Einstürzende Neubauten auf Kreuzfahrt

„Ship
of Fools“- „Das Narrenschiff“
entstand 2007, seit 2008 ist das Werk auf DVD erhältlich. Ebenfalls
seit 2008 ist das Ehepaar de Picciotto/Hacke auf Tournee durch die
Welt. Danielle zog 1985 von New York nach Berlin, wo sie 1989 zu dem
Initiatorenkreis der ersten Loveparade gehörte. Zwischen 1990 und
1995 war sie Sängerin der Berliner Band Space
Cowboys
, und
engagierte sich danach in der unkommerziellen Club -und Kunstszene
Berlins. Außerdem betätigte sie sich auch schon des Öfteren im
kulturellen Umfeld des Goethe-Instituts.

1980
begann Alexander Hacke, bei den Einstürzenden Neubauten zu
spielen. Sein musikalisches Leben ist jedoch darüber hinaus von
einer beachtlichen Abwechslung und Vielzahl geprägt; ob Industrial,
New Wave, Klezmer, Metal und noch vieles mehr, Alexander scheint
schon alles gespielt zu haben. Mit Hieroshima landete er 1982
einen internationalen Erfolg. Hacke komponiert seit den frühen 90ern
auch Filmmusik, u.a. für den Streifen Gegen die Wand von
Fatih Akin. Zusammen mit Danielle und den Tiger Lillies
erarbeitete Alexander das musikalische Bühnenspiel Mountains of
Madness
.

Woher
kam die Idee für euer Performance-Projekt „Ship of Fools“, mit
dem ihr seit 2007 weltweit unterwegs seid?

A.H.:
Vor Jahren hatten wir in Berlin die nach dem Strip-Club der Sopranos
benannte Veranstaltungsreihe „Bada Bing“ konzipiert. Im „Big
Eden“, dieser Blue Print für eine Diskothek, haben wir an einem
Abend meistens drei möglichst unterschiedliche musikalische Acts
aufeinandertreffen lassen, zum Beispiel eine Rockabilly-Band, ein
Electro-Clash-Playback-Projekt und ein Nasenflöten-Orchester.
Langhaarige Metal-Leute konnten endlich mal junge Techno- oder
Electro-Girls kennenlernen. Ich bin ja prinzipiell gegen
Ghettoisierungen. Mit dem Projekt und den folgenden, also „Mountains
of Madness“ und „Ship of Fools“, haben wir für Reibungen und
Öffnungen gesorgt. Denn nur so kann wirklich Neues entstehen.

D.d.P.:
Nach einem Jahr des Managens von „Bada Bing“ hatten wir ehrlich
gesagt die Schnauze voll, nur organisatorisch zu arbeiten. Wir
wollten wieder selber kreativ werden. Bei unserem dann folgenden
Projekt „Mountains of Madness“ mit den Tiger Lillies haben wir
dieses Prinzip des konfrontativen Zusammenführens verschiedener
Kunststile fortgesetzt.

Mit
„Ship of Fools“ seid ihr dann künstlerisch noch ein Stück
weiter gegangen…

D.d.P:
Nach den „Mountains of Madness“ waren wir auf der Suche nach
einem Projekt, das wieder viele Kunstbereiche zusammenführt, hier
also Literatur, Bild, Sprache und Musik. Als uns das Buch „Das
Narrenschiff“ von Sebastian Brant in die Hände fiel, erschien es
uns als perfekte Vorlage.

A.H.:
Wir wollten eine audiovisuelle Performance entwickeln mit
gleichwertig ausgeprägten hörbaren und visuellen Aspekten.

Das
Buch von Sebastian Brant ist 1494 als Moralsatire erschienen und
wurde sogleich in alle möglichen Sprachen übersetzt. Die Narrheit
im Werk von Brant wird ja verstanden als mangelnde Einsicht in die
Anforderungen des Lebens. Bei Foucault verkörpert dagegen „der
Hofnarr die Wahrheit im Zustand der Freiheit“. Welche Funktion üben
eure Narren aus?

A.H.:
Im Mittelalter wurden nicht nur Irre, sondern alle gesellschaftlichen
Outcasts ausgestoßen und auf Schiffe verfrachtet, damit die normale
Gesellschaft ihre Ruhe hatte. Dann ist der Sebastian Brant gekommen,
hat die damalige Gesellschaft mit den Insassen der Schiffe verglichen
und ihr den Spiegel vorgehalten.

Welche
Brisanz hat dieser mittelalterliche Text heute?

Starten nach etlichen Projekten immer wieder durch: Danielle de Picciotto und Alexander Hacke

A.H.:
Zur Zeit der Bush-Regierung gab es diese religiöse
Überspitzung, den extremen Hass auf den Islam und den christlichen
Fundamentalismus.

D.d.P.:
Ich als Amerikanerin war sehr unglücklich wegen der Politik von
George W. Bush. Ich fragte mich, was kann ich als Künstlerin tun.
Dann kamen wir auf die Idee, die politische und soziale Situation von
heute mit der des Mittelalters in Beziehung zu bringen.

A.H.:
Das hat uns sehr inspiriert, den Text von Sebastian Brant anders oder
neu zu deuten. Die Zeit heute ist weitaus härter als die von ihm
Beschriebene. Auf gar keinen Fall zeigen wir mit dem Finger auf
jemanden. Vielmehr führen wir an uns selber vor, wie besessen, wie
gierig wir sind. Wir tragen diesen Wahn zu den Leuten und bringen sie
dazu, über sich selber nachzudenken. Wir verfrachten also das Buch
auf ein Schiff zurück und lassen dieses um die Gesellschaft herum
schippern.

Das
Diktat der Gesellschaft ist ja, dass man ihren Regeln und Richtlinien
folgt, statt sich für Eingebungen zu öffnen. Inspirationen sind ja
letztlich eine Eingebung von außen, wofür du deinen Kopf öffnen
musst. Wenn du aber in der Gesellschaft funktionieren willst, werden
diese Sinneswahrnehmungen, wird dein Kopf ausgeschaltet. Da passt das
Dostojewski-Zitat, demzufolge nur verrückte Menschen Geister sehen,
was nicht heißt, dass es keine Geister gibt.

Wie
sehen denn so die Reaktionen des Publikums auf eure Auftritte aus?

D.d.P.:
Wir lesen einen alten Text aus der Zeit, als Columbus Amerika
entdeckt hat, mit unglaublich moralischen Sichtweisen, die genau im
Gegensatz zur heutigen Populärkultur stehen, in der es nur um Sex
und Ego-Entfaltung geht. Dann setzen wir noch laute und direkte
Rockmusik gegen den alten Text. Meistens reagiert unser Publikum
irritiert. Jedenfalls gibt es nach den Shows jede Menge interessante
und kontroverse Gespräche.

Jorinde
Reznikoff / Klaus-Peter Flügel

 

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