Proletarität und ihre Kultur

Anarchosyndikalismus heute

Mit dieser Ausgabe der DA möchten
wir eine neue Rubrik einführen. Sie soll eine Diskussionsseite
darstellen, auf der verschiedene Aspekte des Anarchosyndikalismus
thematisiert werden. Im Vordergrund steht dabei eine aktuelle
Perspektivenbestimmung. Historisch gewachsene Konzepte, Theorien,
Strategien und Methoden des Anarchosyndikalismus sollen vor dem
Hintergrund aktueller Situationen kritisch geprüft bzw. gewürdigt
werden, so dass ein Beitrag dazu geleistet wird, eine klarere
Vorstellung von einer anarchosyndikalistischen Praxis im Hier und
Jetzt zu entwickeln. Den Anfang machen wir mit einem Beitrag von
Teodor Webin, der sich allgemein mit der Frage nach der Aktualität
des anarchosyndikalistischen Konzeptes beschäftigt. Wir sind
gespannt, wie sich die Diskussion entwickeln wird, und hoffen, dass
die Fragen, die uns beschäftigen, im Laufe der Zeit zunehmend
konkretisiert werden.

Selbstverständlich werden die
einzelnen Beiträge nicht zwangsläufig der Meinung der Redaktion
oder der gesamten FAU entsprechen. Kontroverse Positionen werden
deshalb nicht ausgeschlossen sein. Wer Interesse hat, sich an der
Diskussion zu beteiligen, sei es, weil er/sie etwas auf einen Beitrag
erwidern bzw. daran anknüpfen oder etwas anderes thematisieren
möchte, das ihm/ihr unter den Nägeln brennt, der oder die melde
sich bitte zwecks Absprache bei der zuständigen Redaktion
(da-bug@fau.org).

Sicher werden wir, sollte es viel
Resonanz geben, nicht alle Beiträge (in voller Länge) in der DA
abdrucken können. In diesem Falle werden wir eine Seite auf unserer
Website einrichten, die alle Beiträge ungekürzt erfasst.

Eure Redaktion BuG

Es ist typisch, dass sich die „andere
Arbeiterbewegung“ ihre eigenen Organisationen geschaffen hat,
schafft und schaffen wird. Für viele ArbeiterInnen bedeutet
gewerkschaftliches Engagement eben mehr, als regelmäßig Beiträge
zu zahlen. Für die Streikpraxis der etablierten Gewerkschaften haben
sie, sowohl was Methoden, als auch was (Miss-)Erfolge angeht, nur ein
müdes Lächeln übrig. Sie gehen mit gewerkschaftlichen
Institutionen à la DGB und Betriebsräten entsprechend anders um;
sie vertrauen ihnen nicht.

So ist letzten Endes auch die FAU
entstanden, auch wenn sie nie alle „Unorganisierbaren“ integriert
hat. So erklärt sich die vorübergehende Größe der FAUD Anfang der
1920er Jahre, so erklärt sich die kleine Renaissance des
Anarchosyndikalismus Anfang des 21. Jahrhunderts.

Letzten Endes ist das eine Stärke der
FAU: Sie ist nicht wichtig, weil sie als Institution immer besteht
und medial wichtig sein kann, sondern weil sie dann interessant wird,
wenn ein (klassen-)kämpferisches Ereignis geschieht, das
unvorhersehbar erschien.

Anarchosyndikalismus wird dann
interessant, wenn akute Kämpfe ausgefochten werden oder durch akute
Kämpfe Einzelpersonen „politisiert“ wurden, wenn die Kämpfenden
für die hegemonialen Organisationen uninteressant sind und wenn
diese als ökonomische Opposition entsprechend kein Partner mehr sein
wollen.

Faktor Klassenzusammensetzung

Wir müssen keine Verelendungstheorie
bemühen, um festzustellen, dass anarchosyndikalistische
Organisationen immer dann im Aufwind waren, wenn es zu einer neuen
Klassenzusammensetzung kam. Das Diktum der Wobblies, „Die
arbeitende Klasse und die besitzende Klasse haben nichts gemein“,
gilt zwar durchweg, aber das Bewusstsein des Nichts-gemein-Habens im
ökonomischen Sinne war denen, die neu und härter ausgebeutet
wurden, bis heute näher. Karl-Heinz Roth hat in seiner historischen
Untersuchung über die „andere Arbeiterbewegung“ gezeigt, dass es
in der Geschichte die neuen ausgebeuteten Klassenfragmente waren,
die, fernab von einem Berufsstolz oder der Identifizierung mit dem
arbeitgebenden Betrieb, zu radikalen Methoden griffen.

Wir können Roths These noch dahin
zuspitzen, dass ein Klassenbewusstsein in erster Linie das
Bewusstsein über die eigene Ausbeutung ist, das entsteht, wenn reale
Kämpfe geführt werden und schlussendlich in Folge das Bedürfnis
entsteht, sich gemeinsam auf Klassenbasis zu organisieren – nach
dem Kampfzyklus. Anarchosyndikalistische Organisationen sind insofern
der Versuch, radikale Formen von Protest zu verstetigen.

Die „Wiederkehr der Proletarität“,
die Karl-Heinz Roth 1992 diagnostizierte, kommt momentan zu ihrer
Verwirklichung. Mit den Arbeitsbedingungen in Callcentern,
Zeitarbeitsfirmen und der Situation von Erwerbslosen in Zeiten von
Hartz IV hat sich ein Klassenfragment gebildet, an dem der DGB wenig
Interesse hat, da sich dieses Fragment nicht aus zahlungskräftigen
Mitgliedern rekrutiert. Ganz im Gegenteil: die Ladenkassiererin oder
der Callcenter-Agent zahlen so wenig an Beiträgen, dass die
Einzelgewerkschaft bei der Organisierung dieser Klientel draufzahlt.
Die Forderungen dieser Klientel sind selten geeignet, Massen zu
mobilisieren, und schon gar nicht, mit ihnen „Politik“ zu machen.

Soweit diese Gruppe denn das Bedürfnis
nach Verstetigung des Protests hat und gewerkschaftlich orientiert
ist, sucht sie nach Alternativen. Und da ist neben der FAU nicht
viel.

Zeiten des Kampfes

Die FAU ist im Laufe ihrer Geschichte
davon geprägt worden, dass sie von Menschen getragen wurde, die sich
mit der Geschichte und Theorie des Anarchosyndikalismus beschäftigt
haben und diese plausibel fanden. Durch solche IdealistInnen hat die
FAU ihre „Tiefs“ überlebt. Allein, Anarchosyndikalismus war nie
nur eine Sache der Theorie. Dogmatiker jeglicher Couleur mögen der
FAU das vorwerfen, aber genau das ist ihre Stärke:
Anarchosyndikalismus gewinnt an Profil, wenn Menschen anfangen zu
kämpfen und aus diesen Kämpfen die Erkenntnis einer Notwendigkeit
von Organisation erwächst – gemeinsam mit der Erkenntnis, dass die
bestehenden Organisationen nicht helfen können.

Dass wir momentan eine Phase wachsender
Kämpfe haben, wenn auch nicht in einem historischen Ausmaß, zeigen
auch reformistische Strömungen: Mindestlohnforderungen, die bis weit
in die CDU getragen werden, ein vermeintlicher allgemeiner
Linkstrend, wie die Zeit kürzlich diagnostizierte, und vor allem die
maßgeblich wachsende Zahl an Streiks.

Gerade letztere sind, betrachtet man
sie genauer, in den letzten Jahren vermehrt von einer heterogenen
Basis getragen worden, während die Gewerkschaften des DGB mit aller
Kraft versuchen, sie zu vermeiden oder zumindest zu verkürzen, da
sie erstens ein finanzielles Risiko darstellen und zweitens die
autoritär-institutionelle Argumentationsmacht schwächen. Das
Proletariat fühlt sich in seinen Interessen vom DGB nicht mehr
vertreten. Das ist keine Organisationsverdrossenheit, sondern ein
Schritt auf der Suche nach einer adäquaten Organisationsform.

Getrübte Sicht

Soviel zur Notwendigkeit und dem
Bedürfnis nach neuen, anderen Organisationen. Doch müssen wir
feststellen, dass fast alle Streiks der letzten Zeit verloren wurden
oder halbgare Ergebnisse erzielten. Das ist mit dem Gekusche des DGB
allein nicht zu erklären, sondern hat seinen Grund auch darin, dass
nicht jene Fragmente des Proletariats kämpfen, die eine
entsprechende Arbeitermacht haben, sondern jene, die es besonders
nötig haben. Ein kurzer Blick auf die Streiks der letzten Jahre
zeigt, dass die Arbeiterkämpfe, die in relevanten Sektoren – neue
Dienstleistungen und insbes. der Transportsektor, wie etwa der
staatlich boykottierte GDL-Streik zeigt – stattfanden,
erfolgreicher waren als andere Arbeiterkämpfe.

Es gibt aber einen massiven Überhang
von Proletarisierten, gerade im Dienstleistungssektor, die sozial
deklassiert wurden und sich dagegen wehren, proletarisch zu werden:
Das gilt etwa für Intellektuelle und AkademikerInnen, denen das
neoliberale Diktum „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“
soweit eingeimpft wurde, dass sie, selbst wenn sie sich als Linke
verstehen, dem Irrglauben verfallen sind, allein wieder aus der
Misere zu entkommen.

Ein zweites Klassenfragment bilden die
schon abgeschriebenen „Überflüssigen“. Im Gegensatz zu den
Intellektuellen, die glauben, sich alleine befreien zu können, haben
einige von ihnen keine Hoffnung mehr in eine Veränderung der eigenen
und allgemeinen ökonomischen Zustände. Entweder sie resignieren
oder setzen auf die Befreiung eines eingebildeten, begrenzten
Kollektivs: auf die nationale Zugehörigkeit.

In Folge dessen orientiert sich ein für
die „andere Arbeiterbewegung“ relevanter Teil heute nicht mehr
syndikalistisch, sondern schlicht und einfach faschistisch. Die
hegemoniale Kultur von Deutschpop bis Fußball-WM tut ihr übriges,
um diesen Trend zu verstärken.

Gegendiskurs

Der traditionelle Anarchosyndikalismus
hatte eine Antwort darauf: Neben der direkten ökonomischen Aktion
setzte er auf Kultur. Diese ist ein wesentliches Element des
Anarchosyndikalismus, an dem es heute massiv hapert.

Das liegt keineswegs am kulturellen
Desinteresse: Kultur im weiteren Sinne umfasst einen spätestens 1973
einsetzenden und in den 1990er Jahren dominierend werdenden Diskurs,
der die Existenz von Klassen leugnet und die Selbstständigkeit des
Individuums betont. Dieser Diskurs macht auch vor gestandenen
AnarchistInnen nicht Halt. Parallel dazu etabliert sich ein neuer
banal-nationalistischer Diskurs, der ähnlich integrativ wirken kann.

Es wäre an der Zeit, in die kulturelle
Offensive zu gehen. Das ist aber einfacher gesagt als getan. Zu
Hochzeiten des Anarchosyndikalismus gab es eine dezidiert
kollektivistische Arbeiterkultur, die durch ihre Bedürfnisse geprägt
war. Ersetzt wurde diese durch zahlreiche Subkulturen. Wie soll der
Anarchosyndikalismus eine proletarische Kultur etablieren, wenn der
Chef gemeinsam mit dem Proletarier auf das Punkoder HipHop-Konzert
geht. Es ist kein Wunder, wenn der ökonomische Hauptwiderspruch –
„nichts gemein“ – durch gemeinsame kulturelle Vorlieben
vertuscht ist, dass ein Großteil des Proletariats die Differenz
nicht mehr nachvollziehen kann und will.

Abstruse Strömungen, die sich selber
libertär nennen, sind entsprechend zu dem Schluss gekommen, dass
jeder Mensch gerne Kapitalist sein möchte. Stellen wir das Argument
vom Kopf auf die Füße, dann geht es darum, dass niemand Arbeiter
sein möchte. Auch das ist am Streikgeschehen ersichtlich: Niemand
kämpft für seine Arbeit, sondern alle darum, möglichst wenig
arbeiten zu müssen. Hohe Abfindungen oder bessere
Arbeitsbedingungen, die die Möglichkeit eröffnen, zu studieren,
sich selbstständig zu machen oder weniger fremdbestimmt zu arbeiten,
sind oft die Argumente für einen Arbeiterkampf. Wer am Arbeitsplatz
klaut oder die Arbeitsbedingungen sabotiert, macht das, um möglichst
wenig zu arbeiten – womit wir wieder bei der „anderen
Arbeiterbewegung“ wären, jener, die keine Loyalität mit dem
Betrieb verpflichtet, sondern allein ihr besseres Leben.

Fazit

Zu der absurden Konsequenz, dass alle
Kapitalisten sein wollen, kann man nur kommen, wenn man in
Klassengesellschaften denkt: Es geht allein darum, dass niemand gerne
ausgebeutet wird und daher nicht gerne Prolet ist. Die Auflösung der
Klassengesellschaft ist ein Urgedanke jedes Kommunismus und
Sozialismus. Das Interesse des Proletariats ist nicht, Arbeiter zu
sein und auch nicht, Kapitalist zu werden, sondern nicht in diese
Struktur eingebettet zu sein.

Letzten Endes heißt das für eine
anarchosyndikalistische Perspektive: Um sich kulturell zu etablieren,
muss auf das Bedürfnis eingegangen werden, nicht oder möglichst
wenig zu arbeiten. Gleichzeitig muss dieser Gedanke kollektivistisch
sein. Eine Arbeiterkultur muss auf das Bedürfnis eingehen, nicht
mehr fremdbestimmt arbeiten zu müssen, gerade deswegen aber auch die
momentanen, gemeinsamen Bedingungen der Arbeitswelt thematisieren.
Die gerne gestellte Frage „Reform oder Revolution“ stellt sich so
gar nicht, denn beide Strategien entspringen demselben Interesse,
nicht ausgebeutet zu werden.

Teodor Webin

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