Zurück zu den Wurzeln!

1981: Der Bundespräsident Karl Carstens nimmt in der vordersten
Reihe des Saales Platz. Er ist erschienen, um die Fachmesse „Reha 81“ zu
eröffnen, als sich ihm ein Mann nähert, der sich auf Krükken stützt. Mit den
Worten: „Carstens, haben Sie denn aus den Dortmunder Ereignissen nichts
gelernt? Sie sind ja schon wieder Schirmherr“, schlägt Franz Christoph dem
Herrn Bundespräsidenten seine Gehhilfe zweimal gegen das Schienbein. Die
„Krüppelschläge“ Christophs zogen eine immense Medienresonanz nach sich. Wenige
Wochen zuvor waren sich die beiden schon einmal begegnet, als eine anlässlich
des „UNO-Jahres der Behinderten“ organisierte Festveranstaltung in der
Dortmunder Westfalenhalle von Behinderten gestört wurde, die das Podium
besetzten und eine Resolution gegen die Sonderbehandlungen von behinderten
Menschen verlasen.

Das Jahr 1981 markiert den Höhepunkt der sog.
Krüppelbewegung. In ihr formierten sich Menschen mit Behinderungen nicht nur
gegen Diskriminierung durch offene Feindseligkeit aus der Gesellschaft, sondern
auch gegen die repressive Hilfsbereitschaft vieler Nicht-Behinderter, die ihnen
die passive Rolle der Hilfebedürftigen zuweisen und damit jede Perspektive auf
ein selbstbestimmtes Leben verbauen. Nachdem sich in den 50ern und 60ern die
Angehörigen von Menschen mit Behinderungen erfolgreich organisiert hatten – in
diesem Zusammenhang entstanden z.B. die „Lebenshilfe“-Vereine –, begannen sich
seit den 70ern auch die Menschen mit Behinderung direkt zu organisieren. Die
Abhängigkeit von Heimen, Werkstätten und nicht zuletzt der eigenen Familie
wurde durch die Betroffenen thematisiert, die gesellschaftliche Ausgrenzung und
Bevormundung von Behinderten angegriffen.

Die Ambulanten Dienste

Im selben Jahr wurde in Berlin der gemeinnützige Verein
„Ambulante Dienste e.V.“ (AD) gegründet. Der Verein organisiert
Assistenzdienste für behinderte Menschen, damit diese nicht in die Abhängigkeit
von Institutionen wie Heimen geraten und stattdessen ein selbstbestimmteres
Leben in der eigenen Wohnung leben können. Zur Philosophie von AD gehörte von
Anfang an, dass die AssistentInnen nicht ausgebildet sind, sondern als
Ungelernte die Behinderten (AssistenznehmerInnen) unterstützen. Dabei liegt das
Bestimmungsrecht über das, was passieren soll und wie es passieren soll,
alleine bei den AssistenznehmerInnen.

AD Berlin ist heute mit ca. 550 Beschäftigten der größte
Anbieter ambulanter Assistenzdienste für Behinderte in Deutschland. Aus dem
linken Kollektiv ist ein mittelständischer Betrieb geworden. Ebenfalls zur
Philosophie gehörte lange, dass die AssistentInnen fair bezahlt und behandelt
werden. Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Anfang der
90er wurden noch 25 DM Stundenlohn an die AssistentInnen ausbezahlt. Es folgte
eine schleichende Entwicklung, in deren Verlauf sich die Rechte und Gehälter
der AssistentInnen stetig verminderten. Den Betriebsfrieden störte das lange
nicht: Die AssistentInnen machen ihren Job in der Regel aus Überzeugung und
waren dementsprechend – ungeachtet der eigenen Lohnabhängigkeit – bereit,
Einschränkungen für das gemeinsame Projekt in Kauf zu nehmen.

Seit diesem Jahr ist das Maß allerdings voll. Die
Geschäftsleitung verkündete, dass für neu eingestellte Beschäftigte eine neue
Lohngruppe eingeführt wird. Aufgrund der Umstrukturierungen an den
Universitäten seien die Studierenden – sie stellen einen bedeutenden Anteil an
den Beschäftigten dar – nicht mehr f lexibel genug für die Arbeit bei AD.
Deshalb müsse man zunehmend auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigte
zurückgreifen. Die dadurch entstehenden Mehrkosten sollen durch die Absenkung
der Stundenlöhne aufgebracht werden. Bisher lag das Einstiegsgehalt bei 10,27
Euro, auch nicht gerade üppig, und wurde nun auf 8,60 Euro für
Sozialversicherungspflichtige und 7,60 Euro für Studierende abgesenkt.
Zusätzlich soll es ab sofort eine Festanstellung erst nach zwei Jahren
Betriebszugehörigkeit geben. Damit ist der „linke Verein“ endgültig auf dem
harten Boden der Pflegebranche gelandet.

Beginn von Gegenwehr

Der erst vor wenigen Jahren gegründete Betriebsrat rief zum
Protest auf und organisiert seit Anfang diesen Jahres regelmäßige Treffen der
Beschäftigten. In der Folge kam es zu einigen öffentlichkeitswirksamen Aktionen
der Selbigen. Einige Aktive beteiligten sich an der Berliner Mayday-Parade am
1. Mai 2008. Wenige Tage zuvor war die Geschäftsstelle während einer Sitzung
der Geschäftsleitung von 50 AssistentInnen mit der Unterstützung von einigen
AssistenznehmerInnen besetzt worden. Auch Mitglieder der FAU, die im Betrieb
arbeiten, wurden aktiv, eine Betriebsgruppe im Rahmen der Sektion Sozialwesen
des Allgemeinen Syndikates Berlin gegründet.

Momentan sind die Fronten verhärtet: Der Betriebsrat und die
aktiven Beschäftigten fordern nach wie vor eine deutliche Anhebung der Löhne.
Die Geschäftsleitung verweigert jede Diskussion zum Thema. Die Möglichkeiten
der Beschäftigten, Druck aufzubauen, sind aktuell leider begrenzt, denn nur ein
Bruchteil von ihnen ist dauerhaft aktiv geworden. Es ist allerdings gelungen,
die Diskussion über die Verhältnisse im Betrieb in Gang zu setzen. Diese könnte
langfristig bewirken, dass die AssistenznehmerInnen und AssistentInnen
erkennen, dass eine gleichberechtigtes Zusammenleben von Menschen mit und ohne
Behinderung in dieser Gesellschaft nur möglich ist, wenn die Bedürfnisse aller
Beteiligten gemeinsam berükksichtigt werden. Den AssistenznehmerInnen kann
nicht daran gelegen sein, mit schlecht bezahlten, gestressten und frustrierten
AssistentInnen zusammenzuarbeiten. Nur gemeinsam kann eine Lösung gefunden
werden, die es ermöglicht, dass AD wieder zu seinen Wurzeln zurückkehr und als
gesellschaftliche Kraft agiert, die nicht Dienstleistungen zu Hungerlöhnen
anbietet, sondern für eine gemeinsames Leben von Menschen mit und ohne
Behinderung streitet.

Gegner in diesem Konflikt ist der Berliner Senat, der in den
letzten Jahren dafür gesorgt hat, dass die Mittel für die persönlichen
Assistenzen immer knapper wurden, und die Geschäftsleitung von AD, die
gemeinsam mit dem Vorstand des Vereins seit Jahren dafür sorge trägt, dass die
Belastungen einseitig auf dem Rücken der Beschäftigten abgeladen wurden.

Die Betriebsgruppe der FAU wird sich in diesem Sinne
einbringen. „Gleicher UND höherer Lohn für gleiche Arbeit!“ wird nur die erste
Forderung bleiben.

Robert Ortmann (Sektion Sozialwesen/FAU Berlin)

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