Stuttgart 21: Aufruhr im Ländle

Protest im Bahnhof am Tag X (Foto: Thomas Trueten, Umbruch Bildarchiv Berlin)Als
im Jahr 2006 der Landtag von Baden-Württemberg den
Grundsatzbeschluss fällte, den Stuttgarter Hauptbahnhof unter die
Erde zu bringen, war es noch ruhig im Ländle. Und so blieb es bis
ins Jahr 2009, als sich die Projektpartner Bund, Land, Bahn und Stadt
über die Finanzierung einigten und die definitive Umsetzung des
Projekts Stuttgart 21 anschoben.

Das
brachte die GegnerInnen auf den Plan: Zunächst waren es wenige, die
ihre Montagsdemos vor dem Bahnhof abhielten. Ausgehend von der
ökologisch-bürgerlichen Mitte breitete sich die Protestbewegung von
links-revolutionären Gruppen bis in das konservativ-schwarze Lager
aus. Mittlerweile finden sich zu Demonstrationen bis zu 40.000
Menschen ein. So widersprüchlich das Spektrum, so vielfältig die
Kritikpunkte und Forderungen. Was sie eint, ist die Forderung nach
Beibehaltung des Kopfbahnhofs und mehr Basisdemokratie. Hierfür
besetzen sie mittlerweile Gleise und stellen sich Polizeipferden in
den Weg.

Doch
was ist eigentlich so schlimm an Stuttgart 21? Zunächst wie es
beschlossen wurde: Über die Köpfe der Menschen hinweg. Begründet
wird dies mit dem Recht der Entscheidungsträger in der
parlamentarischen Demokratie. Hier steht S21 exemplarisch für eine
generelle Kritik. Auch die Verquickung von Politik und Wirtschaft ist
beispielhaft: Der Erste Bürgermeister war bis zum 9. August 2010 im
Beirat der Baufirma, die den Abbruch durchführt. In seiner
Rücktrittserklärung bedauerte er seine mangelnde „politische
Sensibilität“.

Es
sind aber auch die entstehenden Kosten: Im kommunalen Bereich gibt es
aufgrund der knappen Haushalte Kürzungen. So müssen die städtischen
Jugendhäuser ihr Angebot reduzieren. In einzelnen wird gar daran
gedacht, von den Kindern Geld für ein Glas Leitungswasser zu
verlangen. Andere Jugendhäuser wurden schon geschlossen. Die Kosten
für S21 stellen aber offensichtlich kein Problem dar – auch wenn
sie sich mittlerweile nahezu verdoppelten: Von 2,8 Mrd. auf nun
mindestens 4,6 Mrd. Euro, Stand August 2010. Eine andere Studie geht
von bis zu 11 Mrd. Euro aus.

Es
steht zu befürchten, dass dies auf Kosten der ArbeiterInnen geht.
Mit der ab Mai 2011 uneingeschränkt geltenden Freizügigkeitsregelung
können Leiharbeitsfirmen Menschen innerhalb der EU verkaufen – zu
den im Heimatland üblichen Löhnen. Die unmenschliche Praxis der
Leiharbeit ist damit auf einem neuen moralischen Tiefpunkt angelangt.
S21 wird die größte Baustelle Europas und somit der größte
Nutznießer dieser Regelung sein. Nicht zu vergessen, dass
Kostendruck zu Arbeitsunfällen führt. Wir wollen am jährlichen
„Workers Memorial Day“ keine Opfer der Mega-Baustelle betrauern
müssen.

Ein
vielbemühtes Argument für die Tieferlegung des Bahnhofs ist die
Schaffung neuer Wohnflächen in der Innenstadt. Die Gleise, die
bisher die Stadt zerschneiden und der von vielen als hässlich
empfundene Bahnhof würden Parkanlagen und Wohnungen weichen. Aber
wer soll sich die Wohnungen leisten können? Stuttgart belegte beim
Mietpreisranking 2010 den fünften Platz deutschlandweit. Bei
durchschnittlich 4300 Euro pro m² dürfte der Neubau in der
Innenstadt die Mietpreise im gesamten Stadtgebiet erhöhen und das
Stadtzentrum endgültig gentrifizieren.

Blockade des TGV am Tag X (Foto: Thomas Trueten, Umbruch Bildarchiv Berlin)Der
Protest hat in der Region eine ungeheure Kraft entwickelt, die selbst
gemäßigte Bürger zu zivilem Ungehorsam treibt und sie diese Grenze
sogar überschreiten lässt. Am Tag des Abrisses legten einige
tausend DemonstrantInnen die gesamte Innenstadt lahm: Es wurden
Barrikaden auf Bundesstraßen errichtet, wichtige Kreuzungen
blockiert und Polizeiabsperrungen überwunden. Bei einer der größten
Demonstrationen durchbrachen am 27. August Tausende die Bannmeile des
Landtags. Mittlerweile gibt es vom sichtlich beeindruckten Bahnchef
Grube ein Gesprächsangebot. Es wird sich zeigen, ob dieses Angebot
ernst gemeint ist oder nur dem Zeitgewinn dient. Die FAU Stuttgart
wird sich innerhalb der Proteste jedenfalls weiter einbringen und auf
die sozialen und arbeitsrelevanten Probleme durch S21 hinweisen.

Steffen
Barkling, FAU Stuttgart

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