Musik von heute, Rebellion von morgen

Sie gelten als Kanadas umstrittenste Band, ihr Sänger
schaffte es im letzten Jahr bei einer Umfrage der Canadian Historical Society
sogar auf Platz zwei der „Schlimmsten Kanadier“ – aller Zeiten. Ohne Frage,
Propagandhi scheut sich nicht, Unbequemes auszusprechen. Als bekennende
Anarchisten produzieren sie seit knapp zwei Jahrzehnten politisch ambitionierte
Musik und treten aktiv für Menschen- und Tierrechte und gegen Kapitalismus,
Rassismus und Sexismus ein. Womöglich liegt es mitunter an ihrem Aktivismus,
dass sie in 22 Jahren nur vier LPs herausgebracht haben und vor allem Fans in
Übersee mit Auftritten nicht gerade verwöhnen. Nach sieben Jahren machten
Propagandhi nun im August wieder einen kleinen Abstecher nach Deutschland, wo
sie vier Konzerte spielten. Die
Direkte Aktion und Z-Net nutzten die Gunst der Stunde für
ein Gemeinschaftsinterview mit Sänger und Gitarrist Chris Hannah im Anschluss
an das abschließende Konzert in Karlsruhe.

 

Auf der Website des Rudolf Rocker Cultural Centers (R2C2)
in eurer Stadt Winnipeg findet sich ein Zitat von Louis Riel, einem kanadischen
Revolutionär aus dem 19. Jh.: „Mein Volk wird hundert Jahre lang schlafen. Wenn
es erwacht, werden es die Künstler sein, die ihm seinen Geist zurückgeben.“ Ihr
als Künstler habt den Ruf einer politisch ambitionierten Band, eine Sache, die
ihr von Anfang an betont habt. In Anlehnung an das Riel-Zitat, was denkst du, kann
die Rolle eines Musikers im Prozess von politischer und sozialer Veränderung sein?

Chris: Ich denke, ich kann nur über meine eigenen
Erfahrungen sprechen und wie ich selbst von politischer Kunst beeinflusst wurde.
Als ich 13 oder 14 war, hatte ich sehr konservative Ansichten. Ich lebte in
einer sehr abgeschotteten, konservativen und militärisch orientierten Welt. Ich
glaubte an die atomare Abschreckungspolitik, war überzeugt von der NATO usw.
Doch ich hatte nie die Möglichkeit, andere Sichtweisen kennenzulernen. Dann,
als Jord und ich ein Interesse für Musik entwickelten, stießen wir zufällig auf
diese verrückt wirkenden Platten von Million Of Dead Cops und z.B. die frühen
Sachen der Dead Kennedys. Die Dinge, über die sie in ihren Texten sprachen,
passten einfach nicht zu der Realität, die uns von unseren Familien, Schulen,
Kirchen usw. vermittelt wurde. Es brachte einfach alles zum Einsturz. Es legte
die Realität bloß, die man tatsächlich sah, wenn man durch die Straßen ging.
Das war meine persönliche Erfahrung mit Musik und Politik, und ich weiß, dass
die anderen Bandmitglieder dieselbe Erfahrung gemacht haben. Es sind erste
Berührungen mit politisch beeinflussender Kunst. Nicht jede Art von Kunst wird
Menschen beeinflussen oder überzeugen. Unsere Hoffnung ist, dass egal wie wenig
Leute unsere Musik hören, es einige darunter gibt, die auf dieselbe Weise von neuen
Ideen beeinflusst werden können, in der wir von Bands beeinflusst wurden. Das
ist die Rolle, die wir kennen. Und ich meine, es gibt viele weitere Arten, wie
Menschen durch politische Kunst überzeugt werden können.

Es wirkt so, als wäre die Landschaft politischer Musik
sehr klein heute. Man könnte fast meinen, dass die Welt sich in den letzten
Jahrzehnten zum Guten verändert hat, da es wohl nichts mehr gibt, was Künstler
anklagen könnten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Hast du eine Erklärung für
diese gegensätzlichen Entwicklungen?

Chris: Ich glaube, das ist die
Undurchlässigkeit des Marktes. Und die Undurchlässigkeit, die durch immer
kürzer werdende Aufmerksamkeitsspannen entsteht. Die Leute werden schon in sehr
jungem Alter äußerst schnell mit Werbung und Images gefüttert. Sie fliegen sehr
schnell von einem Interesse zu einem anderen, verlieren das Interesse an Dingen
und spielen kubische Videospiele. Aber ich würde sagen, diese Bands existieren immer
noch, sie sind nur nicht präsent. Die Leute wissen nichts von ihnen, sie sind
außerhalb des Radars. Es gibt Tonnen von Untergrund- Bands, allein in der
Hardcore-Punk- Szene, die immer noch versuchen, Ideen statt Images
herauszustellen. Und es gibt das auch in anderen Formen von Musik. Zum Beispiel
gibt es eine reichhaltige Hip-Hop-Subkultur, die überall gegen den Trend
angeht. Das ist nichts von dem, was du auf MTV siehst, diese Art von Mist. Das
gibt es alles, auch in anderen Formen von Kunst. Es wird nur nicht neu verpackt
und jetzt auf MTV verkauft. Anscheinend sind diese Dinge also einfach nur nicht
fett im Geschäft.

Bereits Mitte der 90er habt ihr den aufkommenden Neoliberalismus
thematisiert, der einen „softeren“ Kapitalismus abgelöst hat, der z.T. sozial
durch den Staat reguliert wurde. In dem Song „And we thought nation states were
a bad idea…“ deutet ihr an, dass Klassenkampf wieder aktuell werde. In
Deutschland können wir dies bestätigen. Der Sozialabbau und die allgemeine
Prekarisierung haben hier zu neuen und unüblichen Arbeitskämpfen geführt;
Begriffe wie Klassenkampf werden wieder diskutiert. Gab es in Kanada bzw.
Nordamerika auch eine Wiederbelebung von Klassenkampf und Klassenbewusstsein?

Chris: Ich denke, da kam definitiv etwas in
Bewegung – bis zum 11. September. Ob Seattle oder Quebec City – man hatte
wirklich das Gefühl, dass viele ihren Platz in einer Bewegung zu finden
versuchten, um die wachsende Privatisierung in Nordamerika oder den wachsenden
Imperialismus von nordamerikanischen transnationalen Konzernen aufzuhalten.
Aber nach 9/11 war das alles plötzlich verschwunden, weil die entstandene Atmosphäre
sich auf alles niederschlug. Alles änderte sich, und man wurde zurückgeworfen auf
den Status von kleinen Gruppen engagierter Menschen, die versuchten, anderen
klar zu machen, dass die Konzerne immer noch alles und jeden platt walzen und
alles privatisieren. Doch niemand wollte das hören. Sie sagten: Nein, es ist
nicht der richtige Zeitpunkt, die Regierung und diese Unternehmen zu
kritisieren. Wir müssen jetzt zusammenhalten. So habe ich das in Nordamerika
wahrgenommen. Es war eine wirklich erdrückende Decke, die einfach
herniederschwebte. Jedes Bewusstsein, das vorher existiert hat, wurde reduziert
auf eine dünne Schicht, die allenfalls noch tief unten am Boden schwelt.
Vielleicht steigt es ja langsam wieder hoch.

Heute auf dem Konzert habt ihr über eine Demonstration
von christlichen Fundamentalisten in Winnipeg gesprochen. Über G7 vertreibt ihr
das Buch „American Fascists“ von Chris Hedges, in dem er die Bedrohung der
US-Gesellschaft durch die christlich-evangelikale Bewegung beschreibt. Er
schreibt: „Nur noch eine weitere nationale Krise wie 9/11 ist nötig, damit die
christliche Rechte eine konzertierte Aktion zur Zerstörung der amerikanischen Demokratie
durchführt. Diese Bewegung wartet nur auf eine solche Krise. In diesem Moment
werden sie offenbaren, was sie tatsächlich sind: die amerikanischen Erben des
Faschismus.“ Hat die christliche Rechte trotz Bushs als gescheitert
wahrgenommenen Amtsperiode immer noch so viel Macht in Nordamerika, in den USA?

Chris: Ja, die haben sie. Die Situation in Kanada
ist nicht direkt mit der in den USA vergleichbar, aber in Kanada haben sie
genauso Fuß gefasst. Ich glaube nicht, dass die Menschen, die Bush oder McCain
in den Staaten unterstützen, die letzten acht Jahre als ein Scheitern des
Konservatismus oder des christlichen Fundamentalismus empfinden. Sie betrachten
es eher als einen Fehler des Managements. Für sie haben nicht die Werte
versagt, sondern nur das Management. Wenn ihre Werte besser gemanagt werden, womöglich
von jemandem Extremeren, und wenn es in Amerika zu einem Machtvakuum kommt,
dann ist die christliche Rechte da, um es auszufüllen. Sie haben Leute im
Militär rekrutiert, sie haben Leute im Obersten Gerichtshof, sie haben Leute
auf allen Ebenen des Regierungsapparates. Unabhängig davon, ob Barack Obama
kommt oder nicht – was bis zu einem bestimmten Grad irrelevant ist für den Weg,
den die Welt nehmen wird –, die christliche Rechte wird gerüstet und fähig sein,
die Entscheidungen, die in den USA getroffen werden, zu beeinflussen. Und man kann
es sehen, es ist nicht verborgen. Man sieht überall diese Megakirchen und diese
verrückten Reklametafeln. Sie haben die Macht, sie haben das Geld. Man schaue
sich nur die Hecks der Geländelimousinen (SUVs) an. Du kannst sofort sehen, wer
ein christlicher Fundamentalist ist, weil sie an ihren protzigen Autos dafür
werben. Es ist sehr offensichtlich, dass es keine Randerscheinung ist.

Kommen wir zu etwas Positivem. Du und Jord waren
Gründungsmitglieder von G7 Welcoming Committee, eines Plattenlabels und Büchervertriebs.
Das G7-Kollektiv ist auf der Basis der ParEcon-Prinzipien organisiert, die
Michael Alberts und Robin Hahnels Vision einer neuen Ökonomie entspringen (siehe
DA Nr. 188). Kannst du uns eine kurze Einführung in die Geschichte von G7 geben
und uns sagen, wie die ParEcon- Prinzipien angewendet werden?

Chris: Momentan werden die ParEcon- Prinzipien
überhaupt nicht angewendet, weil sich G7 in einem Winterschlaf befindet. Wir machen
gegenwärtig keine neuen Projekte. Wenn irgendeine Arbeit zu verrichten ist, ist
da niemand außer mir. Doch zum aktivsten Zeitpunkt gab es fünf oder sechs
Personen bei G7. Der springende Punkt, weshalb wir einen von ParEcon
inspirierten Betrieb organisierten, war, dass wir alle zuvor in typischen Betrieben
gearbeitet hatten. Ich z.B. habe, seitdem ich dreizehn war, immer in hierarchischen
Betrieben gearbeitet, und ich hasste jeden dieser Scheißjobs, jede Person, die
über mir stand und die gesamte Arbeit, die mir zugeteilt wurde. Das waren immer
die Standardaufgaben, während andere Leute kreative Aufgaben hatten oder besser
bezahlt wurden. Es verbiesterte mir die Aussichten auf die Arbeitswelt. Ich kam
das erste Mal in Berührung mit dem ParEcon-Modell über die Leute, die den
Mondragon-Buchladen in Winnipeg gegründet hatten. Es stieß bei mir ernsthaft
auf Resonanz. Offensichtlich ließ sich das ParEcon-Modell nicht gänzlich in
einem kleinen Betrieb, wie bei einem Plattenlabel oder einem Buchladen,
umsetzen. Es ist dort nicht alles davon enthalten, wie z.B. die Iterations-Räte
(Räte für kollektive Planwirtschaft) und andere Dinge, die in Michael Alberts
Vision einer größeren Gesellschaft vorgesehen sind. Doch es war uns wichtig, zumindest
die Kreativ- und die Durchschnittsarbeit auszubalancieren und Anstrengung und
Aufopferung zu honorieren, während wir unser Bestes taten, jegliche Entwicklung
von hierarchischen Strukturen zu unterbinden. Wir wollten die Struktur
horizontal belassen, den Menschen die Verantwortung lassen und sie dauerhaft
zufriedenstellen, so dass man das Gefühl hat, dass man Teil davon ist, dass man
Teil der Kreativarbeit ist, dass man die Durchschnittsarbeit verrichten und
versuchen kann, das Fundament des Betriebes zu stärken, ohne dass zu viel
Spezialisierung in einer Person gebündelt wird und plötzlich Panik ausbricht,
wenn einer mal abspringt. Jeder kann von allem ein bisschen tun. Das war für uns
das Hauptziel, als wir nicht unbedingt das ParEcon-Modell übernahmen, sondern
uns eher haben inspirieren lassen von dem, wozu Michael Albert und Robin Hahnel
anregten.

G7 verkündete vor Kurzem die Veröffentlichung der letzten
Platte. Heißt das, dass das Projekt zu Ende geht? Oder gibt es Pläne für die
Zukunft?

Chris: Wir werden noch im Februar oder März
die nächste Propagandhi-Platte bei G7 rausbringen. Und wenn Derek, der andere Protagonist
bei G7, nach Winnipeg zurückkehrt – er ist weggezogen und wohnt gerade 500 km
entfernt von mir –, was in ein oder zwei Jahren der Fall sein könnte, dann
werden wir das Projekt wahrscheinlich wiederbeleben. Es wird weitergehen, da bin
ich mir sicher.

Danke für das Interview.

Interview: Holger Marcks (DA) & Timo Stollenwerk (Z-Net)
Das vollständige Interview findet sich auf: www.zmag.de.

 

Wo wir stehen

PropaGandhi, als eine Gruppe von Individuen, fühlt sich
grundsätzlich Werten verpflichtet, die fundamentale Aspekte des anarchistischen
Gedankens widerspiegeln. Als direkte Konsequenz der Tatsache, dass wir eine
Gruppe von unterschiedlichen, frei denkenden Individuen sind, repräsentiert
PropaGandhi jedoch keine singuläre, eingeschränkte Subkultur „linken“ Denkens.
Unsere individuellen Wünsche/ Erwartungen, Wahrnehmungen und/oder Zynismen,
hinsichtlich der Durchführbarkeit und Beständigkeit einer praktischen Anwendung
anarchistischer Theorie, wurden im Arbeitskreis interner Diskussion(en) dargelegt,
um sie weitestgehend zu kontrastieren. Dies ist der Grund, weshalb Anarchie
kein Dogma darstellt. Anarchie bedeutet nicht Homogenität. Und PropaGandhi
steht für keines von beiden. Aus: How to Clean Everything (1993).

Die Band

  • Gründungsjahr: 1986 (Winnipeg).
  • Bandmitglieder: Chris Hannah (Gitarre, Gesang), Jord Samolesky
    (Schlagzeug), John K. Samson (Bass, Gesang; verließ 1996 die Band und
    gründete
    The Weakerthans), Todd Kowalski (Bass, Gesang; seit 1996), David
    Guillas (zweiter Gitarrist seit 2006).
  • Musik: Hardcore/Punk.
  • Sonstiges: Chris Hannah und Jord Samolesky gründeten 1997 das
    Musiklabel G7 Welcoming Committee.

Diskografie

  • How To
    Clean Everything
    (1993,
    Fat Wreck Chords)
  • Less
    Talk, More Rock
    (1996,
    Fat Wreck Chords)
  • Today’s
    Empires, Tomorrow’s Ashes
    (2001, G7 Welcoming Committee/Fat Wreck Chords)
  • Potemkin
    City Limits
    (2005,
    G7 Welcoming Committee/Fat Wreck Chords)

 

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