„Die neun Leben des Nestor Machno“

Im Sommer 2006 kam eine Fernsehserie über Machno und die
Machnowtschina (die bekannte libertäre Bauernbewegung in der Ukraine, die
während der Russischen Revolution von 1917-1921 gegen Weißgardisten,
ukrainische Nationalisten und Bolschewisten kämpfte) auf die russischen
Bildschirme. Die Produzenten des Films – und mehr noch die TV-Werbespots –
priesen sie als „ersten wahrheitsgetreuen Film über Machno“ an, der endlich dem
Mann Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte, über den in der UdSSR so viel
gelogen worden war, der aber von der Bevölkerung nie ganz vergessen wurde.

Machnowtschina als Seifenoper

Der Film „Die neun Leben des Nestor Machno“ ist wahrscheinlich
die längste Biographie eines Anarchisten, die jemals auf die Leinwand gebracht wurde
– er besteht aus 12 Teilen. Er wurde vor etwa zwei Jahren in der Ukraine
gedreht, aber aus irgendeinem Grund nur vom staatseigenen russischen Kanal 1
ausgestrahlt. Schon vorher erschien eine Raubkopie auf DVD und wurde zum
Verkaufsrenner. Kurz vor der Fernsehausstrahlung und der Publikation der
„autorisierten“ DVD-Version erschien außerdem das Filmskript als zweibändige
Buchausgabe.

Als der Film schließlich im Juli 2006 lief, erreichte er
eine hohe Sehbeteiligung, was nur teilweise auf die intensive Bewerbung
zurükkzuführen war, sondern mehr noch darauf, dass es sich tatsächlich um den
ersten Film speziell über Machno handelte (der bis dahin nur als „Bösewicht“
eine Nebenrolle in einigen Sowjetfilmen gespielt hatte). Dem russischen
Fernsehen fehlt es wahrlich nicht an Serien – tatsächlich besteht es heutzutage
aus fast nichts anderem – , aber nicht alle erwecken ein so großes Publikumsinteresse
und werden so heftig diskutiert. Die Qualität von Seifenopern ist, wie man sich
vorstellen kann, selten besonders hoch, aber in diesem Fall interessierten sich
die Zuschauer für die Geschichte selbst.

Mehrere Monate nach der Ausstrahlung gab es immer noch
Internetdiskussionen über den Film – nicht nur in den Medien und in Blogs, sondern
auch auf anarchistischen und linken Websites. Ziemlich häufig haben die
Beurteilungen des Films keinen Zusammenhang mit den Ansichten der jeweiligen
Person – unter denen, die ihn mögen, befinden sich sowohl Anarchisten als auch
ihre erbittertsten Widersacher. Das Spektrum der Urteile reicht von totaler Sympathie
und Zustimmung bis zur sehr kritischen und ablehnenden Stellungnahmen.

Was allerdings schade und irreführend ist: Der Film hat
häufig wenig mit einem wirklichen Verständnis der Strömungen in der russischen Revolution
und im Bürgerkrieg zu tun, ganz zu schweigen von Machno und den dargestellten Anarchisten.
Manchmal fallen selbst Anarchisten auf die „ziemlich sympathische“ Darstellung Machnos
in dem Film herein und weigern sich zu erkennen, wie das nur noch mehr Mythen und
Missverständnisse über seine Person schafft.

Meiner bescheidenen Meinung nach ist „Die neun Leben des
Nestor Machno“ eine TV-Serie von äußerst dürftiger Qualität, die sich kaum von
anderen unterscheidet, die derzeit über die Bildschirme flimmern. Serienproduktion
findet unter striktem Budgetdiktat statt – es muss schnell und billig gedreht
werden (das war auch einer der Gründe, warum in der Ukraine gedreht wurde, dort
ist es billiger, Filme zu produzieren). Und dann wandert noch der Löwenanteil
des Budgets in Werbung und Promotion. Eine weitere Folge der
Budgetbeschränkungen ist, dass die historische Rekonstruktion des Geschehens –
von den Kostümen bis zu den unrealistisch wirkenden Schlachtszenen – wenig
überzeugend ausfällt. Das wäre nicht so schlimm, wenn die Geschichte richtig
erzählt würde, aber stattdessen haben es die Drehbuchschreiber fertiggebracht, alle
wahren und alle falschen Geschichten über Machno zusammenzuwerfen. Wahrscheinlich
die einzige große Lüge über Machno, die in den Film fehlt, ist die, dass er und
die Machnowisten Antisemiten gewesen seien.

Filmfiguren und ihre Vorbilder

Ich würde behaupten, dass die schauspielerischen Leistungen
in dem Film ziemlich bescheiden sind und die Regisseure es nicht geschafft haben,
eine konsequente Linie zu verfolgen. Während Anarchisten, Bolschewisten und
ukrainische Nationalisten in den Film mit einem Anflug von „Komik“ dargestellt
werden, wirken der russische Adel, die weißen Generäle und die zaristische
Geheimpolizei „seriöser“. Kurzum, man nenne ein politisches Stereotyp, und
manche reichen bis auf die Ideologie des Sowjetkinos zurück, und man wird es in
dem Film mit Sicherheit finden.

Dennoch hatte ich häufig das Gefühl, der Film sei
tatsächlich ein heimliches Revolutionsepos. Denn obwohl die Filmemacher Machno und
seine Aufständischen oft als komische Figuren zeigen, werden sie niemals als
Schurken gesehen. Sie mögen vielleicht nicht schlau genug sein, um die „große
Politik“ zu durchschauen, aber zumindest sind sie keine gemeinen Mörder und
Pogromhetzer. Es wäre allerdings falsch zu sagen, die Filmproduzenten hätten eine
historische korrekte, ausgewogene und unvoreingenommene Sicht der
Machnowtschina vermitteln wollen. In erster Linie geht es darum, das Publikum
zu unterhalten.

Historische Personen werden in dem Film meist zu
Karikaturen. Machno, gespielt von dem Schauspieler Pavel Derevjanko (der
manchmal nicht so schlecht agiert, aber häufig unterdurchschnittlich), ist eine
Mischung aus gutmütigem Jüngling und nicht eben intellektuellem Revolutionär.
Er ist vielleicht nicht helle genug, um die Sprache der Intellektuellen zu
sprechen, aber er versteht das Volk, ist in der Lage, es richtig anzusprechen
und seinen Kampf gegen Unterdrücker jeglicher Art anzuführen. Er ist ein bodenständiger
Kerl, kein Großmaul, voller bäuerlicher Schläue und Gerissenheit. Die Art, wie
das auf die Leinwand gebracht wird, hat vielleicht nicht viel mit dem
„historischen“ Machno zu tun. Doch treffen nicht im Grunde all die genannten
Eigenschaften auf ihn zu? Bisweilen nimmt er psychotische Züge an, die eines Säufers
und revolutionären Desperados, aber stets bleibt er der Sympathieträger.

Die Liste historischer Personen, die in dem Film auftreten,
ist lang und auch sie sind zumeist weit von ihren realen Vorbildern entfernt. Arschinow,
Teilnehmer und berühmter Historiker der Machnowtschina, ein Berufsrevolutionär,
der etwas davon verstand, wie man Banken ausraubt und Bullen umlegt, wird zu
einem komischen, absolut weltfremden Intellektuellen, der Typus des unpraktischen
anarchistischen Träumers aus den Sowjetfilmen. Aus irgendeinem Grund taucht
Vsewolod Volin in dem Film überhaupt nicht auf. Kropotkin hat einen
Kurzauftritt, aber als komplett durchgedrehter Büchernarr, der nicht einmal
Machnos Anwesenheit bemerkt. Lenin, den Machno in Moskau trifft, ist ein
ziemlicher Langweiler und doch verkörpert er die Stimme praktischer politischer
„Vernunft“ als Gegengewicht sowohl zu Machnos Revolutionsromantik als auch
seiner bäuerlichen „Beschränktheit“. Trotzki wird zutreffend als harter und
hinterhältiger Widersacher der Machnowtschina dargestellt, doch wirkt er mehr wie
der Teufel aus dem Kasperletheater als der praktische Diktator, der er wirklich
war.

Machnos Kommandeure sind ebenfalls weitestgehend Erfindungen
der Filmemacher – gemäß den verschiedenen psychologischen Typen, die sie
benötigten, um die Zuschauer zu unterhalten – und sehr frei nach ihren
Vorbildern gestaltet. Und schließlich spielt die Art der Darstellung eine
wichtige Rolle dabei, ob ein Charakter sympathisch erscheint oder nicht. Zum Beispiel
ist Leva Sadow, der Leiter von Machnos „politischer Polizei“ und eine sehr
zwielichtige Gestalt, im Film ein netter Typ und korrekter Anarchist. Viktor
Belasch, der Chef von Machnos Generalstab, verkörpert den sympathischen Typ des
revolutionären Arbeiters, doch änderten die Filmautoren seinen Namen aus
irgendeinem Grund in Chernysh ab, vermutlich, um ihn mit der schwarzen Fahne
der Anarchie in Verbindung zu bringen („cherny“ heißt im Russischen schwarz und
„bely“ weiß).

Verzerrte historische Perspektiven

Auch historische Ereignisse entsprechen häufig nicht der
Realität. Zwar ist die Machnowtschina im Großen und Ganzen korrekt dargestellt,
doch werden wesentliche Themen im Film falsch wiedergegeben. Die Autoren hegen
zwar kaum Sympathien für die Bolschewisten, dennoch erscheinen sie als
Vertreter einer gewissen pragmatischen Realpolitik (und dabei sind sie doch gleichzeitig
die „Bösen“, die eine blutige Revolution und einen Bürgerkrieg angezettelt haben,
wie uns die russische Propaganda von heute erzählt). Das missliche Bündnis
zwischen Bolschewisten und Machnowisten gegen die Weißen wird von den
Regisseuren immer noch aus einer bolschewistischen Perspektive betrachtet. Einige
wesentliche Ereignisse sind ausgelassen, wie die Schlacht von Peregonowka, die
ein schwerer Schlag für die Weißen war und in gewissem Sinne den Ausgang des
Bürgerkriegs in Russland entschied, während andere Ereignisse – wie die
Ermordung von Machnos erster Frau und seinem Kind durch Anarchisten, zu dem Zweck,
Machno politisch bei der Stange zu halten – von den Filmemachern frei erfunden
sind, um Spannung zu erzeugen!

Das Fehlen eines kompetenten historischen Beraters macht
sich an allen Ecken und Enden bemerkbar. Die Gefängnisse des Zarenregimes und
ihre Insassen sehen eher so aus, als würden sie aus dem heutigen Russland
stammen. Machno macht manchmal sonderbare fremdenfeindliche Bemerkungen über
Amerikaner, Chinesen oder Esten – ein offenkundiger Versuch der Regisseure, eine
Verbindung zu heutiger Politik herzustellen, was lächerlich wirkt. Einer von Machnos
Kommandeuren singt sogar ein paar Zeilen aus „Schwarze Fahne“, einem russischen
Punksong der 1980er Jahre, anstatt aus dem verloren gegangenen, historischen Anarchistenlied
gleichen Namens!

Viele Diskussionen in dem Film drehen sich darum, wofür
Anarchie steht. Doch leider hat der Zuschauer keine Chance, irgendetwas zu verstehen.
Die Anarchisten im Film versuchen bei verschiedener Gelegenheit, ihre Ansichten
zu erklären, aber das mündet für gewöhnlich in ähnlich inhaltsleere Dialoge wie
im Sowjetkino. Die Anarchisten im Film sind entweder rhetorisch nicht sehr
begabt, unfähig auszudrücken, was sie meinen, oder sie geben ziemlich kindische
und banale Erklärungen ab. Am Ende ist völlig unklar, warum die praktisch
veranlagten Bauern Machno und die Anarchisten weiter unterstützen, trotz der
harten Repression, der Erschießungen durch die Bolschewisten, Weißen und
ukrainischen Nationalisten.

Zweifelsohne wird jeder in diesem Film das sehen, was seinen
politischen Neigungen entspricht (wenngleich einige russische Anarchisten dazu
tendieren, den TV-Machno für bare Münze zu nehmen!). Selbst als kritischer
Betrachter kann ich mich manchmal des Gefühls nicht erwehren, dass der Film
trotz all seiner Mängel eine Hommage an die tragische Geschichte der
Machnowtschina und der gescheiterten Russischen Revolution ist. Das ist
natürlich der Tatsache geschuldet, dass die Geschichte der Machnowtschina an
sich eine sehr tragische ist, sodass selbst eine nur im Ansatz wohlwollende
Übertragung auf die Leinwand einen anrühren muss. Doch andererseits: Brauchen wir
wirklich TV-Bilder, um uns gefallener Genossen zu erinnern?

Kurz und gut, die „historische Wahrheitstreue“ des Films ist
zweifelhaft, auch wenn sie das meist benutzte Schlagwort war, um „Die neun
Leben“ zu promoten. Doch dessen ungeachtet hat der Film ein wirkliches
Masseninteresse für Machno erzeugt. Seine eigenen Memoiren, Arschinows
Klassiker „Die Geschichte der Machnobewegung“, populäre Bücher über Machno –
all das ist in den letzten Jahren in Russland erschienen, aber eine große
TV-Serie, zur besten Sendezeit ausgestrahlt, hat das öffentliche Interesse für
ihn in weit höherem Maße geweckt. Und wenn jemand, den der Film berührt hat,
auf ein halbwegs anständiges Buch stößt, dann könnte das ein guter Anfang sein,
um das Enfant terrible der russischen Revolution besser kennzulernen. Es muss
einem halt nur klar sein, dass eine Fernsehserie auf keinen Fall als richtiges
Geschichtsbuch behandelt werden sollte.

Michail Tsovma
Aus: A-infos (www.ainfos.ca)
Übers.: MH

Anmerkungen

Dewjat Shisnej Nestora Machno (Die neun Leben des Nestor Machno),
Russland, Domfilm 2006, 640 Min., Regie: Nikolai Kaptan. Ein 10-minütiger
Trailer ist im Internet unter http://russart.com
oder auf „You Tube“ verfügbar.

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