Arbeitnehmer im Sonderangebot

Sommer 2006: Vor dem Großmarkt in einer südwestdeutschen
Kleinstadt sitzen ca. 20 Beschäftigte des Marktes in der Sonne, von den
Passanten bestaunt, vom Marktleiter argwöhnisch beäugt. Etwas verschämt an der
Seite ein rotes Plakat „Wir streiken!“, daneben einige weiße Fahnen [sic!] mit
ver.di-Emblem. Der Kundenstrom fließt ungehindert an der kleinen Gruppe vorbei.
An den Kassen zwar Schlangen, aber der Rubel rollt offensichtlich ungehindert.
Von knapp 300 Beschäftigten beteiligen sich gerademal 20 am Streik. „Na ja, das
ist immer so bei den Tarifverhandlungen, so Rituale, das machen wir einmal im
Jahr ein paar Tage, dann gibt’s mehr Geld“, erklärt eine der streikenden
Kolleginnen. Na ja, denkt da der interessierte Laie, ob das so gut gehen kann?
Streik als Ritual?

Die Situation im Einzelhandel

Zum 31. Dezember 2006 werden dann von den Landesverbänden
des HDE (Hauptverband des Deutschen Einzelhandels) sämtliche
Manteltarifverträge mit der Gewerkschaft ver.di gekündigt. Ziel ist es, die
Zuschläge für Spät- und Sonntagsarbeit (20%) und für Nachtarbeit (50%) zu
streichen. Diese wären, nach der Aufweichung des Ladenschlussgesetzes, nicht
mehr zeitgemäß. Für die (überwiegend weiblichen) Beschäftigten, stellen sie
aber, wie in Schichtbetrieben meist der Fall, einen ganz erheblichen
Bestandteil ihres Lohns dar. In vielen Fällen machen sie ein gutes Drittel des
Gesamteinkommens aus. Der Durchschnittsverdienst im Handel liegt, nach Angaben
des Statistischen Bundesamtes, bei ca. 2.400 Euro brutto, für
Vollzeitbeschäftigte allerdings. Und das sind nur wenige in der Branche. Männer
sind es in der Regel, die den überwiegenden Teil der Marktund Bezirksleiter,
aber auch des mittleren und gehobenen Managements stellen. Die meisten
Verkäuferinnen und Kassiererinnen arbeiten in Teilzeit, etwa 900.000 sogar als
geringfügig Beschäftigte, in sog. „Minijobs“ für max. 400 Euro im Monat. Was in
diesem Bereich allerdings fast wieder einer Halbtagsbeschäftigung entspricht!
Tariflich festgelegt ist ein Stundenlohn zwischen 6,50 und 13 Euro. Die
tatsächlich gezahlten Löhne liegen meist weit darunter, oft zwischen fünf und
sechs Euro. Dafür gibt es dann Arbeit zu extrem ungünstigen Zeiten,
Überstunden, Arbeit auf Abruf.

Die Strategie der Unternehmer

Natürlich legen die Unternehmer es darauf an, die
Lohnschraube nach unten zu drehen, einfach dadurch Geld zu sparen, dass man es
den Beschäftigten vorenthält. Etwas genauer betrachtet ist dies aber auch ein
weiterer Baustein in der Strategie des Einzelhandelsverbandes,
Arbeitsverhältnisse zu deregulieren, zu flexibilisieren und damit die gesamte
Branche neu aufzustellen. Noch weniger Vollzeitkräfte als bisher soll es in
Zukunft geben, fast nur noch in Führungspositionen – das Rückgrat der
Unternehmen sozusagen. Daneben einige Teilzeitkräfte für Aufsichtsfunktionen
und zur Disponierung der Minijobberinnen, der Aushilfen und Leiharbeiterinnen.
Letztere wiederum sollen dann nur noch bei Bedarf eingesetzt werden, wenn die
im Voraus möglich exakt berechneten Kundenströme dies erfordern, wenn Personal
ausfällt oder unvorhergesehener Arbeitsaufwand ansteht. Keine Leerlaufzeiten,
jede Arbeitsstunde voll ausgenutzt, keine unnötigen Kosten! Daran arbeiten die
Unternehmer seit Jahren, unterstützt durch die Politik, die dies durch
entsprechende Gesetze, wie das Teilzeit- und Befristungsgesetz erst ermöglicht
hat. Die Änderungen in den Ladenschlussgesetzen der Länder sind ein weiterer,
von langer Hand vorbereiteter Schritt in Richtung auf amerikanische
Verhältnisse: rund um die Uhr geöffnete Läden in Kombination mit schlecht
bezahlten Minijobs.

ver.di gibt sich kämpferisch

Die Gegenforderung der Unternehmer traf ver.di recht
unvorbereitet. Wer Jahrzehnte lang lediglich Rituale zwecks Lohnerhöhungen von
ein paar Prozent vollzogen hat, ist nicht unbedingt in der Lage, solchen
Angriffen etwas entgegenzusetzen. Derartigen Frontalangriffen kann eine
Gewerkschaft nicht dadurch begegnen, dass sie hier und dort ihre wenigen
Mitglieder in den Streik ruft. Das hat mittlerweile auch ver.di gemerkt. Unter
dem Motto „be.streikt“ und „dichtmachen!“ ruft ver.di in Berlin zusammen mit
linken Gruppen um das „Maydaybündnis“ und anderen Unterstützern dazu auf,
jeweils eine Filiale einer Handelskette richtig zu bestreiken, d.h. „die Arbeit
und der Einkauf in dieser Filiale sollen komplett ruhen“, wie es in einer
Pressemitteilung von ver.di Berlin-Brandenburg heißt. Kunden, Passanten,
Sympathisanten, die Öffentlichkeit sollen in den Arbeitskampf mit einbezogen
werden. „Campaigning“ wird das im Jargon genannt, eine Form der direkten
Aktion, die aus der syndikalistischen Bewegung stammt und in karikierter Form
zunächst bei den modernen US-Gewerkschaften und langsam auch im DGB angekommen
ist. Bleibt abzuwarten, wie diese „neue“ alte Taktik von einer reformistischen
Gewerkschaft wie ver.di eingesetzt wird. Bisher degenerierten ähnliche Ansätze
einer vermeintlich kämpferischen Gewerkschaftsarbeit innerhalb kürzester Zeit
zu etwas unkonventionellen Mitgliederwerbeaktionen. Für die Beschäftigten
bliebe zu hoffen, dass es diesmal anders wird.

Karl Hoffmann (FAU Neustadt a.d.W.)

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