
überraschen. Beide stehen der südafrikanischen Zabalaza Anarchist
Communist Front (ehemals Federation) (www.zabalaza.net) nahe, die
sich auf jene „plattformistischen“ Prinzipien gründet, die 1926
von Nestor Machno und Genossen im Pariser Exil formuliert wurden: die
Forderung nach einer anarchistischen Organisation, die sich einem
gemeinsamen Programm verpflichtet, eine gewisse Avantgarderolle nicht
zurückweist (die Autoren sprechen gar von „libertarian leadership“
[261]) und den Klassenkampf im Zentrum revolutionärer Aktivität
sieht.

Anarchismus
und Syndikalismus

Mit
seinen über 400 Seiten ist Black Flame
eine beeindruckende Studie zur internationalen Geschichte des
(Sozial)Anarchismus und eine Auseinandersetzung mit dessen Kernfragen
wie Organisierung, Strategie und Taktik. Das Buch beinhaltet eine
Reihe spannender, theoretischer Aspekte, etwa die Zurückweisung
eines Konflikts zwischen Anarcho-Syndikalismus und
Anarcho-Kommunismus, die bereits angedeutete, enge Verwobenheit von
Syndikalismus und Anarchismus (die die Autoren dazu führt, auch
selbsterklärte Marxisten wie Daniel
De Leon oder James Connolly der
„breiten anarchistischen Tradition“ zuzurechnen) oder die
Ablehnung der These, dass der Anarchismus „in Spanien eine
Massenbewegung wurde wie sonst nirgends“ – eine solche „spanische
Besonderheit“ gibt es für van der Walt und Schmidt nicht [15].

Was Umfang
und Reichweite des gesammelten Materials betrifft, muss das Buch
bereits jetzt als Standardwerk gelten und es wird zweifelsohne eine
bleibende Rolle im Kanon anarchistischer Geschichtsschreibung
einnehmen. Das völlig zu Recht. Die internationale Dimension der
Materialiensammlung – eingeschränkt einzig durch die limitierte
Aufnahme nicht-englischsprachiger Literatur – ist einzigartig und
höchstens mit dem Nachlass Max Nettlaus zu vergleichen, allerdings
mit zwei wesentlichen Unterschieden: van der Walt und Schmidt konnten
weit mehr Information zu Lateinamerika, Asien und Afrika sammeln, und
sie hatten die Zeit, ihre Daten in einen ausgezeichnet strukturierten
und ausgesprochen lesbaren Text zu verarbeiten.

Was an
der Herangehensweise der Autoren zwangsläufig Diskussionen auslösen
wird, ist der enge definitorische Ansatz. Es ist kühn, einen großen
Teil klassischer anarchistischer Geschichtsschreibung als „nicht
wirklich anarchistisch“ [18, 71] über Bord zu werfen. Viel hat
damit freilich mit unserem Verständnis von Definition zu tun.
Definitionen sind kommunikative Vereinbarungen, die es uns
erleichtern, uns zu verständigen. In diesem Sinne haben sie primär
pragmatische Funktion und keinen Wahrheitsgehalt. Insofern sind
kategorische Aussagen wie „es gibt nur eine anarchistische
Tradition und sie ist in der Arbeit Bakunins und der Allianz
verwurzelt“ [41] oder „[diese Sekten] haben keinen Platz in der
anarchistischen Tradition, weil sie nicht anarchistisch sind“ [170]
tautologisch und sagen wenig mehr als: Anarchismus ist, was ich
Anarchismus nenne.
Natürlich lässt sich der vielfältige Komplex Anarchismus mit Hilfe
einer „effektiven Definition“ [41] als „kohärente
intellektuelle und politische Strömung“ [143] fassen, wenn wir
soviel von den konventionellen Definitionen wegschneiden, bis das
übrig bleibt, was unseren eigenen Vorstellungen entspricht. Die
Frage ist nur, was uns das hilft.

Van der Walt
und Schmidt versprechen sich von ihrer Vorgangsweise offensichtlich
bessere anarchistische Forschung und eine stärkere anarchistische
Bewegung. Ich bin von diesem Punkt nicht ganz überzeugt. Abgesehen
davon, dass ich ideologische Grabenkämpfe als Bedrohung für
antiherrschaftliche und damit auch (radikale) sozialistische bzw.
syndikalistische Politik begreife (und dazu gehört seit jeher das
gegenseitige Absprechen „wahrer“ anarchistischer Identität),
glaube ich, dass wir auch von GenossInnen lernen können, die sich
auf den Kampf gegen Herrschaftsformen wie Patriarchat,
Heteronormativität oder Rassismus konzentrieren. Solange sie
sozialen Dimensionen gegenüber nicht völlig blind sind, würde ich
es dabei für ihre anarchistische Glaubwürdigkeit nicht als
entscheidend erachten, welchen Status sie dem ökonomischen Kampf nun
genau einräumen.

Anarchismus
und Antistaatlichkeit

Die Autoren
betonen, dass ihr Ansatz kein „Reduktionismus“ sei, und dass ihr
Verständnis nicht als „plumper Proletarismus“ [7] oder als
„Ökonomismus“ [21] missverstanden werden dürfe. Dies sind nicht
nur Lippenbekenntnisse. Ein Kapitel zu „Anarchist Internationalism
and Race, Imperialism and Gender“ untersucht die Zusammenhänge des
Klassenkampfes mit antirassistischen und antipatriarchalen Kämpfen.
Dennoch wird das Buch von einer Aufarbeitung syndikalistischer
Geschichte dominiert, und das erwähnte Kapitel bestätigt zwar, dass
es in diesem Rahmen ein Bekenntnis zum Kampf gegen Patriarchat und
Rassismus gibt, der auch relative Erfolge verzeichnen konnte, doch
wird dem Widerstand gegen diese und andere Unterdrückungsmechanismen
eine vom Klassenkampf unabhängige revolutionäre bzw. anarchistische
Bedeutung abgesprochen. Dies öffnet Tür und Tor zu einer neuen
Verstrickung in „Hauptwiderspruchsdebatten“, die meines Erachtens
antiherrschaftliche Bewegungen noch nie weitergebracht haben.

Die stärkste
Kritik, die van der Walt und Schmidt an konventionellen Definitionen
des Anarchismus formulieren, ist jene, dass „Antistaatlichkeit“
alleine für eine sinnvolle Definition des Anarchismus nicht
ausreicht, weil dann auch Anarcho-KapitalistInnen oder MarxistInnen
(die schließlich auch in letzter Konsequenz den Staat ablehnen) mit
aufzunehmen wären [41ff]. Hier stellt sich allerdings die Frage,
warum es zwischen einer einfachen Gleichsetzung von Anarchismus mit
Antistaatlichkeit und einer engen Definition des Anarchismus als
„bestimmte rationalistische und revolutionäre Form des libertären
Sozialismus, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
entstand“ [71] keine weiteren Definitionsmöglichkeiten geben
sollte. Anarchismus lässt sich beispielsweise auch als die
Vereinigung egalitärer sozialer Prinzipien mit größtmöglicher
individueller Freiheit und der ausnahmslosen Ablehnung staatlicher
Strukturen begreifen (auch in Zeiten von „Übergangsperioden“);
dies würde einerseits sowohl „anarcho-kapitalistischen“
Sozialdarwinismus als auch marxistischen Bolschewismus ausschließen,
uns andererseits jedoch erlauben, einer breiteren anarchistischen
Tradition – und Gegenwart – Rechnung zu tragen.

Am
allgemeinen Urteil zu Black Flame
kann kein Zweifel bestehen: Das Buch ist ein außerordentliches Werk
und es sei allen am Anarchismus Interessierten wärmstens ans Herz
gelegt! AnarchistInnen, die mit der Definition der Autoren
übereinstimmen, werden begeistert sein. AnarchistInnen, die das
nicht tun, werden viel lernen und sich herausgefordert sehen, ihren
Anarchismus im Verhältnis zu Syndikalismus, Anarcho-Kommunismus und
Plattformismus zu reflektieren. In diesem Sinne sollen zum Abschluss
noch einmal die Autoren selbst zu Wort kommen: „Sicherlich sind
einige der hier präsentierten Argumente kontrovers. Aber das ist nur
gut so: Anregende Forschungsarbeit entwickelt sich aufgrund
kritischer Debatte, nicht aufgrund etablierter Orthodoxien. Wenn
dieses Buch zu weiterer Anarchismusforschung anregt – selbst wenn
diese Forschung unseren Argumenten widerspricht –, dann erachten
wir unsere Arbeit als erfolgreich“ [26f].

Gabriel
Kuhn

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Lucien
van der Walt & Michael Schmidt:

Black
Flame.

The Revolutionary Class
Politics of Anarchism and Syndicalism

(Band 1 des Projekts
Counter-Power“)
Oakland 2009. 395 Seiten, 22,95
US-Dollar.

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