Genosse Pirat

Die Lebenserinnerungen des revolutionären Matrosen Hermann
Knüfken wurden jetzt vom Berliner BasisDruck-Verlag publiziert. Im Frühjahr
1920 kaperte Knüfken den Fischdampfer Senator Schröder, um zwei KAPD-Genossen
nach Russland zum zweiten Komintern-Kongress zu bringen. Das Buch steigt mitten
im Geschehen ein.

Die Erinnerungen sind schwer zu verdauern — vor allem der
Teil, der sich um Untersuchungen der russischen Staatsorgane im Jahre 1930
dreht. Die Vernehmungsmethoden und die Brechung des politischen Willens
scheinen derart infam, dass es dem Leser noch heute nach Vergeltung dürstet.
Auch die Entführung des Fischtrawlers in der Nordsee nach Murmansk und die
Schilderung der von Knüfken organisierten Hungerstreiks während seiner fast
dreijährigen Haftzeit im Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel sind äußerst dramatisch.

Die Darstellung seiner politischen Überzeugung ist klar und
deutlich — gerade deshalb ist es schwer verständlich, weshalb es Hermann
Knüfken trotz seiner Kritik am Staatskapitalismus in die Sowjetunion trieb.
Seine Zuchthausstrafe wurde mit seiner Ausreise im Jahre 1923 vorzeitig
beendet. Er hätte möglicherweise auch nach Dänemark übersiedeln können. Aber er
ging nach Russland in die Hölle der sich längst abzeichnenden Diktatur. Wie
konnte er als Vertreter des revolutionären deutschen Seemannsbundes und anderer
skandinavischer Seeleute-Vereinigungen in Leningrad arbeiten? Diese Frage
bleibt ungeklärt.

Wer die Diktatur des Proletariats fordert, wird durch die
Diktatur der Partei zermalmt. Das musste bereits Anfang der 20er Jahre mit der
Spaltung der KPD jedem Revolutionär bewusst sein. „Ohne vollkommene Demokratie
in der KP, Aufbau von unten, freie Diskussion und Mitbestimmungsrecht der
unteren Parteieinheiten usw. kein wirklich sozialistischer Staat“, schreibt
Knüfken selbst. Dennoch reisen die KAPD-Genossen nach Moskau und müssen im Mai
1920 das bolschewistische „Strafgericht Gottes“ der Komintern über sich ergehen
lassen. Lenin bezichtigt sie als von „Kinderkrankheiten“ befallene
Linkskommunisten und Radek doziert, dass innerparteiliche Demokratie und
antiparlamentarische Einstellung keine prinzipiellen, sondern bloß taktische
Einstellungen von Kommunisten sind. Damit wurde von den oppositionellen
Delegierten Franz Jung und Jan Appel der Verrat an den eigenen Überzeugungen
gefordert. Die beiden Hamburger Werftarbeiter der AAU beugten sich ebenso wenig
wie Otto Rühle und August Merges — die neu-formierte KAPD lehnte den Beitritt
zur Komintern schließlich ab.

Knüfken macht die „ausgelöschten Bolschewiken“
verantwortlich für die Versklavung der „Millionenmassen von russischen
Arbeitern und Bauern“. Er spricht sie schuldig am „Wandel vom Sozialismus zum
Staatskapitalismus“. Warum wurde eine „neue Klasse von Ausbeutern, Managern und
Parasiten“ erschaffen? Weil die Altbolschwiken selbst angesichts der eigenen
Liquidierung „diese selbstmörderische Parteidisziplin“ aufrecht hielten,
Kronstadt 1921 hinnahmen und die oppositionellen Sinowjew-Kamenw-Trotzki auch
1926/27 zu feige waren, um zu kämpfen. Die Leningrader Arbeiter in den Fabriken
seien, so Knüfken, zum Kampf gegen Stalin bereit gewesen. Aber: Die Massen
„warteten auf ein Signal der Führer, und dieses Signal kam nicht. Die Masse war
zu jeder Aktion bereit.“ Kurz darauf waren die Massen jedoch demoralisiert, die
Stalinisten übernahmen endgültig die Herrschaft über Partei und Staat — samt
Staatspolizei.

Unabhängig davon — und ob sich irgendjemand nach über 20
Jahren wirklich an kleinste Details, Namen und Ortsangaben genauestens erinnern
kann — ist dieses Buch die Anklage eines revolutionären Matrosen gegen den
Terror der Staatspartei. Letztlich ist es also eine Anklage gegen die
Stalinisten. Seine Abkehr von der „Sache der Revolution“ verläuft nicht immer
gradlinig. Sie erfolgte bereits vor Knüfkens Ausschluss aus der KPD, der er
trotz seiner AAU- und KAPD-Überzeugungen jahrelang angehörte. Sein Kampf gegen
den NS-Faschismus als ITF-Organisator in Antwerpen ist hingegen umso
gradliniger. Sein Überlaufen zur bürgerlichen Demokratie und sein Dienen für
die britische Krone in der Entnazifizierungskommission für Seeleute sowie seine
Mitarbeit beim Aufbau der freien Gewerkschaft ÖTV in Hamburg mögen im
Widerspruch zum Ideal des treuen Soldaten im Heer der Revolution stehen. Aber
auch für ihn war wohl nach dem zweiten Weltkrieg und angesichts des Kalten
Krieges „eine unvollkommene Demokratie besser als eine vollkommene Despotie“,
wie Rudolf Rocker seinerzeit argumentierte. Aus der ÖTV wird Knüfken bereits
1947 wieder rausgeworfen, weil er über das Verhalten führender lokaler
ÖTV-Funktionäre während des Dritten Reiches berichtete. Selbst mit der ihm
attestierten „unzerstörbaren Zuversicht“ und „unerbittlichen Härte“ war er
machtlos gegen die Überzentralisisation und die typisch deutsche Disziplin in
der neuen-alten Gewerkschaftsbewegung. Am 8. Februar 1976 stirbt Knüfken in
England.

Diese lehrreiche Lebensgeschichte wird ergänzt durch
Dokumente und umfangreiche Anhänge. Die Würdigung der Antwerpener Arbeit von
Hermann Knüfken und seiner Gruppe gegen die Bestie Faschismus findet sich auch
in Dieter Nelles hervorragendem ITF-Buch „Widerstand und internationale
Solidarität“ aus dem Jahre 2001. Es ist erschienen im Klartext-Verlag.

Isegrim Z.

Hermann Knüfken: Von Kiel bis Leningrad Erinnerungen eines
revolutionären Matrosen 1917 bis 1930.
474 Seiten, 28 Euro, ISBN
978-3-86163-110-1

 

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