Stets zu Diensten, Herr Doktor!

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Als eine der
wesentlichen Säulen des Gesundheitswesens geraten die Praxen nur
alle paar Jahre ins Visier des öffentlichen Interesses. Thematisiert
werden dann politische Maßnahmen, beispielsweise im Rahmen der
Gesundheitsreformen. Praxisgebühren und Zuzahlungen für
medizinische Leistungen, die von den Kassen nicht länger übernommen
werden, sind in aller Munde. Nicht jedoch die Situation abhängig
Beschäftigter, die in diesem Sektor ihre Brötchen verdienen. Keine
Ausnahme bilden hierin die großen Zentralgewerkschaften, die diesen
Bereich völlig links liegen lassen. Die Situation der abhängig
Beschäftigten in den Praxen ist in der öffentlichen Wahrnehmung
hingegen völlig unterbelichtet. Denn anders als ihre
ArbeitgeberInnen haben sie keine Lobby.

Denkt man
heute an Praxen, dominiert noch immer das Bild vom niedergelassenen
Hausarzt oder der niedergelassenen Fachärztin, die eine Praxis mit
Praxishilfen[1] betreibt. Alle kennen die Situation: Volle
Wartezimmer, Termindruck, lange Wartezeiten. Eine Verschiebung der
Versorgungsstrukturen zuungunsten der Versicherten durch Abwanderung
niedergelassener ÄrztInnen und daraus resultierende weite
Anfahrtswege. Kaum jemand scheint sich dagegen zu fragen, warum die
immer freundliche und zuvorkommende Sprechstundenhilfe, die die
Versichertenkarte schon am Morgen durchs Lesegerät zieht, einem am
Abend immer noch lächelnd das unterschriebene Rezept überreicht.
Warum kann der Arzt, dessen Name am Türschild steht, in die
Mittagspause gehen, während seine Sprechstundenhilfe bleibt? Genauso
wie die angestellte Assistenzärztin, die so die übliche Wartezeit
wenigstens etwas verkürzt? Was verbirgt sich dahinter, wenn die
behandelnde Ärztin eine Kollegin nur flüchtig als „Praktikantin“
vorstellt, die ihr danach bei der Arbeit über die Schulter blicken
darf? Ein Bild hat sich dagegen auch in der öffentlichen Wahrnehmung
festgesetzt, vielleicht das einzig realistische: Das Gesicht des
Arzthelferinnenberufes, der medizinischen, zahnmedizinischen und
tiermedizinischen Fachangestellten, ist weiblich. Das gleiche gilt
für angestellte Tier- und Zahnmedizinerinnen.

Prekäre
Nähe

Die
Gemeinsamkeiten von Fachangestellten und angestellten MedizinerInnen
münden am Ende nicht allein im Tätigkeitsfeld. Sie treten auch bei
grundlegenden Problemen zutage: der Kontrolle um die Arbeitszeit, der
Urlaubsplanung, der Vereinbarkeit vorhandener Kinder mit der
Berufsausübung, der Wahrnehmung von Fort- und Weiterbildungen sowie
der Bezahlung. Hinzu kommen subtile Prozesse, die sich zwangsläufig
aus der Nähe von ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn am Arbeitsplatz
ergeben. Diese haben enorme Auswirkungen auf die Duldsamkeit der
Angestellten. Die Arbeitsbedingungen werden in der Regel hingenommen,
bleiben unhinterfragt. Selbst dann noch, wenn sie längst nur noch
als Zumutung bezeichnet werden können. Denn ArbeitgeberIn und
ArbeitnehmerIn arbeiten in Praxen auf engstem Raum zusammen. Das
üblicherweise vorhandene Nähe-Distanz-Verhältnis ist aufgebrochen,
wird durch das vertrauliche „Du“ oder eher „familiär“
anmutende Beziehungen verwässert. Am ehesten vergleichbar ist dies
wohl mit den kleinen, klassischen Handwerksbetrieben, in denen die
MeisterInnen zugleich ArbeitgeberInnen sind.

Mehrarbeit
und Überstunden gehören in (Zahn-) Arztpraxen beispielsweise zum
guten Ton. Sie werden nicht aufgeschrieben. Es ist
selbstverständlich, länger zu bleiben, wenn PatientInnen kurz vor
Dienstende noch in die Praxis kommen. Das gleiche gilt für die
tägliche Pause. Die Zeit, von der der lange Arbeitstag üblicherweise
unterbrochen werden sollte, wird von Angestellten häufig am
Arbeitsplatz verbracht. Teile dieser Freizeit, die eigentlich der
Erholung dient, werden stattdessen durch unentgeltliches
Weiterarbeiten absolviert. Nicht viel anders ist es um notwendige
Vor- und Nacharbeiten, zum Beispiel die Reinigung medizinischer
Instrumente, bestellt. Auch diese werden oft außerhalb der
eigentlichen Arbeitszeit geleistet – vor und nach dem Dienst oder
in den Pausen. Dabei könnte eine Kontrolle der tatsächlichen
Arbeitszeiten durchaus auf der Grundlage vorhandener Strukturen
erfolgen: Der passwortgeschützte Computerarbeitsplatz in Arztpraxen
könnte fehleranfällige Stundenzettel, die in Kleinbetrieben zum
Teil erst gar nicht geführt werden, durchaus ersetzen. Die
Angestellten müssen sich dort ohnehin bei Dienstbeginn individuell
an- und bei Arbeitsschluss wieder abmelden. Hierüber wäre zumindest
eine ungefähre Kontrolle und Nachweisbarkeit der tatsächlichen
Arbeitszeiten durch die Beschäftigten gewährleistet. Stattdessen
aber wird das Problem komplett ignoriert.

Krankheitsbedingte
oder anderweitige Ausfallzeiten von KollegInnen treffen Arztpraxen
noch empfindlicher als andere Gesundheitsbetriebe. Der
Mitarbeiterstamm ist klein, weshalb derartige Ereignisse immer auch
unentgeltliche Mehrarbeit für die anderen mit sich bringen.
Hierdurch wird auch ein enormer, vor allem unkollegial wirkender
Druck unter den Angestellten aufgebaut.

Der
Jahresurlaub wird den Beschäftigten durch Betriebsschließung
weitestgehend vorgeschrieben: Bleibt die Praxis infolge Urlaubszeit
des Arbeitgebers geschlossen, werden auch die Angestellten in den
Urlaub geschickt. Noch mehr als üblich brummt dagegen in diesen
Zeiten der Laden in den Vertretungspraxen: Ein Mehr an PatientInnen
bedeutet zwangsläufig ein Mehr an Arbeit und Arbeitsintensität.
Auch das wird auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen. In den
Gemeinschaftspraxen niedergelassener ÄrztInnen relativiert sich
dieses Problem nur bedingt: Die Arbeitsverdichtung findet hier
lediglich unter einem Dach statt.

Kaum Platz
ist im Berufsalltag der erforderlichen Fort- und Weiterbildung der
Angestellten vorbehalten, selbst wenn deren Frequenz in Verträgen
fixiert worden sein sollte. Diese fallen entweder gänzlich unter den
Tisch oder sind in die Freizeit zu verlegen. Von Freistellungen, von
der (Teil-) Finanzierung oder auch nur vom Angebot großer
Gesundheitseinrichtungen wie Kliniken können abhängig Beschäftigte
in Arztpraxen nur träumen. Üblicherweise wird dieser Bereich von
ArbeitgeberInnen als persönliche Angelegenheit betrachtet.

Tierisch
sittenwidrig: die Veterinäre

Ein wenig
anders stellt sich demgegenüber die Situation im tiermedizinischen
Bereich dar: In Deutschland sind Krankenversicherungen für Tiere
unüblich, so dass es sich um reine „Privatpatienten“ handelt.
Abgerechnet werden muss aber, zumindest theoretisch, nach einer
staatlichen Gebührenordnung, die allerdings gerne unterschritten
wird. Außerdem unterteilen sich die Patienten in landwirtschaftliche
Nutztiere, bei denen vor allem finanzielle Erwägungen eine Rolle
spielen, und Liebhabertiere, vor allem Pferde und kleine Haustiere,
sogenannte „companion animals“, bei deren Behandlung nur die
Geldbörse des Besitzers die Möglichkeiten nach oben begrenzt.

In den
letzten 20 Jahren ist es zu massiven Veränderungen im Berufsfeld
Tiermedizin gekommen, vor allem bei den TierärztInnen. Aus einem
ehemals fast reinen Männerberuf wurde ein zum Großteil von Frauen
ausgeübter. Dadurch hat sich auch das Spannungsfeld lange
Arbeitszeiten – geringe Entlohnung verstärkt: Viele Tierärztinnen
kehren nach einer Babypause gar nicht mehr in den familienfeindlichen
Beruf zurück. Gerade der Nutztiersektor hat Nachwuchssorgen – was
schon zu Rufen nach einer Männerquote im Studium geführt hat: Nach
Ansicht einiger Tierärzte tragen nicht die schlechten
Arbeitsbedingungen, sondern die Frauen, an die ein teures Studium
verschwendet sei, die Schuld am jetzigen Nachwuchsmangel.

Die
momentane Situation der in Praxen angestellten TierärztInnen stellt
sich ähnlich dar wie in den anderen akademischen Medizinberufen:
Lange Arbeitszeiten, geringe Entlohnung. Eine Entlohnung von unter
2.000 Euro brutto für eine AnfangsassistentIn in Vollzeit –
normalerweise mindestens 48 Stunden in der Woche an sechs
Arbeitstagen – gilt als sittenwidrig[2], ist aber in der Praxis
eher hochgegriffen. Im Kleintierbereich sind zum Teil 500 Euro im
Monat üblich. Gerade für frische UniversitätsabgängerInnen ist
auch die Beschäftigung ganz ohne Gehalt – „Hospitation“
genannt – beliebt. Geringe Gehälter von AnfangsassistentInnen
werden oft mit mangelnder Erfahrung gerechtfertigt, steigen oft aber
auch nach mehreren Jahren nicht signifikant an. Zusätzlich verdienen
Frauen bei vergleichbarer Tätigkeit im Schnitt zwischen 300 und 500
Euro im Monat weniger.

Arbeitszeiten
von bis zu 16 Stunden täglich sind vor allem im Großtiersektor
nicht unüblich. Zum Teil gibt es eine mehrstündige „Mittagspause“,
in der sich die AssistentInnen aber zur Verfügung zu halten haben.
Nächtliche Bereitschaftsdienste, oft mehrere in der Woche, und
Wochenenddienste ohne Freizeitausgleich oder Zuschläge – beides
ist gesetzlich vorgeschrieben – sind üblich, gesetzeskonforme
Abrechnungsmodalitäten hingegen die absolute Ausnahme.

Bei den
ArbeitgeberInnen liegt kein Unrechtsbewusstsein vor: Angestellte, die
ihre gesetzlichen Rechte in Anspruch nehmen möchten, werden zum Teil
öffentlich des Missbrauchs bezichtigt. Möglich wird dieses
Verhalten auch hier durch das oft familiär geprägte Arbeitsumfeld,
das häufig nur aus Chef und eventuellen Helferinnen besteht. Bei
mehreren AssistentInnen kommt noch der soziale Druck seitens der
KollegInnen hinzu. Krankheits- und Urlaubsabwesenheit müssen meist
von den anderen voll und ohne Ausgleich aufgefangen werden. Allein
schon den vollen Jahresurlaub zu nehmen, ist verpönt. Ohnehin wird
regelmäßig nur der Mindesturlaub gewährt. Im schon
arbeitgeberfreundlichen Mustervertrag der deutschen Tierärztekammer
werden arbeitnehmerschützende Passagen einfach gestrichen oder es
wird gleich ohne schriftlichen Vertrag gearbeitet.

In der
Vergangenheit wurden diese Arbeitsbedingungen von den angestellten
TierärztInnen regelmäßig als selbstverständlich hingenommen, da
sie davon ausgingen, in absehbarer Zeit selbst „Chef“ zu sein und
dann ebenso handeln zu dürfen. Durch die Veränderungen im
Berufsfeld, die unter anderem auch dazu geführt haben, dass immer
mehr TierärztInnen dauerhaft Angestellte bleiben, ändert sich diese
Haltung gerade.

Es gibt
momentan keine Vertretung der angestellten TierärztInnen. Der
Bundesverband praktizierender Tierärzte (bpt) vertritt als
Interessenverband sowohl Angestellte als auch selbstständige
TierärztInnen[3]. Ein Spagat, der mehrheitlich zugunsten der
Selbstständigen ausfällt, deren Vertretung auch vom bpt als seine
wichtigste Aufgabe definiert wird. Lediglich bei der Vertretung der
Interessen der von den Landkreisen angestellten TierärztInnen in der
Fleischbeschau ist es unter Beteiligung des bpt jemals zum
Arbeitskampf gekommen. Im Augenblick entwickeln sich vor allem mit
Hilfe des Internets kleinere Interessengemeinschaften von
angestellten TierärztInnen.

Ähnlich
schlecht ist die Situation der tiermedizinischen Fachangestellten
(TFA): Auch von diesen werden regelmäßig Überstunden ohne
Entlohnung verlangt. Ein Erscheinen mitten in der Nacht, zum Beispiel
für Not-Operationen, wird vorausgesetzt. Eine gesetzeskonforme
Entlohnung findet meist nicht statt. Oft werden Teilzeitstellen
angeboten, die sich in der Realität als Vollzeitstellen
herausstellen, so dass das ohnehin schon schmale Einkommen weiter
sinkt.

Der Beruf
der TFA ist ein fast reiner Frauenberuf mit schlechter Entlohnung und
geringen Aufstiegs- oder Weiterbildungschancen. Sofern die TFA
Mitglied im Verband medizinischer Fachberufe[4] ist, der als
Berufsverband und Gewerkschaft in einem fungiert, und ihr Chef
gleichzeitig Mitglied im bpt ist, gilt für sie theoretisch der
zwischen den beiden Berufsverbänden ausgehandelte Tarifvertrag. In
der Realität wird dieser aber gerade in den vielen kleinen,
„familiär“ geprägten Praxen nicht beachtet. Kranksein wird
regelmäßig als Krankfeiern bewertet. Auch gesetzlich
vorgeschriebene Arbeitsschutzbestimmungen wie die jährlich zu
wiederholende Einweisung in den sicheren Umgang mit Röntgenstrahlung
oder auch nur die Benennung einer Strahlenschutzbeauftragten werden
ignoriert. Oft gibt es noch nicht einmal Dosimeter[5]. Theoretisch
müsste das den zuständigen Stellen eigentlich ins Auge fallen. In
der Praxis wird aber nicht nachgefragt. Selbst die
Arbeitsschutzbestimmungen für Auszubildende unter 18 Jahren werden
einfach ignoriert.

Arbeitszeit
oder „Beschäftigungstherapie“? Die Situation in der Ergotherapie

Nicht viel
anders sieht es im Bereich der ergotherapeutischen Praxen aus. Auch
hier sind überwiegend Frauen angestellt, wenn auch zunehmend Männer
den Beruf ausüben. Die Probleme, was die Anrechnung von
Arbeitszeiten, die Bezahlung oder die Fort- und Weiterbildung
anbelangt, ähneln denen der medizinischen Fachangestellten und
angestellten MedizinerInnen, weisen aber zum Teil einige
Besonderheiten auf. Auch in diesem Bereich sind gerade
Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse verbreitet. Nicht weil
ErgotherapeutInnen dies unbedingt wünschen oder ihre
ArbeitgeberInnen besonders familienfreundlich sind, sondern weil
ihnen dies vertraglich vorgegeben wird. Anders als ihre
BerufskollegInnen in Akut- und Reha-Kliniken, Heimen und anderen
Einrichtungen, werden sie nicht durch Kollektivverträge oder daran
angelehnte Arbeitsverträge geschützt, sondern handeln die
Bedingungen wie die angestellten Zahn- und TiermedizinerInnen
individuell aus.

Die
Bezahlung ist, gemessen an der Arbeitszeit, gering, gerade im Bereich
der Praxen. Sie unterliegt bundesweit großen Schwankungen.
ErgotherapeutInnen arbeiten im Niedriglohnbereich, teilweise bis
hinunter auf ein Niveau, bei dem ohne weiteres von Lohnwucher bzw.
sittenwidrigem Gehalt gesprochen werden kann. Keine Seltenheit sind
geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, so genannte
„400-Euro-Jobs“.

Bei
ErgotherapeutInnen in Praxen wird die vertragliche Arbeitszeit im
Wesentlichen durch die einzelnen, wahrzunehmenden Termine ausgefüllt.
Diese werden von den ErgotherapeutInnen selbst vereinbart bzw.
abgesprochen. Gängig ist, dass hier ein eigentliches Risiko des
Chefs auf die Beschäftigten abgewälzt wird: Von KlientInnen
abgesagte oder ausfallende Termine werden insbesondere in Praxen
nicht auf die Arbeitszeit angerechnet, sondern sind nachzuarbeiten.
Zur Überwachung der Arbeitszeit werden Stundenzettel von den
Angestellten geführt, in die die Plan-Einheiten (Soll-Zeiten)
eingetragen werden, denen am Monatsende die tatsächlich geleistete
Arbeitszeit (Ist-Zeit) gegenübersteht. Letztere wird durch die
beschriebenen Ausfälle gemindert oder durch Mehrarbeit erhöht, wenn
beispielsweise Einheiten bei Krankheitsausfällen von KollegInnen
übernommen wurden. Überstunden werden in diesen Einrichtungen von
ArbeitgeberInnen oft ebenso wenig berücksichtigt. Freizeitausgleich
oder Bezahlung? Fehlanzeige! Somit sind die Beschäftigten hier
doppelt betrogen.

Und nun?

In Praxen
findet sich die ganze Palette von Problemen, wie sie insgesamt im
Niedriglohnsektor und in prekären Bereichen zu Tage treten:
unentgeltliche Praktika, geringfügige Beschäftigung, befristete
Vertragsverhältnisse, Teilzeitarbeit, lange Arbeitstage, unvergütete
Teile eigentlicher Arbeitszeiten, fehlende Zuschläge, Überstunden,
Arbeit auf Abruf, Individualisierung beruflicher Qualifikation. Hinzu
treten die besonderen Bande zwischen ArbeitgeberInnen und
Angestellten, die sich in mangelnder Distanz am Arbeitsplatz
ausdrücken. Diese verstärken noch die Schwierigkeit, sich daraus zu
lösen und dem etwas entgegenzusetzen.

Eine
Organisierung abhängig Beschäftigter zur Verbesserung ihrer
Arbeitsbedingungen ist allein durch ihre Zahl in den einzelnen
Betrieben und ihre Streuung ungleich erschwert. Ein Bewusstsein für
ihre besondere Lage ist demgegenüber oft nicht vorhanden bzw. wird –
wie bei den MedizinerInnen – noch als temporäres Problem
begriffen. Insofern ergibt sich hieraus, dass in einem weitestgehend
unbeachteten, klassischen Niedriglohnsektor, in dem fast
ausschließlich Frauen tätig sind, mit der Anstellung von
AkademikerInnen und ErgotherapeutInnen ausgesprochen prekäre
Bedingungen Einzug gehalten haben. Die Anstellungsverhältnisse,
denen erstere zur Finanzierung ihrer Studienzeit in anderen Branchen
wie Gastronomie, Kino oder ähnlichem unterworfen waren, setzen sich
hier nur konsequent fort. Die Tretmühle des Jobberdaseins wird somit
auch nach der Studienzeit nicht mehr verlassen.

Zwar gelten
zum Teil für Medizinische Fachangestellte Tarifverträge[6], doch
lassen auch diese die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen
an vielen Stellen offen. Im Gegenteil: Hier wird sogar
festgeschrieben, dass sich diese nach den Erfordernissen der
einzelnen Praxen zu richten haben. Selbst in den Betrieben, in denen
sie gelten bzw. die sich daran orientieren, bleibt Papier geduldig:
Wo keine Klägerin, da kein Richter. Dies gilt auch für die Vielzahl
von Praxen, in denen Kollektivverträge nicht zur Anwendung kommen.
Denn mit den gesetzlichen Schutzbestimmungen, was beispielsweise
Arbeitszeit und Arbeitsschutz anbelangt, nimmt man es ebenso wenig
genau. Die Berufsverbände, die lediglich als eine Art
gewerkschaftliches Servicebüro fungieren, haben diese Situation mit
zu verantworten. Vor allem auch, wenn sie – wie bei den
TiermedizinerInnen – zugleich die Arbeitgeberseite vertreten. Oder
sich aber an den Arbeitgeberinteressen orientieren. Hier bedarf es
also einer wirklich unabhängigen, kämpferischen Alternative!

Ein Ausweg
aus diesem Dilemma könnte deshalb eine berufsgruppenübergreifende
Organisierung in lokalen, auf regionaler und bundesweiter Ebene
föderativ zusammengeschlossenen Gewerkschaften bieten. Die
Berücksichtigung lokaler und beruflicher Besonderheiten wäre hier
ebenso gewährleistet wie die volle Kontrolle über die
Entscheidungen und Vorgehensweisen in den einzelnen Betrieben durch
die Beschäftigten selbst.

Eine
Verständigungsebene unter den Angestellten an einem Ort oder in
einer Stadt wäre schnell erreicht, denn die Probleme ähneln sich in
den verschiedenen Bereichen. Die Überschaubarkeit der einzelnen
Betriebe ist gewiss Hürde, zugleich aber auch die Stärke der
Praxisangestellten – wenn sie in eine solche verwandelt und genutzt
wird! Sicherlich, es ist ein beliebter Ausspruch: „Jede ist
ersetzbar!“, doch trifft dies tatsächlich zu? ArbeitgeberInnen
können nicht von jetzt auf gleich auf alle MitarbeiterInnen
verzichten. Manchmal ist es nur erforderlich, den Anfang zu wagen,
sich nicht länger auf die individuelle Ebene zurückzuziehen,
sondern zu versuchen, die Gemeinsamkeiten herauszustellen.

Was würde
also passieren, wenn sich Angestellte an ihren ArbeitgeberInnen ein
Beispiel nähmen, die – wie auch schon in der Vergangenheit –
momentan gemeinsam mit Praxisschließungen gegen die
Gesundheitspolitik der Bundesregierung demonstrieren?

Forderungen
überbetrieblich aufzustellen, Druckmaßnahmen zu beschließen und
sich für seine Interessen einzusetzen, ist offenbar nicht schwer.
Erst recht nicht unmöglich.

Gewerkschaft
Gesundheitsberufe Hannover (GGB) – Plenum

Anmerkungen

Die Gewerkschaft Gesundheits-berufe Hannover (GGB) ist eine kleine,
basisdemokratische Ge- werkschaft, der sich neben klassischerweise
organisierten Gesundheitsberufen in Kranken-häusern und der Pflege
auch abhängig Beschäftigte aus den Bereichen Ergotherapie,
Zahn- medizin und Tiermedizin ange- schlossen haben.

[1]
PraxishelferIn oder Sprechstundenhilfe sind nur weit verbreitete
umgangssprachliche Bezeichnungen. Die offizielle Berufsbezeichnung
ist Medizinische Fachangestellte (MFA), bis zum 31. Juli 2006
ArzthelferIn. Es handelt sich hierbei um einen klassischen
Assistenzberuf. Dieser entstand erst in den 50er Jahren. MFA arbeiten
überwiegend in Arztpraxen zur Unterstützung von ÄrztInnen.

[2]
Sittenwidrige Löhne: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilt, dass
Sittenwidrigkeit dann vorliegt, wenn sich Stundenlöhne ein Drittel
unter dem Tariflohn bzw. unter dem ortsüblichen Lohn bewegen.

[3] Als ein
Kriterium von Gewerkschaften gilt nach der Definition des BAG ihre
„Gegnerfreiheit“. In ihre Reihen dürfen keine
Arbeitgeber(-vertreter) aufgenommen werden.

[4] Der
Verband medizinischer Fachberufe e.V. wurde 1963 als Berufsverband
der Arzthelferinnen e.V. (BdA) gegründet. Neben den Aufgaben eines
Berufsverbandes wie Öffentlichkeitsarbeit und Bildungspolitik, nimmt
er zugleich die Aufgabe einer Gewerkschaft wahr. Nach seinem eigenen
Verständnis ist er partnerschaftlich ausgerichtet.

[5]
Dosimeter: Messgeräte zur Messung der Strahlendosis.

[6] 1969
wurde der erste Tarifvertrag für Arzthelferinnen abgeschlossen. 1982
folgte der erste Kollektivvertrag für Zahnarzthelferinnen, 1987 für
Tierarzthelferinnen. Heute bestehen zwischen dem Verband
medizinischer Fachberufe e.V. auf Arbeitnehmerseite und der
„Arbeitsgemeinschaft zur Regelung der Arbeitsbedingungen der
Arzthelferinnen bzw. Medizinischen Fachangestellten“ (AAA) sowie
dem Bundesverband Praktizierender Tierärzte (bpt) auf
Arbeitgeberseite zwei Tarifverträge auf Bundesebene und mit der
„Arbeitsgemeinschaft zur Regelung der Arbeitsbedingungen für
Zahnmedizinische Fachangestellte“ (AAZ) in Hamburg, Hessen und
Westfalen-Lippe auf Landesebene. Bis zum 1. Juli 2009 gehörte zudem
Berlin der AAZ an, das seinen Austritt erklärte. Aufgrund der
Nachwirkung gilt für Berlin jedoch der alte Vergütungstarifvertrag
vom 01.07.2007 weiter. Die Tarifverträge finden sich unter:
http://www.vmf-online.de/verband/gewerkschaftsarbeit

Fotos: Jens
Kammradt

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