Leben mit der Ungewissheit

Schon
beim Schreiben dieses Artikels sind die Daten und Fakten zur
Arbeitsplatz-Situation veraltet. Wöchentlich gibt es neue
Entlassungen von LeiharbeiterInnen, Kurzarbeitsmaßnahmen und
Produktionspausen. Die etablierten Gewerkschaften und ihre
Betriebsräte ignorieren die Situation und begnügen sich mit der
Aushandlung von Arbeitszeit- und -lohnbedingungen für die
Stammbelegschaften bei den Automobilisten. Aber auch diese leben in
unsicheren Zeiten; was gestern noch galt, kann morgen schon wieder
ganz anders sein.

Angst
lähmt

Am
Beispiel des Vorzeigeunternehmens Volkswagen wird deutlich, wie es
derzeit in den Großbetrieben aussieht. Das Betriebsklima ist zwar
scheinbar von absoluter Gleichgültigkeit bis abwartender Ruhe
bestimmt. Doch nur an der Oberfläche. Schaut und hört man genauer
hin, regt sich immer mehr die Angst um die nun doch nicht mehr so
gewisse „sichere Zukunft“. Einige Standorte in Deutschland haben
die Werkstore für Wochen partiell oder komplett geschlossen.
Spätestens seit Februar wird auch den VW-ArbeiterInnen bewusst, dass
die Wirtschaftslage langfristig unangenehme Folgen mit sich bringt.
Mehr noch: Sie sehen ihre eigene Existenz konkret bedroht. Doch
bislang bleibt es bei Angst und Ohnmacht gegenüber dem System.
Gerade im Stammwerk Wolfsburg verlässt sich die überwiegende
Mehrheit der Belegschaft nach wie vor auf die vermeintliche Macht der
IG Metall und ihre „sozialpartnerschaftlichen Kompetenzen“, hält
sie doch die Kurzarbeitsmaßnahmen für notwendig, um ihre
Arbeitsplätze zu erhalten und das Unternehmen zu entlasten. Und so
geht das Kalkül von Regierung und Unternehmen auf, mit Kurzarbeit
Steuereinnahmen zu sichern, firmenspezifisch qualifizierte
Arbeitskräfte bei gleichzeitiger Kostenentlastung zu binden und das
Sozialsystem nicht endgültig zum Zusammenbruch zu bringen. Die mit
dem letzten Tarifvertrag von IG Metall und Volkswagen beschlossene
Flexibilisierung der Arbeitszeit hat letztlich wesentlich dazu
beigetragen, das Unternehmen auf eine Krise gut vorzubereiten. So
wurden 2007/ 2008 mit Sonderschichten die Arbeitszeitkonten
aufgebaut, die nun im Zuge des Produktionsrückgangs durch
Stückzahlreduzierung wieder ausgeschöpft werden. Damit geht VW weit
über die Steuerung der Arbeitszeit hinaus; der Konzern diktiert den
ArbeiterInnen direkt ihre Freizeitplanung und gewinnt damit
kompletten Einfluss auf ihr Leben und das ihrer Familien.

Produktionspausen
und Kurzarbeit

Praktisch
sieht es an den Standorten nicht sehr rosig aus: Ende Februar ruhte
die Produktion weltweit für eine Woche, weitere Kurzarbeitswochen
etwa in Zwickau oder Emden folgten. Die Abwrackprämie sorgt für
einen kurzzeitigen Bedarf an Arbeitsleistung, Volkswagen füllt dafür
beispielsweise die Linien in Wolfsburg mit ArbeiterInnen aus
Braunschweig und Hannover auf. Diese bundesweit flexible Aufstellung
von Arbeitskräften wird durch die firmeneigenen
Leiharbeitsunternehmen sowie die Bestimmungen zum Personaleinsatz
legitimiert.

Darüber
hinaus entlassen die von Produktionsreduzierung betroffenen Linien
zunächst die LeiharbeiterInnen, deren Anteil an den Belegschaften in
den letzten Jahren massiv angewachsen ist. So war beispielsweise der
Großteil der Auszubildenden lediglich in den Leiharbeitsunternehmen
von Volkswagen übernommen worden. Stammbelegschaften erlebten
dagegen nur vereinzelt Neueinstellungen. Zeitverträge wurden
ebenfalls nicht mehr verlängert.

Auf
Distanz

In
der Stimmung aus Angst und Hilflosigkeit, teilweise auch geprägt von
naiver Gelassenheit, wird die Distanzierung von der bisher üblichen
Firmenidentifikation immer deutlicher. Das dem offen propagierten
Feind Toyota nachempfundene Organisations- und Qualitätssystem
„Volkswagen-Weg“ wird allenfalls von Führungsnachwuchskräften,
KarriereristInnen und bestenfalls der Meisterebene positiv
angenommen, die Belegschaft begegnet ihm mit Skepsis. Durch die
ständige Kontrolle im Team mit führungstreuen TeamsprecherInnen
sowie durch externe Beratungsfirmen, die die Arbeitsabläufe
beobachten und Verschwendungen identifizieren sollen, werden die
Möglichkeiten der ArbeiterInnen, miteinander zu kommunizieren oder
sich sogar zu organisieren, massiv eingeschränkt.

Ausblick

Wie
es weiter geht, ist nicht nur bei Volkswagen unklar. Dass die
Arbeiterschaft in Deutschland den Entwicklungen nichts
entgegenzusetzen hat, ist das Ergebnis des verflochtenen
Kuschelkurses mit den Unternehmensleitungen. Dass diese keine
Rücksicht auf das Schicksal der ArbeiterInnen nehmen, sollte
zumindest im Jahr der Entlassungen in großen Unternehmen 2008 klar
geworden sein. Das Beispiel Spanien könnte aufzeigen, wie
selbstbewusst eine Belegschaft zusammenhalten kann, wie ArbeiterInnen
Unternehmen und Regierung Paroli bieten. Streiks und Demonstrationen
gegen die ERE, die Kurzarbeitsmaßnahmen in Spanien, prägen dort das
Bild vieler Städte. Vielleicht sollten sich die ArbeiterInnen in
Deutschland kritisch fragen, welche Antworten die
sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften und die ach so
arbeitnehmerfreundlichen Unternehmen tatsächlich auf die weiter
abwärts stürzende wirtschaftliche Entwicklung haben.

Hagen
Weber (FAU Braunschweig)

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