Risse in der Wirklichkeit

Wer spielt hier mit wem? BRD-Kindheit zwischen Konsumgesellschaft und Kleinfamilie

Eins steht
fest: Der Autor Jens Grünberg weiß Sprache zu gebrauchen. Dies
stellt er auch in seinem Erstlingsroman „Im
Wirtschaftswunderdeutschland“ unter Beweis, der jetzt im
Wiesenburg-Verlag erschien. Sittengemälde, Familiensaga, politischer
Roman mit autobiografischen Zügen – man verspürt wenig Lust, ihn
in einer dieser Schubladen zu zwängen.

In die
Wiege gelegt

Grünberg
erzählt die Geschichte eines Kindes, das mit „Hasenscharte“ zur
Welt kommt und sich in einer Umgebung zurechtfinden muss, die ihm
Unbehagen bereitet. Es ist die Zeit des sogenannten
„Wirtschaftswunders“. Später, mit Jugend und Alter, wirkt sie
nur noch entfremdet. Der Weg führt den Ich-Erzähler zunächst durch
die sterile, weiße Welt der Krankenhäuser – Operationen,
künstliche Ernährung, Schmerzen. Unverstandensein. Auch später
noch: Immer das Gefühl, abschätzend behandelt zu werden. „Mitleid
ist die gemeinste Waffe des Bürgers.“

Wie so
viele, waren die Großeltern väterlicherseits, aus Pommern stammend,
vor der heranrückenden Roten Armee in Richtung Westen, ins
Dithmarsche, Schleswig-Holstein, geflohen. Oder vielmehr die
Großmutter, denn der Großvater war noch an der Front. Ihr kleines
„Glück“, das nur aus Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit in der
Landwirtschaft zu bestehen scheint, wird noch knapp zwanzig Jahre
später nur vom Schmerz über den Verlust des einstigen Hofes
getrübt. Ansonsten will man von der Geschichte nichts wissen –
oder gewusst haben. Man wählt deutsch-national, CDU, und trifft sich
zum landsmannschaftlichen Kaffeeklatsch, um über die guten alten
Zeiten zu schwadronieren. Ja, der Sohn, der soll es einmal besser
haben. Insgeheim hoffen sie, dass er ihren kleinen Hof im
Holsteinischen einmal übernimmt. Doch der hat ganz anderes im Sinn:
Raus aus dem tristen Landleben, weg von der Aussicht, sich tagein
tagaus für das bisschen Auskommen krumm machen zu müssen. Ihn zieht
es hinaus in die Stadt. Er will Ingenieur werden, studieren.

Die Oma
mütterlicherseits hatte ihre Kindheit auf einer Farm in
Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, verlebt. Anfänglich
lauscht der Ich-Erzähler noch gebannt ihren Geschichten. Sie ist
etwas Besonderes, eine Großmutter, die man stolz vorzeigen kann vor
den anderen Kindern. Erst später stellen sich Fragen, Fragen nach
dem rassistischen Weltbild. Von ihrem Ehemann, der bei der Waffen-SS
war, hatte sie sich Anfang der 60er Jahre scheiden lassen.

Aus den
Fronturlaubsbesuchen waren drei Töchter hervorgegangen, darunter
auch die Mutter des Ich-Erzählers. Die Großmutter brachte sich und
ihre Kinder mit Wasch- und Putzarbeiten für die feinen Leute durch,
später mit Fabrikarbeit. Den Großvater hielt sie noch jahrelang
aus, selbst als er sich längst aus dem Staub gemacht hatte. Nun,
20-jährig, unverheiratet, noch nicht fertig mit der Ausbildung, wird
die Mutter schwanger.

Kleinbürgerliche
Träume und Ausbruch

Die jungen
Eltern des Ich-Erzählers träumen von einem anderen Leben. Von
Teilhabe am „Wirtschaftswunder“, am Wohlstand, am Konsum. Sie
streben nach Absicherung. Am Ende soll es ja auch für die Kinder
sein. Und so flüchten sie sich in Entsagung, unermüdliche Arbeit,
die Welt der Haushaltsbücher und Bausparverträge. Immer den Traum
vom „Haus im Grünen mit schönster funktionaler Einbauküche sowie
repräsentativer Polstergarnitur“, dem abgezäunten Vorgarten, in
dem die Kinder einmal spielen sollen, vor Augen. Eine
kleinbürgerliche Idylle eben.

LeserInnen
werden unweigerlich mitten hineingezogen in die Geschichte. Man
möchte ausbrechen, wegrennen. Der Ich-Erzähler vollzieht diese
Grenzziehung. Bisweilen in Zeitsprüngen in die 90er. Sie bohren sich
wie Splitter in die Handlung. Diese erscheint dadurch wie eine
Rückblende, als lebhafte Erinnerungen eines politischen Menschen. In
Stationen: Totale Kriegsdienstverweigerung, Häuserkampf, in
autonom-antiimperialistischer Tradition stehende linksradikale
Bewegung.

Problematisch

Einige, in
die Romanhandlung einfließende Positionen reizen dabei zwangsläufig
zum Widerspruch, denn der „bewaffnete Kampf“ der „Leninisten
mit Knarre“ stand von jeher im scharfen Gegensatz zum
anarchosyndikalistischen, gesellschaftlichen Ansatz. Nicht weniger
als der Gebrauch des Begriffs „Kader“, auf den sich der Autor
offenbar positiv bezieht. Fraglich erscheint es auch, die Gewalt
seitens Angehöriger der Roten Armee so pauschal mit „schlimmsten
Gräuelgeschichten“ abzutun. Sexualisierte Gewalt hat es gegeben,
Zwangsarbeit und Sibirien ebenfalls. Der Autor meint hier zwar die
Nazi-Propaganda, die die Bevölkerung bis zum letzten mobilisieren
sollte, um sich aus Angst vor angeblich zu erwartenden Grausamkeiten
todesmutig dem vermeintlichen „Erzfeind“ entgegen zu werfen. Der
etwas flapsige Ausdruck vermittelt demgegenüber aber etwas anderes.
Das ist problematisch.

Dennoch:
Grünbergs Geschichte hat Tiefe und ist doch mit der nötigen
Leichtigkeit ausgestattet, um bis zur letzten Seite zu fesseln. Ihrer
Tragikomik kann man sich schwerlich verschließen. Mal
augenzwinkernd, mal bissig, mal wütend nimmt der Autor Charaktere
und Situationen aufs Korn, lenkt den Blick auf die Verklemmtheit,
Verschrobenheit und Doppelmoral jener Zeit, gegen die die
StudentInnenbewegung nur wenige Jahre darauf rebellieren sollte.

Anarr

 

Wer spielt hier mit wem? BRD-Kindheit zwischen Konsumgesellschaft und Kleinfamilie


Buchdaten

Jens Grünberg: Im
Wunderwunder Deutschland. Wiesenburg-Verlag, Mai 2010, broschiert,
184 Seiten, ISBN: 9783940756992. Preis: 12, 80 Euro

 

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