Kämpfen wie in Frankreich?

Seit über zehn Jahren erlebt
Frankreich immer wieder starke soziale Bewegungen, die in den letzten
Jahren zunehmend auch in Deutschland Beachtung fanden. Im Zuge der
immer offensichtlicher werdenden Schwäche der hiesigen
Gewerkschaften schaute man erwartungsvoll, auch neidisch auf die
Ereignisse im Nachbarland. „Kämpfen wie in Frankreich“ und
„Französisch lernen“ wurden unlängst zu geflügelten Wörtern
innerhalb der Gewerkschaftslinken. Und auch im Herbst des vergangenen
Jahres kam wieder einiges zusammen. Die neuerliche Reform der Renten
und der Hochschulen sowie eine Regelung über Medikamentenzuzahlungen
führten erneut zu Streiks und Demonstrationen, wie wir sie in
Deutschland nicht kennen. Doch was ist dran an der „Streikfreudigkeit
der Franzosen“ und was lässt das für Rückschlüsse auf die
Verhältnisse in Deutschland zu? Die DA zieht eine kleine Bilanz und
beteiligt sich wissbegierig am Französischunterricht – wie immer
nicht als hörige, sondern kritische und nörgelnde Schülerin.

Der Stein des Anstoßes

Mitte Oktober stand ein Aktionstag
gegen die Rentenreform auf der Tagesordnung, zu dem alle
Gewerkschaften aufgerufen hatten. Es sollte, so hieß es, die erste
große Kraftprobe des neuen Präsidenten Sarkozy mit den
Gewerkschaften werden. Die Demonstrationen fielen mit 220.000
Teilnehmenden zwar schwächer aus als erwartet, waren aber dennoch
eine beachtliche Mobilisierung: Laut Unternehmensangaben beteiligten
sich bei der Bahn 73% und bei der Pariser Metro 58% der Beschäftigten
am Streik. Vergleicht man dies mit DGB-Mobilisierungen, z.B. gegen
die Rentenreform im Herbst 2006 (ca. 200.000), liest sich das wie
eine Stück Normalität. Da jedoch ein einzelner Aktionstag nur
symbolischen Charakter hat und kaum als ernstzunehmende Kampfansage
zu verstehen ist, können der kritischen Beobachterin letzten Endes
derartige Vergleiche auch egal sein. Der Unterschied zeigt sich denn
auch woanders: Kämpferische Gewerkschaften wie die CNT oder SUD,
aber auch große Teile der übrigen Gewerkschaftsbasis als auch der
Unorganisierten waren und sind der Auffassung, dass ein Aktionstag
nicht ausreicht, um ihre Forderungen durchzusetzen. Und so setzten
zahlreiche Beschäftigte die Streiks teilweise bis zum 23. Oktober
fort und verlängerten den „Aktionstag“ um vier weitere Tage.
Gegenstand der Auseinandersetzung ist eine Reform von sog.
„Sonderregelungen“, die u.a. die Renten der Beschäftigten bei
der Bahn, der Pariser Metro und den Energieversorgern betrifft. Sie
sollen 2,5 Jahre länger in die Rentenkasse einbezahlen (40 Jahre),
bevor sie in Rente gehen können. Nach dem erklärten Willen Sarkozys
sollen die ArbeiterInnen so zum Ausgleich des Rentendefizits
beitragen. Ausgenommen von dieser Reform bleiben Soldaten und
Abgeordnete. Nun ist es so, dass die Beschäftigten in der
Privatwirtschaft schon seit 1993 und die im Öffentlichen Dienst seit
2003 40 Beitragsjahre nachweisen müssen. Präsident und Regierung
bezeichnen die Betroffenen der Reform deshalb als „Privilegierte“
und erklären die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu einem Gebot
der Gleichheit.

Den Betroffenen hingegen ist klar, dass
sie länger arbeiten sollen. Außerdem erschwert die Steigerung der
Beitragsjahre den Zugang zur vollen Rente, werden doch Zeiten der
Erwerbslosigkeit oder geringfügiger Beschäftigung nicht
angerechnet. Altersarmut droht somit ganz real. Die Devise lautet:
Arbeiten bis du umfällst!

Gilt dieses Motto schon länger für
die ArbeiterInnen der Privatwirtschaft, wo Gewerkschaften kaum
verankert und Arbeitskämpfe meist sehr hart sind, und die übrigen
Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, so soll nun auch das
letzte „gallische Dorf“ geschliffen werden. Die Sonderregelungen
umfassen gerade einmal 5% Prozent der Renten. Die wirtschaftliche
Bedeutung der Reform ist marginal. Für Präsident und Regierung geht
es politisch darum, auch die letzten Widerstandsbastionen zu brechen
und dann „durchregieren“ zu können.

Die neue Tradition

Neu ist die Situation auch für die
Gewerkschaften nicht. Seitdem 1995 eine umfassende Rentenreform, der
sog. Juppé- Plan, abgewehrt worden war, wird dieser neoliberale Plan
stückchenweise umgesetzt. Damals hatte ein vergleichbarer Aktionstag
eine soziale Bewegung ausgelöst, die sich im November zu einem
Generalstreik ausgeweitet hatte. Seit 1968 hatte Frankreich eine
solche Streikwelle nicht mehr erlebt. Anfang Dezember demonstrierten
zwei Millionen ArbeiterInnen gegen den Juppé-Plan. Seither kommt es
nahezu jährlich zu großen Mobilisierungen: der SchülerInnen, der
Erwerbslosen, der „Illegalen“, der LehrerInnen, der
Studierenden…

Das Jahr 1995 hat die Streik- und
Protestkultur in Frankreich nachhaltig verändert. Noch 1993, bei der
Rentenreform im Privatsektor, hatten die großen Gewerkschaften nicht
gegen das Regierungsvorhaben protestiert. Ein historischer Fehler des
Apparats, in dessen Folge die Basisgewerkschaften (wie SUD und die
CNT) mehr Gewicht erlangten. Seit 1995 entwickeln sich die
Basisgewerkschaften und prägen seitdem die Proteste konzeptionell
maßgeblich mit. So gibt es seit 1995 eine neue Form der
Streikführung, den „grève reconductible“. Hier entscheiden
tagtäglich die ArbeiterInnen selbst, Gewerkschaftsmitglieder und
Unorganisierte, über die Fortführung oder Beendigung des Streiks.

Auch heute sind es „die Kleinen“
und die Unorganisierten, die richtungsweisend argumentieren: Streik
statt Aktionstag, gewerkschaftsübergreifende und offene
Vollversammlungen statt Klientelpolitik am Verhandlungstisch. An den
Streikversammlungen nahmen, nach Angaben der SUD, jeweils mehrere
hundert ArbeiterInnen teil, landesweit dürften es mehr als 20.000
gewesen sein. Sie sind deshalb so wichtig, weil sie die Beschäftigten
als Kollektiv zusammenbringen, so dass die Gewerkschaft etwas anderes
ist als der Apparat. Und wenn es um eine Angleichung zwischen
allgemeinen Renten und Sonderregelungen geht, dann wird klar gemacht,
dass es dafür nur einen Weg gibt: allgemeine Angleichung an die
Sonderregelungen! Eben dies ist z.B. eine konkrete Forderung der CNT:
37,5 Beitragsjahre für alle!

Zurück in die Gegenwart

Nicht alle Gewerkschaften teilen diese
Forderung, aber alle – außer der GDL-Schwesterorganisation –
riefen knapp einen Monat nach dem ersten Aktionstag zum Streik bei
Bahn und Metro auf. Zehn Tage lang kam der öffentliche Verkehr
westlich des Rheins quasi zum Erliegen. Am 20. November beteiligten
sich eine halbe Million Menschen an den Demonstrationen und Streiks
gegen die Rentenreform, darunter, neben den EisenbahnerInnen, auch
Studierende und SchülerInnen, Lehrkräfte und Postangestellte,
Beschäftigte der Elektrizitätswerke und Krankenhauspersonal. Die
Streikbewegung bei Bahn und Metro fiel zwar etwas geringer aus als im
Oktober, dafür aber wurde sie länger fortgeführt als im Oktober.

Just am 20.11. akzeptierte die CGT
Verhandlungen über die konkrete Umsetzung der Reform – aber
Betrieb für Betrieb. Während die Chefetage der Gewerkschaft
tagelang von einer sinkenden Zahl der Streikenden sprach und in
Verhandlungen retten wollte, was zu retten sei, lehnten die
Belegschaften und Basisgewerkschaften diesen Kurs ab. Sie beharrten
zumindest auf der Wahrung der Sonderregelungen, und zwar
grundsätzlich. In eben diesem Punkt blieben auch Präsident und
Regierung hart: die Sonderregelungen sollen abgeschafft werden,
allenfalls könne man über Übergangsfristen und Kompensationen
verhandeln. Dazu ist der CGT-Apparat anscheinend bereit – aber die
Belegschaften, und auch die CGT-Basis, verlängerten durch ihr Votum
den Ausstand um weitere drei Tage. Außerdem schränkte koordinierte
Sabotage den Hochgeschwindigkeitsverkehr für einige Tage ein – von
einer Ergreifung der „Täter“ ist bisher nichts bekannt geworden.

Derweil verhandelten die großen
Gewerkschaften bei Bahn, Metro, E-Werken und Oper mit der jeweiligen
Geschäftsleitung. Anfang Dezember fand eine Reihe von Versammlungen
statt, um die Fortschritte der Verhandlungen zu vermitteln, die bis
Ende 2007 abgeschlossen sein sollten. Mit den Vollversammlungen der
Streiktage haben diese Veranstaltungen nichts mehr gemein. Mitte des
Monats vermeldete die Pariser Metro das „glückliche Ende“ der
Verhandlungen.

Zeitgleich wurden bis Mitte Dezember
die Blockaden an Universitäten in Paris-Nanterre und Lille mit
Polizeigewalt geräumt. Ein Dutzend der Hochschulen, von knapp 90
landesweit, sind blockiert oder geschlossen – an sieben
Universitäten streiken die Lehrkräfte. Nun stehen die Studierenden
und Lehrkräfte zunächst allein da, die Chance einer
branchenübergreifenden Streikbewegung wurde versäumt. Damit ist
diese Schlacht geschlagen. Zum Triumph gereicht es aber weder dem
Präsidenten noch dem Premier; von „Durchregieren“ kann
jedenfalls keine Rede sein.

Multikulti der Gewerkschaften

Es mag viele Faktoren für die Streik-
und Protestkultur in Frankreich geben und viele Fragen werfen sich
auf, versucht man daraus Rükkschlüsse auf deutsche Verhältnisse zu
ziehen.

Der Kampfbereitschaft der französischen
Arbeiterschaft steht mit Sicherheit im Kontrast zur vorherrschenden
Praxis der deutschen Gewerkschaften. Während es in Frankreich
regelmäßig zu umfassenden politischen Streikbewegungen kommt,
kennen wir hier Streiks i.d.R. nur im Zusammenhang mit
Tarifauseinandersetzungen; politische Anliegen der Gewerkschaften
dagegen werden halbherzig artikuliert und haben bestenfalls
symbolischen Charakter. Am deutlichsten zeigte sich dies bei den
massiven Protesten gegen die Agenda 2010: Wo ein Generalstreik
notwendig gewesen wäre, mobilisierten die Gewerkschaften zu
Demonstrationen und Würstchenessen an arbeitsfreien Tagen. Die
französische Arbeiterschaft ist dagegen bereit, im politischen Kampf
ihr ökonomisches Gewicht in die Waagschale zu werfen. Denn eines
sollte klar sein, eine Trennlinie zwischen ökonomischem und
politischem Streik gibt es ohnehin nicht.

Doch warum verfangen sich in
Deutschland die Gewerkschaften in dieser imaginären Trennlinie,
während sie in Frankreich viel weniger wahrgenommen wird? Das liegt
mit Sicherheit nicht an der „Mentalität der Franzosen“, oder
daran, dass die Gewerkschaften in Frankreich „linker“ wären, wie
es häufig heißt. Denn jenseits ideologischer – aber auch
juristischer – Faktoren, sind es vor allem die Strukturen der
Arbeiterbewegung, die konstitutiv auf die Gewerkschaftspraxis wirken.

Hier fällt vor allem die
multigewerkschaftliche Situation ins Auge, die sich in verschiedenen
Richtungsgewerkschaften ausdrückt. Ihre Bedeutung besteht dabei
weniger darin, dass sie politische Grundhaltungen ausdrücken, als
dass der gewerkschaftliche Pluralismus förderlich darauf wirkt,
verschiedene Traditionen und Konzepte wachzuhalten, wiederzubeleben
oder neu zu entwickeln. Die Einheitsgewerkschaft dagegen befördert
den Prozess einer Hegemonialisierung von gewerkschaftlichen
Konzepten, so dass andere Konzepte an den Rand gedrängt und
unwirksam gemacht werden. Damit ist noch nichts über das Konzept
Richtungsgewerkschaft selbst gesagt, es zeigt lediglich, dass
jegliche Gewerkschaftsstruktur (sogar Fachgewerkschaften) mehr
Dynamik entwickeln kann als die der Einheitsgewerkschaft (siehe dazu
auch „Kirche der Einheit“).

Der Vorteil für die Entwicklung von
Dynamik ohne Einheitsgewerkschaft liegt auf der Hand. Die
Einheitsgewerkschaft als Kernstück des Korporatismus ist eine
gänzlich unpolitische Angelegenheit. Allein ihre
sozialpartnerschaftliche Funktion bindet sie an den ökonomischen
Bereich, während interne Mechanismen (ähnlich derer des
demokratischen Zentralismus) jegliche innere Opposition nach außen
unartikuliert lassen. In Frankreich dagegen können kleine, gut
organisierte Gewerkschaften, die für eine andere
Gewerkschaftspolitik stehen, Impulse setzen, die die ganze
Gewerkschaftslandschaft befruchten, wie das Beispiel von 1995 zeigt.
Sie stellen damit nicht nur eine organisatorische Option dar, sondern
wirken auch inspirierend auf die Basis der großen Gewerkschaften und
setzen deren Führungen unter Zugzwang. In Frankreich, aber auch
Italien, haben wir deshalb das Phänomen, dass originäre Elemente
des revolutionären Syndikalismus stets präsent sind – denn nichts
anderes ist es, was der französischen Streik- und Protestkultur
ihren Charakter gibt.

Hierarchie als Hemmschuh

All das soll nicht als Plädoyer für
eine Aufspaltung in Richtungsgewerkschaften verstanden werden; denn
bei aller Konsequenz stecken auch die französischen Gewerkschaften
im Dilemma. Fast jährlich erleben wir beeindruckende
Streikbewegungen und Massenproteste auf der Straße, gelegentlich
auch Erfolge. Im Großen und Ganzen haben aber auch sie der
neoliberalen Offensive recht wenig entgegenzusetzen. Zum einen zeigt
sich dabei das Problem, dass die Gewerkschaften gerade in der
privaten Wirtschaft äußerst schwach sind und die großen
Mobilisierungen und Kämpfe in anderen Sektoren stattfinden. Zum
anderen hat es zwar die multigewerkschaftliche Gesamtheit ermöglicht,
dass syndikalistische Traditionen in Kochnischen überleben und durch
die Hintertür wieder in den Speisesaal kommen konnten; doch
mehrheitlich bleibt die Teilnahme am Bankett den alten
Gewerkschaftsführungen vorbehalten, die – wie in Deutschland –
ihre Diener mit den Füßen unter dem Tisch halten oder mit Bröseln
abspeisen. Dies zeigt das Beispiel des Lehrerkampfes von 2003 allzu
deutlich. Die CGT-Führung beschränkte sich damals auf Aktionstage
und lehnte den grève reconductible ab. Obwohl die
Streikbeteiligung an den Tagen ziemlich hoch war, wuchs die Bewegung
nicht zu einem Generalstreik an, der das Vorhaben hätte stoppen
können. Die zweimonatige Auseinandersetzung mündete in einer
folgenschweren Niederlage für die Beschäftigten des Öffentlichen
Dienstes. Und auch in der neuerlichen Streikbewegung haben zwar Teile
der Basis ihre Kampfbereitschaft gezeigt, doch die alte
Gewerkschaftshierarchie wirkt immer noch als Hemmschuh für einen
konsequenten Kampf.

André Eisenstein & Holger Marcks

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