Zahlenspiele

Seit Jahren klagen die Gewerkschaften
über den Lehrstellenmangel in der Bundesrepublik. Auch 2010 hat sich
daran nichts Wesentliches geändert. In dem am 1. August 2010
begonnenen Ausbildungsjahr stehen laut DGB-Jugend lediglich 405.000
Lehrstellen für 511.000 BewerberInnen zur Verfügung. Trotz dieser
Tatsache, lässt eine jüngst erschienene und viel zitierte Studie
der Bertelsmann-Stiftung das Gegenteil vermuten. Insbesondere in
Ostdeutschland überaltere die Bevölkerung, in Sachsen-Anhalt
beispielsweise werde sie bis 2025 um 17% schrumpfen. Jeder zweite sei
dann älter als 54 Jahre. Die Leitmedien sprechen infolgedessen von
der „demographischen Krise
(Süddeutsche)
und zitieren ostdeutsche Unternehmer, die keine qualifizierten und
leistungsbereiten Azubis mehr finden würden.
In der taz erklärt
ein Elektriker, dass er für
seine drei Lehrstellen nicht mehr 80, sondern nur noch 50 Bewerbungen
erhalte.

In dieselbe Richtung zielt eine Umfrage
der Handelskammer Schwerin unter Ausbildungsbetrieben, die „mangelnde
Ausbildungsreife
als Ursache für
nicht besetzte Ausbildungsplätze
ausmacht. Lediglich 25% der Befragten nennen Faktoren wie ungewisse
Zukunftsaussichten oder eine unsichere Auftragslage. In der Folge
werden Anwerbeprogramme entwickelt: Mit dem Slogan Dein
Land, deine Chance – Durchstarten in MV
soll Jugendlichen eine betriebliche Ausbildung schmackhaft gemacht
und gelernte Fachkräfte
für das
Flächenländchen
an der Ostsee begeistert werden. So sieht es nicht nur in
Mecklenburg-Vorpommern aus: Laut Ausbildungsagentur Nord waren Anfang
August noch 3.600 Ausbildungsplätze
unbesetzt. Doch auch im Osten kommen 85.484 BewerberInnen auf nur
66.088 Ausbildungsplätze.

In der
Konsequenz zeigen sich zwei Dinge: Erstens die Dehnbarkeit von
Statistiken. Zweitens die Anspruchshaltung der Ausbildungsbetriebe,
die praktisch nur noch überqualifizierte Azubis auswählen. Udo
Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung kritisiert in der
Jungen Welt, dass die Chancen von
HauptschulabsolventInnen auf dem Bildungsmarkt „gegen Null
gingen. Viele von ihnen werden pauschal als nicht
ausbildungsreif
abgestempelt und mit sogenannten berufsvorbereitenden
Maßnahmen
beschäftigt.
Folglich hat auch ein großer Teil jener 17% der 20- bis 30-jährigen,
die einem kürzlich
vorgestellten Bund-Länder-Bericht
zufolge über keine
Berufsausbildung verfügen,
nur
diesen Schultyp besucht. Auch andere Fakten werden in der
Bertelsmann-Studie nicht erwähnt.
Insbesondere im Osten ist der Grad an Prekarität
in der Arbeitswelt wesentlich höher
und in Regionen, in denen keine hohen
Tariflöhne
(FAZ) gezahlt werden, dürfte
sich auch die Motivation der potenziellen zukünftigen
TagelöhnerInnen in
Grenzen halten, eine Ausbildung in dieser Region zu wählen.
Daran wird auch kein Anwerbungsprogramm etwas ändern.

Adrian Beyer

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