Ein Vorschlag zur Güte

Partizipatorische Ökonomie, kurz Parecon, ist der Entwurf
eines klassenlosen Wirtschaftssystems, das eine Alternative bieten könnte zu
Kapitalismus, Marktsozialismus und zentraler Planwirtschaft. Parecon fußt auf
Gerechtigkeit, Solidarität, Verschiedenheit und Selbstverwaltung. Neben
wirtschaftlichen Erwägungen spielen auch Verwandtschaft und Geschlecht sowie
Gemeinschaft und kommunale Strukturen eine bedeutende Rolle. In der Parecon
treffen Räte der Arbeiter und Verbraucher in Selbstverwaltung die
Entscheidungen. Im Interview stellt Michael Albert die Kernpunkte seiner Vision
für eine antikapitalistische Wirtschaft vor.

 

Als ich das erste Mal über Parecon las, überraschte mich am
meisten, dass es ganz wie ein anarchistisches Wirtschaftsmodell klingt. Ist
diese Einschätzung richtig?

Michael Albert: Das ist richtig, in meinen Augen. Der
Anarchismus ist eine breiter und vielfältiger Ansatz, gesellschaftliche
Beziehungen zu verstehen und Einfluss auf sie zu nehmen. Im weitesten Sinne
besagt der Anarchismus, dass wir weder Wohlstands- noch Machthierarchien
wollen, die einige Leute zur Herrschaft befähigen oder gar zwingen, während ihnen
andere Leute, und zwar im Allgemeinen sehr viel mehr Leute, untergeordnet sind.
Diese Problemstellung wendet Parecon auf die Wirtschaft an und macht
Vorschläge, wie Produktion, Verteilung (1) und Konsumption zu bewerkstelligen
seien. Diese Vorschläge sehen keinen Kreis von Menschen vor, der aufgrund
seiner Position im Produktionsprozess andere Menschen beherrschen könnte. Der
Wirtschaftsentwurf Parecon ist in diesem Sinne die Utopie einer klassenlosen
Gesellschaft, einer Wirtschaft ohne Klassenhierarchie. So ist Parecon sehr
stark in der anarchistischen Tradition verwurzelt.

Mehr noch, hat der Anarchismus ein weiteres großes Motto,
nämlich dass bei Entscheidungen auch die Betroffenen mitzureden haben sollten.
Die Menschen sollten teilnehmen können und ihre Lebensbedingungen und Chancen
selbst in der Hand haben — selbstverständlich in Abstimmung mit anderen.
Parecon ist eine Wirtschaft, die die Selbstverwaltung zum Ziel hat. Das Ziel
heißt also, dass alle Menschen Entscheidungsgewalt in dem Maße haben, in dem
sie von den Entscheidungen betroffen sind. Parecon ist eine solidarische
Ökonomie, die allen Beteiligten dieselbe Verantwortung und Macht zuschreibt.
Auch in diesem Punkt, denke ich, ist Parecon ein anarchistisches Modell.

In deinen Veröffentlichungen beschreibst du eine dritte
Klasse, eine sogenannte Klasse der Koordinatoren. Was ist das und wie
unterscheidet sich Parecon durch dieses Konzept von anderen radikalen Theorien,
wie z.B. vom Marxismus und vom Anarchismus?

A: MarxistInnen stellen zurecht heraus, dass
Eigentumsverhältnisse Akteure hervorbringen können und auch hervorbringen, die
nicht nur verschiedene, sondern entgegengesetzte Interessen haben. Das nennen
sie Klassenspaltung und Klassenherrschaft. Besitzer von Fabriken, Rohstoffen und
produktivem Eigentum, die sogenannten Kapitalisten haben andere Interessen als
die Leute, die um des Lohns willen ihre Arbeitsfähigkeit verkaufen. Diese
Unterscheidung in Kapital und Arbeit ist ein Schlüssel zum Verständnis, wie
eine kapitalistische Wirtschaft funktioniert und welche Auswirkungen sie auf
die Menschen hat. Da hat der Marxismus Recht. Es gilt, die Verhältnisse
abzuschaffen, wo einige wenige Menschen unser aller Arbeitsplätze, unser aller
Werkzeuge und unser aller Rohstoffe besitzen. So weit, so gut.

Aber diese Spaltung ist nicht die einzige! Bakunin und
andere frühe AnarchistInnen sprachen viel über ArbeiterInnen, die in gewissem
Maße mehr Macht und Einkommen hatten als andere ArbeiterInnen. Viel später,
Mitte der 1970er brachten Barbara und John Ehrenreich dies wieder ins Gespräch
als sie eine Gruppe „zwischen Arbeit und Kapital“ erkannten, die professionelle
Managerklasse. Robin Hahnel und ich entschieden uns im Buch „Parecon“ für eine
andere Bezeichnung: die Koordinatorenklasse. Wir verfeinerten sowohl die
Kriterien als auch die Begründung dafür, warum diese Unterscheidung sinnvoll
ist. Wir schlagen folgende Definition vor: Menschen, die befähigende und
erfüllende Posten für sich in Anspruch nehmen, während andere Menschen (die
Klasse der ArbeiterInnen) zumeist nur Routinearbeiten, ausführende und
langweilige Aufgaben erledigen.

Warum nun nicht sagen, es gibt Kapitalisten einerseits und
Arbeiter andererseits, zwei Klassen? Warum streiten um des Kaisers Bart? Es mag
ArbeiterInnen geben, die eine Menge kreative Aufgaben auf Arbeit haben, während
andere nur stumpfsinnige Aufgaben haben, aber sie alle sind Arbeiter. Sie alle
besitzen nur ihre Arbeitskraft, die sie alle verkaufen müssen. Robin und ich
meinen, es sind zwei Klassen und eben nicht eine Klasse mit zwei Schichten.

Diese beiden Großgruppen leben tatsächlich in sehr
unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen, mit unterschiedlicher Macht und
Einkommen, mit verschiedenen Sichtweisen auf „die da oben“ (Kapitalisten) und
auf sich selbst. In unseren Augen ist die Verschiedenheit beider Gruppen aus
zwei Gründen so groß, dass wir sie zwei Klassen nennen: 1) Die kapitalistische
Wirtschaft der Gegenwart als Drei-Klassen-System aufzufassen bedeutet, die
Komplexität des Wirtschaftslebens in Rechnung zu stellen, die durch den
Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit unterbelichtet bleibt. Punkt 2)
ist wichtiger, dieses Drei-Klassen-Modell betont den Fakt, dass der
Kapitalismus durch zwei verschiedene Systeme abgelöst werden kann. Einerseits könnte
die Koordinatorenklasse die neue herrschende Klasse werden, nach dem Motto: Weg
mit dem alten Boss, her mit dem neuen! Im 20. Jahrhundert war das der zentral
geplante Markt-Sozialismus, der richtigerweise eher zentral geplanter
Markt-Koordinatorismus heißen sollte. Andererseits könnte an die Stelle des
Kapitalismus eine klassenlose Gesellschaft treten. Hierzu müsste die Spaltung
in Kapital und Arbeit aufgehoben werden, durch die Abschaffung des
Privateigentums an Produktionsmitteln. Gleichzeitig müsste auch die Spaltung in
Koordination und Arbeit aufgehoben werden. Ich glaube nicht, dass uns die
Beschreibung der Koordinatorenklasse vom Erbe des Anarchismus scheidet, das
tatsächlich sogar die Grundlage für diesen Gedankengang bildet.

Was büßen wir ein, wenn wir die Koordinatorenklasse
ignorieren? Und wie können wir es vermeiden, eine Koordinatorenklasse zu
schaffen, wenn wir antikapitalistische Arbeitsplätze einrichten?

A: Wenn wir ignorieren, dass Ärzte, Anwälte, Ingenieure,
Manager und andere, die ein Monopol auf befähigende und erfüllende Tätigkeiten
haben, dass sie eine Klasse oberhalb der ArbeiterInnen sind, verdunkeln und
verstecken wir buchstäblich die Existenz dieser Klasse und ihrer Beziehungen.
Wir verdunkeln und verstecken die Realität, dass jemand ehrlich und engagiert
antikapitalistisch sein kann, aber gleichzeitig nicht gegen die
Klassenspaltung, sondern für die Koordinatorenklasse arbeitet. Wir verdrängen,
dass es möglich und nicht unüblich ist, dass antikapitalistische Bewegungen
Werte, Thesen, Sprache, Stil und Gewohnheiten verkörpern, die den Erfahrungen,
Interessen und Hoffnungen der Koordinatorenklasse entstammen — nicht denen der
ArbeiterInnen. Und aus diesem Grunde sind sie den ArbeiterInnen unsympathisch,
befremdlich, ja sie erfüllen und befähigen sie nicht. Anders gesagt, wenn wir
die Koordinatorenklasse ignorieren, ignorieren wir diese und andere zentrale,
kritische Erkenntnisse darüber, was wir tun, wie wir es tun, welche
Erfolgsaussichten wir haben und welche Folgen unser Tun nach sich zieht.

Nun zum zweiten Teil deiner Frage: Wenn Leute, die eine
bessere Welt suchen, Experimente auf wirtschaftlichem Gebiet unternehmen und
die alten Klassenspaltungen nicht reproduzieren wollen, dann darf es
selbstverständlich niemanden geben, dem das neue Projekt gehört, dann kann es
auch keine Beschäftigten geben. So viel ist klar, obwohl diese Problematik oft
nicht erschöpfend behandelt wird. Da ist viel zu beachten, vor allem aber heißt
es, dass wir in unseren Projekten nicht die Entscheidungswege gehen können, mit
denen gemeinhin Arbeitsaufgaben definiert und zugeteilt werden, so wie wir es
kennen. Etwa 20 Prozent der Leute in einem Unternehmen übernehmen all die
befähigenden und erfüllenden Aufgaben, während 80 Prozent nur Routine und
ausführende Tätigkeiten verrichten; erstere stehen dadurch, durch ihre Stellung
im Produktionsprozess über letzteren. Das ist die korporative Arbeitsteilung.
Um diese Hierarchie auszumerzen, müssen wir die Arbeitsteilung neu definieren,
müssen wir Jobs derart gestalten, dass das Monopol auf befähigende Tätigkeiten
gebrochen und die „Schokolade“ gerecht verteilt wird. Dieses Ziel nennt Parecon
„ausgewogene Tätigkeitsbündel“. Der Gedanke dahinter ist der, dass jede der
beteiligten Personen verschiedene Tätigkeiten in ihrem Job machen sollte, so
dass die Aufgaben und Verantwortung insgesamt die Leute in etwa gleicher Weise
befähigen und weiterbringen.

Der Ökonomismus, der Tunnelblick auf wirtschaftliche
Faktoren, reduziert radikale Theorie und gesellschaftliche Fakten auf
ökonomische Erwägungen. Der Marxismus ist ein Paradebeispiel dafür. Was hältst
du vom Ökonomismus?

A: Die meisten MarxistInnen sind nicht so borniert, nur
Wirtschaft und Klasse zu analysieren, insbesondere wenn es darum geht, die
Lehren aufzunehmen, die uns die Frauenbewegungen, Schwulen-, antirassistische
und andere Bewegungen bieten. Nichtsdestotrotz gibt es im Marxismus eine
Tendenz, und zwar vor allem in konfliktträchtigen Zeiten, die alle Dynamiken
und Beziehungen nur unter dem Aspekt ihres Einflusses auf die Ökonomie und die
Klassenverhältnisse betrachtet. Ökonomie und Klassenverhältnisse werden hier
als zentrale, bedeutende Grundlage für alle anderen Erscheinungen und
Entwicklungen aufgefasst. Die Kritik an dieser Haltung kann aber nicht die sein,
dass man ausgehend von diesen ökonomischen Erwägungen nicht auf den Rest der
Gesellschaft blicken könne und umgekehrt — das kann man sehr wohl, und sehr
gewinnbringend tun. Aber man kann die Auswirkungen von Verwandtschaft und
Geschlecht, oder die von Gemeinschaft, Ethnie und Kommune ebenso gewinnbringend
ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Man kann diese Facetten mit der Ökonomie
oder auch zueinander in Beziehung setzen. Mehr noch, wirtschaftliche oder
Klassen-Dynamiken können in den Blick genommen werden, ohne außer Acht zu
lassen wie sie Geschlechter- und Gemeinschaftsverhältnisse, oder politische
Hierarchien verändern. Und es stimmt, dass der Rest der Gesellschaft
seinerseits Impulse gibt, die sich auf die Ökonomie auswirken — und dies ist
sehr wichtig, ja zentral. Dass die ökonomische Sphäre sehr wichtig, ja zentral
ist, heißt nicht dass sie allein allbedeutend ist. In der Tat ist es ja so,
dass auch Verwandtschaft (Sozialisation, Sexualität, etc.) und Gemeinschaft
(Feiern, Identität, etc.) sowie Politik (Gesetzgebung, Rechtssprechung, etc.)
je ein Kräfteverhältnis erzeugen, das Impulse aussendet und Impulse empfängt.

Anders gesagt, es gibt nicht den einen über-wichtigen Fokus,
nicht die eine zentrale Dimension gesellschaftlichen Lebens, die die Engagierten
besonders herausstellen müssten, sondern es sind vier. (2) Also brauchen wir
einen theoretischen Ansatz, der alle vier gleichermaßen betont, der jede
einzelne Dimension im Lichte der anderen betrachtet. Ein Konzept, das nur eine
Dimension, sei es die wirtschaftliche oder eine andere, zur Hauptsache erklärt,
ist nicht zu gebrauchen.

Es gibt Vertreter des Anarcho-Syndikalismus, die der
Auffassung sind, die beste Strategie für eine libertäre gesellschaftliche
Umwälzung sei es, wenn die ArbeiterInnen ihre Arbeitsplätze in Orte der
Solidarität und Zwanglosigkeit umwandeln würden. Ist die Parecon mit diesem
anarcho-syndikalistischen Ansatz vereinbar, oder konzentriert sich dieses
Konzept zu sehr auf die Ökonomie?

A: Meiner Meinung nach kann jemand, der diesen Ansatz
vertritt, ob er sich nun Anarcho-Syndikalist oder anders nennt, die
Wirtschaftsordnung Parecon als Ziel definieren und mit Ja antworten. Parecon
ist mit einer ökonomistischen Schwerpunktsetzung vereinbar. Ich würde so aber
nicht antworten. Vielmehr meine ich, dass Parecon ein tragfähiges und
erstrebenswertes Konzept bietet, um den Kapitalismus zugunsten einer
klassenlosen Wirtschaftsordnung zu überwinden, ja. Ich bin aber nicht der
Ansicht, dass sich alles im Leben nur ums Ökonomische dreht, oder dass die
Wirtschaft das ganze Leben beherrscht; das sind vereinfachende ökonomistische
Behauptungen. Stattdessen bin ich der Überzeugung, dass wir Bewegungen
brauchen, die nicht nur die Vision einer klassenlosen Wirtschaft in sich
tragen, sondern auch eine feministische Vision der Familienverhältnisse, eine
übergreifende Vision der Gemeinschaft und eine anarchistische Vision für die
Politik — kurz, ein politisches System, das politische Funktionen übernimmt und
gleichzeitig mit unseren Werten vereinbar ist, statt glauben zu machen, es
wären keine politischen Funktionen mehr zu erfüllen. Wir brauchen eine Vision
für eine partizipatorische Gesellschaft, nicht nur für eine partizipatorische
Wirtschaft — aber diese Vision muss nicht bis in die letzten Ecken und Winkel
ausgemalt sein, es genügen einige zentrale Grundzüge. Wir brauchen sowohl Ideen
für die Gesellschaft wie für die Wirtschaft, um uns zu inspirieren und zu
motivieren. Diese Ideen können uns in Momenten der Entscheidung eine Richtlinie
sein, so dass wir schließlich dort landen, wo wir auch hinwollen, dass wir uns
nicht im Kreis drehen oder in erneuerter Knechtschaft enden. Diejenigen, die
die Fahne der Wirtschaft hochhalten, haben vollkommen Recht, wenn sie
behaupten, dass all unsere Anstrengungen zur Abschaffung der gesellschaftlichen
Übel und dass alle Errungenschaften immer bedroht sein werden durch den
Fortbestand veralteter ökonomischer Strukturen und ihrer durchdringend
korrumpierenden Einflüsse — wenn wir die Wirtschaft nicht revolutionieren. Das
gleiche gilt meiner Meinung nach aber auch für den Fall, die
verwandtschaftliche Sphäre des Lebens, die Kultur und die Gemeinschaft, die
Politik unangetastet zu belassen. Einen dieser wesentlichen, grundlegenden
Aspekte intakt zu lassen, bedeutet eine schwere Bürde, die die gesamte
Gesellschaft zurückzieht in die Logik und die Folgen der Herrschaft. Kurz, die
Betonung nur einer Facette ist eine selbstmörderische, keine weise Strategie.
Stattdessen brauchen wir Bewegungen, die all diese Dimensionen hervorheben,
ohne die eine über die anderen zu erheben. Ich denke sogar, dass das vielen
Leuten klar ist und dass es viele Praxisbeispiele gibt, die vielleicht nicht
perfekt sind, aber zumindest den Versuch unternehmen. Noch nicht so weit
verbreitet ist meiner Ansicht nach, weder theoretisch noch praktisch, ein
Aspekt, über den wir bereits sprachen: die Rolle und Bedeutung der dritten, der
Koordinatorenklasse für die Politik, Struktur, Kultur und Logik einer Bewegung.
Dass nur den Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital Aufmerksamkeit gezollt
wird, hat verheerende Folgen für Teilhabe und Befähigung in der
Arbeiterbewegung.

Einige Syndikalisten, Sam Dolgoff z.B., argumentieren, dass
eine anarchistische Wirtschaftsordnung ein Ideal für eine fortgeschritten
industrialisierte Gesellschaft ist. Was meint Parecon zu dieser Position?

A: Das hängt immer von der Sicht auf Parecon ab. Ich meine,
Parecon ist eine ideale Wirtschaftsordnung für eine „fortgeschritten
industrialisierte Gesellschaft“. Ich denke auch, dass Parecon eine
„anarchistische Wirtschaftsordnung“ ist. Daraus folgt wohl, dass Parecon meiner
Meinung nach Dolgoffs Prognose bekräftigt, dass „eine anarchistische
Wirtschaftsordnung ein Ideal für eine fortgeschritten industrialisierte
Gesellschaft“ ist. Wenn Dolgoffs Kommentar aber in dem Sinne verstanden wird,
dass eine anarchistische Wirtschaft in einer weniger industrialisierten
Gesellschaft nicht funktioniert, so ist das meiner Meinung nach nicht der Fall.

Vor einigen Jahren sprach ich mit Noam Chomsky darüber, dass
der Anarchismus in verschiedene Lager gespalten ist. Ich führte Murray Bookchin
mit der These ins Feld, der Anarcho-Syndikalismus sei in den USA, in einer
post-industriellen, Post-Mangel-Gesellschaft, einer Überflussökonomie
grundsätzlich nicht umsetzbar. Fand er die Debatte auch nicht sehr
einleuchtend, so ist doch in jedem Fall, so Chomsky, „die Aufgabe im Grunde
dieselbe: man muss versuchen, institutionelle Vereinbarungen zu treffen, die
die Kontrolle seitens der ArbeiterInnen und der Community ebenso maximieren wie
andere Aspekte der Freiheit und Gerechtigkeit.“

A: Ich habe keine Ahnung, was Überflussökonomie oder
post-industriell heißen soll, aber ich bezweifle, dass das angemessene Begriffe
sind, um die USA oder irgendein anderes Land zu beschreiben. Mangel heißt, dass
wir zwischen verschiedenen Optionen wählen müssen, dass wir nicht alles haben
können. Überfluss hieße demzufolge, dass die Wirtschaft jedem alles liefern
kann. „Post-Mangel“ ist offensichtlich Nonsens. Es gibt immer Kosten: die Ressourcen,
Kräfte, Zwischenprodukte etc., um die Sachen herzustellen, die die breite Masse
will. Auch die Vermögensmasse, die zu verteilen ist, ist alles andere als
unbegrenzt. Wahren Überfluss gibt es also nicht, kein kostenloses Frühstück,
oder kostenloses Abendessen, keine kostenlose Geige, auch für Transport und
Kleidung muss man bezahlen. Etwas Bestimmtes herzustellen heißt ja immer, dass
die dafür verwendeten Ressourcen, Kräfte etc. nicht zur Verfügung stehen um
anderes herzustellen. Deshalb müssen Entscheidungen getroffen werden über die
Ziele und Prioritäten — Entscheidungen auch darüber, wie die Produktion zu
organisieren ist, wie viel des Sozialprodukts die Leute für ihre Arbeit
erhalten etc. Die Parecon bietet die Möglichkeiten, um Produktion, Konsumption
und Verteilung zu bewerkstelligen, und zwar bei jedem Grad von Mangel und in
Übereinstimmung mit den unseren Werten.

Ebenso wie „Überfluss“ ist mir unklar, was post-industriell
bedeuten soll: das Ende der Industrie? Ich kann’s nur wiederholen, das wird nie
der Fall sein. Klar spielt es eine Rolle, was unter „Industrie“ zu verstehen
ist, wie man das Wort definiert. Wenn es Arbeitsplätze mit speziellen
Zuweisungen meint, etwa eine bestimmte Technologie, dann lässt sich Industrie
tatsächlich überwinden. Wenn Industrie aber bedeutet, dass Menschengruppen
gemeinsam arbeiten an Werkzeugen, mit Rohstoffen und unter Anstrengung, und
dabei auch ein Auskommen suchen, dann kann man Industrie bestimmt nicht
überwinden.

Mit Anarcho-Syndikalismus und Anarcho-Kommunismus dasselbe
Spiel, ich weiß nicht, was diese Begriffe bedeuten, welchen greifbaren Gehalt
sie heute haben sollen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass verschiedene Leute
unterschiedliche Antworten geben würden. Wenn Anarcho-Kommunismus heißen soll,
dass es keine ökonomischen Grenzen mehr gibt, dann ist das keine Vision für die
reale Welt, weil sie schlicht unmöglich ist. Wenn Anarcho-Kommunismus etwas
anderes heißen soll, dann könnte es mir vielleicht gefallen. Wie auch immer,
ich denke, die Parecon ist eine wertvolle und wünschenswerte
Wirtschaftsordnung. Kann ein/e Vertreter/in einer dieser beiden Denkschulen des
Anarchismus die Parecon auch vertreten? Ich denke ja. In diesem Punkt gibt es
wohl keinen Zweifel.

Denn eine klassenlose Wirtschaft ist immer noch notwendig.
Diese Wirtschaft würde nicht nur nützliche und sinnvolle Produkte herstellen,
sondern auch Solidarität, Vielfalt, Gerechtigkeit und Selbstverwaltung — diese
Wirtschaft wäre nicht mehr Quell von A-Sozialität und Gier, von
Vereinheitlichung und krasser Kommerzialisierung, von enormen Einkommen und
bitterer Armut. Wirtschaft wäre nicht mehr die Herrschaft von relativ Wenigen
in Zentren immenser Macht, die die meisten Leute zu wenig mehr als blindem
Gehorsam herabwürdigt. Der Kapitalismus ist das Problem, für das die Parecon
ein Lösungsvorschlag ist. Wobei unter Kapitalismus auch zu verstehen ist, was
ich Koordinatorismus nenne, andere nennen es Marktsozialismus, Planwirtschaft,
oder Sozialismus des 20. Jahrhunderts.

Ist Parecon eine Standardlösung im Sinne einer eierlegenden
Wollmilchsau? Oder brauchen wir nicht für verschiedene Erfahrungen auch
verschiedene Herangehensweisen? Ein Problem vieler Radikaler ist ja, dass sie
mit ihren Theorien versuchen, allen Leuten eine Strategie nahezulegen, die nur
für wenige funktioniert.

A: Parecon ist eine Vision, sie schlägt Kernzüge vor für
eine post-kapitalistische, und das heißt auch post-koordinatoristische
Wirtschaft. Welche Strategie und Taktik die Parecon in einer Gesellschaft
etablieren und auch andere Lebensbereiche revolutionieren kann, das ist eine
andere Frage als die Vision selbst. Strategie und Taktik sind ein schwierigeres
Thema, hängen aber auch von den Kämpfen um diese Veränderungen ab, vom Kontext.
Einerseits soll eine pareconistische Strategie vom Kapitalismus zur Parecon
führen, von daher können wir einige allgemeine Aussagen darüber treffen. Aber
eine solche Strategie führt in der Wirklichkeit von einem je besonderen
Kapitalismus zu einer besonderen Parecon, und zwar in einer bestimmten Zeit und
einem bestimmten Kontext. Vieles an diesen Strukturen wird eine einzigartige
Reaktion auf die Umgebung sein. Die Strukturen in den USA und einem
Dritt-Welt-Land werden verschieden sein, aber auch in zwei Entwicklungsländern
oder etwa zwischen den USA und Italien wird es Unterschiede geben.

Sieh dir den Kapitalismus an. Für gewöhnlich bezeichnen wir
viele Wirtschaftssysteme so; die aber sind aber natürlich nicht gleich groß
oder von gleicher Gestalt. Verschiedene kapitalistische Volkswirtschaften
können und unterscheiden sich tatsächlich von einander, sie haben ihre je
besonderen Rohstoffe, Geografie, ihr Klima und ihre Geschichte, ihre
Bevölkerung. Sie haben zu tun mit unterschiedlichen institutionellen
Strukturen, z.B. Arbeitsrecht, Beschränkungen bei der Einkommensschere, mit der
Bankenstruktur usw. usf. Diese Unterschiede gibt es auch aufgrund verschiedener
Verhandlungsmacht der antagonistischen Klassen (nimm etwa Schweden und die
USA), verschiedener politischer Strukturen (nimm Nazi-Deutschland und die
Schweiz), oder aufgrund anderer ethnischer Beziehungen (nimm das
Apartheids-Südafrika und Finnland) und patriarchaler Ausprägung (nimm Japan und
Kanada). Auch diese Reihe ließe sich fortsetzen.

Dasselbe trifft auch auf pareconistische Wirtschaftssysteme
zu, das kann man wohl mit Sicherheit sagen. Zwischen den Regionen einer
pareconistischen Wirtschaft, zwischen verschiedenen Branchen oder gar zwischen
Betrieben einer Branche werden tatsächlich vielfältige und keineswegs
irrelevante Unterschiede bestehen, die aus der je eigenen Herangehensweise und
einer Reihe von Entscheidungen entstehen werden.

Der Punkt ist aber, dass die verschiedenen Kapitalismen der
Vergangenheit und die der Gegenwart eine selbe Grundlage haben, nämlich die
ökonomischen Institutionen: das Privateigentum an Produktionsmitteln, die
Verteilungsmacht, die korporative Arbeitsteilung und einiges mehr. So wird es
meiner Meinung nach eines Tages auch eine gemeinsame Grundlage all der
verschiedenen pareconistischen Institutionen geben, nämlich Selbstverwaltung in
Räten der Arbeiter und Verbraucher, ausgeglichene und qualifizierte
Tätigkeitsfelder, Entlohnung gemäß Einsatz und Entbehrungen, partizipatorische
Planung. Nicht anders wird die Parecon in einer Volkswirtschaft zu
diagnostizieren sein.

Das Interview führte DC Tedrow von ZNet im Juli 2007.

Übersetzt und bearbeitet von André Eisenstein.

Quelle: www.zcommunications.org

Fußnoten

  1. Verteilung, orig. „allocation“, findet heute über den
    Markt statt. Nach Helmut Richter meint Allokation den „Vorgang und die
    Institutionen, durch die entschieden wird, wer was in welcher Menge produziert,
    in welchem Zahlenverhältnis die Produkte getauscht werden und was schließlich
    aus ihnen wird.“
  2. Die vier Dimensionen gesellschaftlichen Lebens nach
    Michael Albert: Ökonomie, Verwandtschaft, Gemeinschaft und Politik. Anm. d.
    Übersetzers.

 

Das Buch

Michael Albert: Parecon. Leben nach dem Kapitalismus.
Trotzdem Verlagsgenossenschaft, Grafenau/Frankfurt a.M. 2006. Übersetzt von
Helmut Richter. ISBN 3-931786-33-1, 18 Euro.

 

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