Glaubenskrieg um Streikrecht

Wie steht es um die im Grundgesetz verbriefte Koalitionsfreiheit?

Ob sie nun im Herbst kommt, im Frühjahr
oder gar nicht – gesicherte Informationen zur sogenannten „Rettung
der Tarifeinheit“ gibt es keine. Der PR-Krieg ist aber in vollem
Gange. Mit Verweis auf ein Gutachten des Staatsrechtlers Scholz
erklärte der Unternehmerverband BDA Ende Juli, eine entsprechende
Regelung sei verfassungsrechtlich unbedenklich – entgegen der fast
einhelligen Skepsis der Fachwelt.

Im Juni hatte das Bundesarbeitsgericht
einen wichtigen Stützpfeiler seiner konservativen Rechtsprechung
aufgegeben und es für zulässig erklärt, dass in einem Betrieb
mehrere Tarifverträge nebeneinander gelten können. Wenn es nun
unklar ist, welcher Tarif zur Anwendung kommt, zählt allein die
Gewerkschaftszugehörigkeit. So können die christlichen Haus- und
Hofgewerkschaften nicht mehr die Flächentarife der IG Metall
unterlaufen. Vor allem aber sind nun zweifelsohne auch Streiks einer
Gewerkschaft möglich, wenn bereits Tarif und Friedenspflicht einer
anderen Gewerkschaft gelten (Direkte Aktion berichtete). Diese
Verquickung von Streik- und Tarifrecht ist übrigens eine
bundesdeutsche Eigenheit und recht zweckrational: Das geringe
Streikaufkommen hierzulande, das mit einem Reallohnverlust zwischen
1998 und 2008 einherging, gilt in Unternehmer- und Regierungskreisen
schon lange als Standortvorteil.

Genau deshalb erklären
unternehmerfreundliche Verbände – dazu zählen auch die Spitzen
der DGB-Gewerkschaften – eine gesetzliche Wiederherstellung der
Tarifmonokultur für dringend notwendig. Demnach soll, dem
„Mehrheitsprinzip“ gemäß, nur die größte Gewerkschaft im
Betrieb einen Tarifvertrag unterzeichnen können. Die Friedenspflicht
gilt dann aber für alle. Neu ist diese Regulierungswut nicht.
Bereits vor Jahren hatten die Vorstände der Deutschen Bahn und der
Lufthansa gesetzliche Regelungen gefordert, die alle Gewerkschaften
an den Verhandlungstisch zwingen sollten.

Uneinigkeit in den
Gewerkschaften

Dagegen halten die
Spartengewerkschaften eine solche Initiative für verfassungswidrig.
Denn wenn eine Gewerkschaft in ihrem Kernfeld, dem Arbeitskampf,
nicht selbstständig handeln darf, besteht das Grundrecht der
Koalitionsfreiheit nur noch auf dem Papier. Daher bewertete der
Tübinger Professor Reichold eine Änderung des Tarifvertragsgesetzes
im Sinne des BDA und DGB als „verfassungswidrigen Eingriff“ in
die Tarifautonomie. Zwei weitere Gutachten der renommierten
Arbeitsrechtler Däubler und Rieble kommen zu demselben Ergebnis:
„Die von DGB und BDA vorgeschlagene Regelung schließt die
Minderheitsgewerkschaften faktisch vom Abschluss von Tarifverträgen
und vom darauf bezogenen Streikrecht aus.“

Justiz- und Arbeitsministerium halten
sich offiziell zwar bedeckt, aber sie „prüfen“ den Sachverhalt.
Auch der Bundesrat beschäftigt sich, auf Antrag des SPD-geführten
Rheinland-Pfalz, mit der Frage. Im September soll es erste offizielle
Anhörungen geben. Das Ende der Tarifeinheit könnte also Geschichte
sein, bevor es Geschichte machen konnte. Das wäre ein herber Schlag
gegen bürgerliche Freiheitsrechte. Eine Einschränkung des
Streikrechts befürchten etwa der Ver.di-Bezirk Bayern und die
JournalistInnen-Union. Dieses Risiko dürfe nicht eingegangen werden,
heißt es in der DJU-Erklärung, „selbst wenn man sich kurzfristig
einen ordnungspolitischen oder organisationspolitischen taktischen
Vorteil in einzelnen Branchen erhofft.“

In den Reihen der
Linkspartei war es wohl der anti-liberale Beiß-Reflex, der sie als
erste Partei an die Seite der Tarifmonopolisten führte. Ohne
Tarifeinheit sei die Bahn frei für Dumpinglöhne und gelbe
Gewerkschaften, so hieß es bald auch bei der SPD. Die Tarifautonomie
sei in Gefahr! Genau das Gegenteil ist der Fall: Tarifautonomie steht
für die Nicht-Einmischung des Staates in Arbeitskonflikte, egal wie
viele Akteure sich gegenüberstehen. Inzwischen vollzog die
Linkspartei eine Kehrtwende und erklärte, die Gesetzesinitiative
nicht mehr vorbehaltlos zu unterstützen. Der Ver.di-Vorstand
hingegen bekräftigte den Kurs des DGB.

Für die kleineren
Gewerkschaften steht die Frage der Tarifvielfalt naturgemäß ganz
oben auf der Tagesordnung. Man werde sich „mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln zur Wehr setzen“, sagte ein Vertreter des
Marburger Bundes. Die FAU Frankfurt erinnerte derweil daran, dass in
der Bundesrepublik weitere Einschränkungen der Gewerkschaftsfreiheit
bestehen, die UN-Mindeststandards der Internationalen
Arbeitsorganisation ILO verletzen.

André Eisenstein

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