Eine Etappe im Kampf ums Ganze

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In der
Weltwirtschaftskrise bleibt alles beim Alten: Obwohl im Frühsommer
2009 schon über das Erreichen der „Talsohle“ und den Aufschwung
orakelt wurde, so sind massive Massenentlassungen noch immer nicht
ausgeschlossen. Die Wirtschaftsjournalisten scheinen da uneins mit
sich selbst: So titelte die Financial Times (FTD) im September
noch, die befürchtete Entlassungswelle werde auch nach der
Bundestagswahl ausbleiben, weil sich die wirtschaftlichen Kerndaten
stetig verbesserten. Dem widersprach einige Tage später die
Frankfurter Allgemeine (FAZ): „Die deutsche Wirtschaft
schwankt zwischen Hoffen, dass der Aufschwung beginnt, und der bangen
Ahnung, dass die Krise noch viele Opfer fordern wird.“

Für GewerkschafterInnen
und ArbeiterInnen kann es zwar erhellend sein, diese Debatte zu
verfolgen, an erster Stelle aber hat die Vorbereitung auf den
Ernstfall zu stehen. Zu diesen Vorbereitungen zählt u.a. die
Diskussion um geeignete Verteidigungsmaßnahmen. Denn Spontaneität
ist gut, aber nicht ausreichend, wie wir im Folgenden sehen werden.
Die Frage dabei ist keine neue; sie stellt sich in Zeiten kühl
kalkulierter Standortverlagerungen immer wieder, auch jenseits der
Krise: Wie können Betriebsschließungen und Massenentlassungen
verhindert werden?

Alte Methode neu in
Mode

In den vergangenen
Monaten haben sich insbesondere KollegInnen in anderen Ländern
Europas, Asiens und Lateinamerikas um eine praktische Antwort auf
diese Frage verdient gemacht. So konnte die Direkte Aktion
über Betriebsbesetzungen in Argentinien, Großbritannien und Italien
berichten.(1) Keine Erwähnung fanden bisher z.B. die
Aktionen der ArbeiterInnen in Schottland, den USA sowie in
Frankreich.(2) Und während der harte, letztlich aber
quasi militärisch gebrochene Abwehrkampf der AutobauerInnen von
Ssangyong in Südkorea für Schlagzeilen sorgte, breitet sich in
Lateinamerika geradezu eine Welle von Besetzungen aus, hier mit den
Schwerpunkten Argentinien und Venezuela.

Bemerkenswert an der
erfolgreichen Auseinandersetzung in den USA(3) ist, dass
die Betriebsbesetzung damit nach weit mehr als 50 Jahren in ihr
Ursprungsland zurückgekehrt ist: Als erste setzten die Militanten
der IWW auf den Sit-Down-Streik. In der Phase nach dem Ersten
Weltkrieg tauchten Betriebsbesetzungen dann nah und fern auf; hier
als erster Schritt im revolutionären Versuch, die
Produktionsverhältnisse generell umzuwälzen. Der große Durchbruch
als Mittel im Arbeitskampf kam jedoch Jahre später mit den
Streikbewegungen um 1936: Betriebsbesetzungen waren z.B. ein
Kennzeichen des Generalstreiks in Frankreich, mit dem grundlegende
Zugeständnisse wie die 40-Stunden-Woche und bezahlter Urlaub
erkämpft wurden. In den USA waren sie im gleichen Jahr der
entscheidende Hebel, den streikenden Fließband-ArbeiterInnen zum
Erfolg zu verhelfen. Doch in den Folgejahren wurde diese Kampfform
der Arbeiterbewegung seitens der US-Rechtsprechung für illegal
erklärt und verschwand dort zusehends.

Im Wesentlichen ist die
Betriebsbesetzung eine Steigerungsform des Streiks. Zur
Arbeitsverweigerung addiert sich die Inbesitznahme des Betriebs.
Dadurch können die Streikenden nicht nur den Einsatz von
Streikbrechern, sondern auch eine Produktionsverlagerung verhindern.
Heutzutage ist die Abwehr einer Verlagerung der häufigste Grund, der
Beschäftigte zu diesem Schritt bewegt. Damit erübrigt sich fast
eine Unterscheidung zwischen Besetzung und Blockade, denn beide
erreichen effektiv das vorrangige taktische Ziel, den Beschäftigten
die Waren und/oder Maschinen als Pfand zu sichern.

Teilweise betritt vor
diesem Hintergrund auch die Arbeiter-Selbstverwaltung wieder die
Bühne. Dabei erscheint sie heute viel bescheidener als
beispielsweise 1920 in Italien, als eine breite Massenbewegung einen
Generalstreik führte und die Enteignung der Ausbeuter ins Werk
setzte. Die Losung heute lautet im ambitioniertesten Falle:
wirtschaftliches Überleben, nicht Sozialismus.(4) Das mag
man bedauern. Neu ist diese Situation aber nicht: Auch
Betriebsbesetzungen, die „Geschichte machten“, wie z.B. 1973 bei
Ford in Köln oder 1974 bei LIP in Besançon, waren nur rein
praktisches (Druck-)Mittel und nicht Teil einer (im weitesten Sinne)
politischen Bewegung.

Der Sachverhalt zeigt
gleichzeitig, dass Besetzungen auch im 21. Jahrhundert nicht
irgendwelche Hirngespinste sind, sondern im Klassenkampf praktisch
eingesetzt werden. Und all das findet auch direkt vor der „eigenen
Haustür“ statt: So bietet uns die jüngere Vergangenheit schon
einige Beispiele. Zeitgleich mit den ersten betrieblichen
Auswirkungen der Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr kommt es nun
wieder vermehrt zu Betriebsbesetzungen bzw. Werksblockaden. Im
Gegensatz zu Karstadt in Kaiserlautern, wo im Mai 2009 eine
zweistündige Betriebsversammlung als Besetzung bezeichnet wurde,
besetzte im Frühjahr die Belegschaft des MHG/Velux-Werks in Meldorf
(Schleswig-H.) ihre Produktionsstätte tatsächlich. Zuletzt drohten
die verbliebenen Schiffsbauer der ehem. Wadan-Werft in Rostock
(Mecklenburg-V.) im September damit, ihre Arbeitsplätze in Beschlag
zu nehmen.

Den Auftakt hatten indes
die ArbeiterInnen von HWU in Hohenlockstedt (Schleswig-H.) im Oktober
2008 gemacht: Unter dem Banner der IG Metall besetzten die
ArbeiterInnen des insolventen Auto-Zulieferbetriebs die Werkshallen.
So „erkämpften sie sich“ eine Transfergesellschaft.
Offensichtlich wurden seitens der Beschäftigten nicht alle
Potentiale ausgeschöpft. Vielleicht deshalb haben solche Aktionen in
Deutschland bisher keinen durchschlagenden Erfolg gebracht und
mündeten allenfalls in Sozialplänen und Transfergesellschaften.(5)

Die Mühen der Ebenen

Der eingangs gestellten
Frage – Wie können Betriebsschließungen und Massenentlassungen
verhindert werden? – ist jüngst auch der Schweizer Gewerkschafter
Rainer Thomann nachgegangen. Er plädiert dafür, keine leeren
„Versprechungen“ zu machen, sondern in die Vollen zu gehen.

In seiner Anfang 2009
erschienen Studie(6) beleuchtet er je zwei
Auseinandersetzungen in der Schweiz und in Italien sowie einen
Abwehrkampf in Spanien. In allen fünf Fällen fanden sich
ArbeiterInnen vor die Wahl gestellt, Massenentlassungen – meist in
Zusammenhang mit einer vollständigen Werksschließung –
hinzunehmen oder dagegen zu kämpfen. Die Erfahrungen und Ergebnisse
könnten unterschiedlicher nicht sein.

Einleitend stellt Thomann
einige grundlegende Überlegungen an: Ausgangspunkt ist die
Feststellung, dass Arbeiterkämpfe in der zum Erfolg notwendigen
Verbissenheit nur geführt werden, wenn es ums „nackte Überleben“
geht. In einer solchen Auseinandersetzung trete der unüberwindliche
Interessengegensatz zwischen Kapitalisten und ArbeiterInnen besonders
deutlich hervor.(7) Unter dem Banner der
„Rechtssicherheit“, die der Staat zu garantieren habe, stehe
dieser in jenem Konflikt immer auf Seiten der Unternehmer. In diesem
Rahmen bleibe den Gewerkschaften nichts anderes übrig, als
Verhandlungen über Sozialpläne aufzunehmen. Wenn sich also
Beschäftigte gegen die angekündigte Abwicklung ihres Betriebes zur
Wehr setzen wollen, stehen sie vor einem Berg von Problemen. Einige
der von Thomann untersuchten Beispiele zeigen indes, dass es durchaus
möglich ist, diese Hürden zu überwinden.

Als Paradebeispiel dafür
kann die Betriebsbesetzung der Bahnwerkstätten, der „Officine“
in Bellinzona gelten(8): Die betroffenen ArbeiterInnen
traten unverzüglich in einen wilden Streik und wurden dann von ihrer
Gewerkschaft UNIA(9) unterstützt. Das Rückgrat
allerdings bildeten das Streikkomitee und die Vollversammlung der
Beschäftigten. Hier, so Thomann, wurden alle wesentlichen
Entscheidungen getroffen; das Streikkomitee handelte mit imperativem
Mandat. Die Debatte und die offene Abstimmung in der Versammlung
boten den Entschlossensten Handlungsraum und den Verunsicherten
Schutz. Über das Ziel waren sich alle einig und konzentrierten sich
nur auf dieses, so dass ein „Kompromiss“ undenkbar war: Keine
Abfindungen, sondern Erhalt der Werkstätten.(10) Diese
Einmütigkeit sendete ein starkes Signal „nach außen“, so dass
Solidaritätsbekundungen weite Kreise zogen und auch juristische
Einwände wie Schadensersatzdrohungen der Gegenseite kein Gehör
fanden.

Ähnlich, und genauso
erfolgreich, verlief die 15 Monate lange Auseinandersetzung um das
Maschinenbau-Werk INNSE im italienischen Mailand.(11)
Vollkommen anders gestaltete sich hingegen die Auseinandersetzung um
die Zellulose-Fabrik im Schweizer Solothurn: Auf einer
Betriebsversammlung kündigte ein Gewerkschafter (UNIA) ebenfalls
einen „Kampf mit allen Mitteln“ an, um den Schließungsbeschluss
zu kippen. Was hier folgte, war jedoch keine Betriebsbesetzung,
sondern die sattsam bekannten Verhandlungsrunden und
Unterschriftensammlungen. Damit konnten über 400 Entlassungen nicht
verhindert werden. UNIA-Autor Thomann führt das Resultat v.a. auf
das zaghafte und eher rhetorische denn handfeste Vorgehen der
Gewerkschaft zurück.

Ähnliches muss Thomann
für die Auseinandersetzung bei IVECO in Italien feststellen: Nachdem
fast 200 LeiharbeiterInnen gekündigt wurden und diese einen
lautstarken Umzug über das Werksgelände machten, leerten sich die
Hallen des zu FIAT gehörenden LKW- und Bus-Bauers. Am folgenden
Werktag blockierten hunderte ArbeiterInnen Straßen und Gleise –
inzwischen hatte sich herausgestellt, dass noch mehr Kündigungen ins
Haus stehen. Die Gewerkschaften beschränkten sich jedoch auf
Verhandlungen und auch seitens der Belegschaft gab es keine weiteren
Aktionen. So verlief sich der anfängliche, spontane Widerstand zum
ohnmächtigen Protest.

Ebenfalls nicht
überwunden werden konnte die Spaltung der Belegschaft im Fall des
Zementgiganten Holcim in Andalusien. Der Ankündigung der
Werksschließung folgten ein Stadtratsbeschluss und eine
Demonstration mit 10.000 Teilnehmenden. Weitere vier Wochen gingen
mit Petitionen, Beschlüssen und Demonstrationen ins Land. Erst als
ein Drittel der Belegschaft, allesamt LeiharbeiterInnen, vorzeitig
entlassen wurden, schaltete zumindest die Minderheitsgewerkschaft SAT
einen Gang hoch und besetzte das Werk. Damit kam nun endlich die
Produktion zum Stillstand. Ungeachtet vereinzelter gemeinsamer
Aktionen wurden die Verhandlungen für die festangestellten und die
verliehenen KollegInnen aber separat geführt – ersteren bot der
Konzern 100% Kurzarbeit an und zementierte damit die Spaltung der
Belegschaft. In der Folge konnte das Unternehmen auch die Kontrolle
über das Werksgelände wieder gewinnen und nahm den ArbeiterInnen
damit deren letztes Pfand aus der Hand.

Wenn’s ans
Eingemachte geht

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Schlussfolgernd sieht
Thomann etwa sechs Kriterien, den Widerstand gegen Werksschließungen
erfolgverheißend aufzustellen: (a) Eine Betriebsgruppe
„entschlossener und klassenbewusster ArbeiterInnen“ zur
Initialzündung: zur Inbesitznahme der Firmenräume. (b) Thomann
stellt heraus, dass eine Besetzung nicht zu spät, etwa als letztes
aller Mittel, erfolgen sollte, sondern am wirkungsvollsten sei in
einer Entweder-Oder-Situation. So demonstriere die Belegschaft ihre
Entschlossenheit und dränge die Unternehmensleitung in die
Defensive. (c) Wichtig sei außerdem die Kontrolle der
Arbeiterversammlung über alle weiteren Schritte, um die Legitimität
des Kampfes und die Einigkeit der Belegschaft zu festigen – und den
Durchsetzungswillen der ArbeiterInnen nicht durch Zwischenhändler
abzudämpfen und am Ende mit einem faulen „vernünftigen
Kompromiss“ dazustehen. (d) Dieses Vorgehen erfordere ein hohes Maß
an Organisation seitens der Betroffenen. (e) Außerdem betont der
Autor, dass man sich nicht allein auf rechtlich einwandfreie
Aktionsformen beschränken dürfe. Die Anwendung der geeigneten
Kampfmittel ergäbe sich stets aus der Dynamik des Konflikts;
letztlich müsse die Gesamtheit der Aktionen darauf zielen, das
Kräfteverhältnis zugunsten der bedrohten Beschäftigten zu wenden.
(f) In diesem Zusammenhang, das heißt auch in der Abwendung eines
polizeilichen Eingriffs, spiele die Solidarität anderer
Belegschaften und der Bevölkerung eine bedeutende Rolle.

Soviel zum Spielraum der
ArbeiterInnen. In jeder Auseinandersetzung treten freilich weitere
Faktoren, wirtschaftliche wie politische, hinzu. Vor allem, wenn der
Zeitpunkt einer Schließungsankündigung seitens des Unternehmers
„gut“ gewählt und lange geplant ist, haben sich die Betroffenen
auf feste – v.a. ökonomische – Bollwerke und einen langen Kampf
einzustellen. Und genau dort muss auch unverzüglich angepackt
werden, denn es zählt nicht allein die Beschlussfassung in der
Versammlung: Die Suche nach Möglichkeiten, den Kampf auszuweiten,
muss aktiv vorangetrieben werden; sie kann v.a. mit Blick auf die
etwaige Zulässigkeit von Solidaritätsstreiks(12) einiges
zu Tage fördern. Die Ausweitung des Streiks ist unabdingbar, wenn
der Unternehmer darauf abzielt, die Bewegung auszusitzen/-hungern.

Rechtliche
Beschränkungen und ihr Wandel

Auf den ersten Blick
scheinen die juristischen Hürden für solch direkte Aktionen sehr
hoch. So behaupten unternehmernahe Kanzleien z.B., eine
Betriebsbesetzung sei als Mittel des Arbeitskampfes unverhältnismäßig
und daher nicht zulässig. Eine solche Aktion sei weder durch die
Koalitionsfreiheit selbst noch durch die Freiheit in der Wahl der
Kampfmittel gedeckt. Vielmehr verstoße sie nicht nur gegen das
Arbeitsrecht, sondern erfülle auch die Straftatbestände des
Hausfriedensbruchs und der Nötigung – darauf stehen Geld- oder
Haftstrafen von bis zu einem bzw. drei Jahren.

Aber schon die Sprachwahl
in diesen Ausführungen macht klar, dass es hier v.a. um vorbeugende
Einschüchterung geht. Denn zum einen kann entgegengesetzt
argumentiert werden, dass eine Betriebsbesetzung nicht „verwerflich“
ist, um das angestrebte Ziel – die Sicherung von Arbeitsplätzen –
zu erreichen. Damit wäre der Vorwurf der „Nötigung“ vom Tisch.
Zum anderen sollte man nicht vergessen, dass auf die Arbeiterkämpfe
der vergangenen Jahre in den wenigsten Fällen Gerichtsverhandlungen
folgten.(13) Und schließlich lassen sich auch zugunsten
der Betriebsbesetzung juristische Finten ausmachen. Das
Betriebsverfassungsgesetz (§ 42 ff.) birgt eine davon: So
liefen die Betriebsbesetzungen der vergangenen Jahre zumeist als
„permanente Betriebsversammlung“ und müssten als solche sogar
entlohnt werden. Sollte sich der Betriebsrat einem solchen Vorgehen
verschließen, kann man ihn taktisch durchaus an § 2 erinnern:
Er hat „zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs“ zu wirken;
und das heißt eben manchmal die rechtliche Absicherung einer
Betriebsbesetzung.

Allerdings kann es
kämpferischen Gewerkschaften nicht in erster Linie darum gehen, die
Zunft der AnwältInnen in Lohn und Brot zu halten. Demnach sind
juristische Überlegungen nur eine Facette der zu treffenden
Vorbereitungen. Denn vorrangig ist der Schutz der Interessen der
Mitglieder und sonstigen KollegInnen.

Unter diesem
Gesichtspunkt kommt der kollektiven Aktion, die Grenzen
überschreitet, gerade in Bezug auf die Rechtsprechung eine besondere
Bedeutung zu. Denn würden sich ArbeiterInnen und Gewerkschaften
immer strikt in den vorgegebenen Bahnen bewegen, hätte sich wohl
seit dem 19. Jahrhundert nicht viel verändert. Gesetze und
Gerichtsurteile unterliegen eben einem allgemeinen
Gerechtigkeitsempfinden und werden geändert, wenn der Druck der
Straße größer wird. Ein Paradebeispiel dieses Vorgangs findet sich
in den Urteilen zum Streikrecht der GDL, wo die Heilige Kuh der
Tarifeinheit geschlachtet wurde. Erst recht – so ließe sich
doppelschneidig argumentieren – sollte, nachdem jahrzehntelang von
Vollbeschäftigung geträumt wurde und alle Parteien den Arbeitsplatz
an sich in den Himmel hoben, auch die richterliche Toleranz gegenüber
Aktionen zur Sicherung von Arbeitsplätzen größer geworden sein.

Die Macht des
Faktischen

Soweit zu den allgemeinen
Überlegungen. Konkret aber setzt man sich, wie bereits erwähnt,
einem gewissen Risiko aus. Eines davon ist die „Macht des
Faktischen“.

Bei angekündigten
Massenentlassungen steht diese Macht zunächst einmal auf Seiten des
Unternehmers: Die Dichtmacher sind vorbereitet, sie haben einen
generellen und einen Zeitplan, haben Margen und Fristen vorgesehen;
sie sind sich ihrer sicher, die Betroffenen hingegen fallen oft aus
allen Wolken. Solche Vorgänge wiederholen sich tagtäglich
tausendfach. Es kommt nun darauf an, die Pläne der Gegenseite zu
durchkreuzen. Sei es durch Öffentlichkeitsarbeit, Streik,
Bummelstreik oder Besetzung. Der Möglichkeiten gibt es viele, aber
sie müssen dort treffen, wo es weh tut.

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Diese neuralgischen
Punkte herauszufinden, gelingt wohl kaum in letzter Minute. Denn dazu
zählen nicht nur die Analyse der Produktionszusammenhänge, der
Lagerbestände und Finanzen des Unternehmens, sondern auch der
Zusammensetzung der Belegschaft. Denn nur allzu oft machen sich die
Bosse Spaltungslinien innerhalb der Belegschaft zunutze, ja schaffen
sie selbst mit (z.B. durch Lohnhierarchien, verschiedene
Vertragsverhältnisse usw.) und kalkulieren sie in ihre Pläne mit
ein. Daher muss es Ziel jeglicher Vorbereitung sein, diese Spaltungen
zu überwinden. „Das Beispiel der Officine von Bellinzona zeigt
nun“, so Thomann, „dass dies nicht langsam und allmählich
geschieht, sondern schlagartig in dem Augenblick, als eine Gruppe
entschlossener Arbeiter es versteht, zum Kampf aufzurufen und die
andern mitzureißen.“

In diesem Moment tritt
das Kräfteverhältnis zwischen den Beteiligten offen zu Tage. Nun
entfaltet sich der Mechanismus zwischen den verschiedenen Faktoren:
Streik und/oder Besetzung, Öffentlichkeit, Gerichte und Staatsmacht,
Unternehmer, Gewerkschaften. Je mehr Rückhalt eine Belegschaft in
der Bevölkerung hat, desto weiter kann sie gehen. Je mehr das
Unternehmen (noch) auf die Produktion angewiesen ist, desto
effektiver ein Streik; und je gefüllter die Lager, umso wichtiger
die Besetzung. Denn wenn die Waren im Lager nicht verkauft werden
können, steigen die Kosten für die Lagerhaltung. Zudem können die
Waren später in die Konkursmasse eingehen, um die Auszahlung
ausstehender Löhne und/oder Abfindungen zu gewährleisten. Und je
dynamischer und einmütiger eine Bewegung ist, je mehr Rückhalt es
in der Bevölkerung gibt, desto zurückhaltender sind auch
Staatsmacht und Gerichte.

Jeder Umstrukturierung,
und sei sie noch so sehr politisch motiviert, etwa um eine
Gewerkschaft zu brechen, liegt eine Kostenkalkulation zugrunde. Daher
kommt es darauf an, entweder die Kosten der Umstrukturierung in die
Höhe zu treiben, oder den politischen Preis, d.h. zum Beispiel den
Image-Schaden zu erhöhen. Denn erst wenn die Position der kämpfenden
Belegschaft mit Blick auf entweder die finanziellen Kosten oder die
öffentliche Meinung gefestigt ist, haben sie selbst mächtige Fakten
geschaffen, die von der Gegenseite ein Einlenken erzwingen. In einer
solchen Situation ist es dann durchaus üblich,
Gesetzesüberschreitungen in die Verhandlungsmasse einzubringen und
Anklagen auch vertraglich auszuschließen.

Nur ein kleiner
Vorgeschmack

Um es gleich vorweg zu
nehmen: Es wäre schlichtweg Selbstbetrug, in den bisherigen Aktionen
ein „Signal für eine Radikalisierung der Verhältnisse“ zu sehen
– zumindest auf kurze Sicht. Dennoch sind direkte Aktionen solchen
Ausmaßes auch über den pragmatischen Nutzen hinaus von –
symbolischer, sozialer und politischer – Bedeutung.

Symbolisch insofern, als
dass Betriebsbesetzungen bestehende Machtverhältnisse wenn nicht
brechen, so doch zumindest aussetzen.

Unter sozialen
Gesichtspunkten fallen sogleich die Netzwerke ins Auge, die bei der
Zusammenarbeit in unbekannter und dramatischer Situation entstehen.
Wenn Betriebsbesetzungen auch nicht immer ein Moment der Stärke
darstellen, so bietet die Außerkraftsetzung des „business as
usual“ doch den nötigen Raum, um im Handeln eine verloren
geglaubte Kollektivität wiederzuentdecken und neue Stärke zu
entwickeln. Dieser Raum besteht konkret in den üblichen
Vollversammlungen der ArbeiterInnen und Gewerk­schaften sowie in
den Arbeitskreisen einer etwaigen Solidaritätsbewegung.

Politisch fallen v.a.
jene Belegschaften ins Gewicht, die den Betrieb in Selbstverwaltung
weiter betreiben; ob nun als Alternative oder im Warten auf einen
Investor ist erst mal zweitrangig. Entscheidend ist das lebendige
Beispiel einer Fabrik ohne Chefs: eines Betriebs, der von allen
Beschäftigten gleichberechtigt weitergeführt wird. Denn letzten
Endes steht die Schlussfolgerung, mit der Alix Arnold im express
argentinische ArbeiterInnen zitiert: „Wenn wir die Fabriken leiten
können, sind wir auch in der Lage, das Land zu regieren.“(14)

Auf der betrieblichen
Ebene kommt noch eine weitere, etwas unscheinbarere Möglichkeit ins
Spiel: die der „Doppelherrschaft“. So beschreibt ein
Labournet-Autor im Februar 2009 die Situation nach der erfolgreichen
Bewegung in der Kleinstadt Bellinzona: „Während des Kampfes hatte
die Belegschaft neun Forderungen gegen die Geschäftsleitung
durchgesetzt, darunter … die Verpflichtung, alle Entscheide, welche
die Arbeiter betreffen (z.B. Überstunden) vorrangig mit dem
Streikkomitee abzusprechen und das Recht, während der Arbeitszeit
Betriebsversammlungen abzuhalten. Das Streikkomitee macht von seinen
erkämpften Rechten sparsamen, aber wirkungsvollen Gebrauch. …
Durch Besetzung und Streik ist eine kommunikative Widerstandskultur
entstanden, die bis heute lebt.“(15)

Hier mögen Einwände
laut werden, dass sowohl Selbstverwaltung als auch Doppelherrschaft
äußerst fragil seien und die Errungenschaften früher oder später
kassiert werden. Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass das
Scheitern einer Unternehmenskollektivierung vorrangig ökonomische
und nicht willentlich-politische Ursachen seitens der ArbeiterInnen
hat.(16)

Auf wirtschaftlichem
Gebiet wiederum lassen sich letztlich für die pessimistische wie für
die optimistische Auffassung Beispiele finden: Zu nennen wäre da
einerseits die aus der Nordhausener Betriebsbesetzung hervorgegangene
„Strike Bike GmbH“ (seit 2008), die erheblich bescheidener ins
Rennen geht, als ursprünglich angedacht; andererseits die
selbstverwaltete Produktion bei INNSE, die nur durch einen
Polizeieinsatz beendet werden konnte. Die Mailänder ArbeiterInnen
hatten Übereinkünfte mit Zulieferern und Abnehmern getroffen und
nichts spricht dagegen, dass sie dem Beispiel der Meriden
Motorcycle Cooperative
in England hätten folgen können. Im Jahr
1974 aus einer Besetzung hervorgegangen, bestand diese
Produktionsgenossenschaft bis 1983. Und wer möchte sagen, dass es
sich für neun Jahre nicht zu kämpfen lohnt?

Auf die Mischung kommt
es an

Keineswegs, auch das
zeigte der ArbeiterInnenkampf bei INNSE, kann und sollte sich eine
kämpfende Belegschaft auf eine Aktionsform versteifen. Wichtig ist
es, das Ziel im Auge zu behalten und ggf. eine neue Situation neu zu
analysieren. So antworteten die ArbeiterInnen in Italien auf die
Räumung der Besetzung mit einer Werksblockade, und erwiderten auf
deren Brechung mit der Besetzung eines einzigen Krans und der
Fortführung von Kundgebungen. Während sie zu Beginn also sogar die
Produktion weiterführten, verlegten sie sich gedrungenermaßen auf
die Verhinderung des Abtransports und scheuten letztlich auch eine
rein auf „die öffentliche Meinung“ zielende Aktion nicht. Obwohl
sie objektiv immer weiter in die Defensive gedrängt wurden, gelang
ihnen der Durchbruch letztlich doch – nach 15 Monaten des Kampfes
wurde den ArbeiterInnen zugesichert, dass die Produktion bis
mindestens 2025 ohne Stellenabbau weitergeführt wird.

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In der Bundesrepublik
sind die massiven Massenentlassungen, die die Politik wegen ihrer
sozialen Sprengkraft fürchtet, bisher ausgeblieben. Gehörigen
Anteil daran hat die Kurzarbeit, mit der die Unternehmen zudem einen
Teil der Kosten der Krise auf die Arbeitslosenversicherung abgewälzt
haben. Derweil ist nicht unwahrscheinlich, dass das dicke Ende noch
kommt… Für diesen Fall lohnt es sich, vorbereitet zu sein: Die
Bosse sind es. Sind es auch die ArbeiterInnen, ihre Gewerkschaft und
der Betriebsrat?

Eine Besetzung des Werks
ist einer Blockade wohl meist vorzuziehen. In beiden Fällen, sofern
die Blockade effizient ist, werden zwar alle elementaren
Produktionsfaktoren eingefroren. Der wichtige Unterschied ist aber
der, dass gerade im Winter die Blockade den eindeutigen Nachteil hat,
den Kreis der aktiven KollegInnen auf einen harten Kern
zusammenzuschmelzen – was letztlich die gewerkschaftliche wie
politische Schlagkraft untergräbt. Die Betriebsbesetzung ist für
den Widerstand gegen Werksschließungen generell vielleicht die
geeignete Aktionsform, die kugelsichere Weste für die Beschäftigten,
wenn ihnen der Boss die Pistole auf die Brust setzt.

Sollten sich Besetzungen
massiv häufen, verschiebt sich das gesellschaftliche
Kräfteverhältnis soweit zugunsten der Lohnabhängigen, dass sich
alternative Lösungsansätze aufdrängen. Das soziale Erdbeben wird
dann stattgefunden haben. Denn soviel ist klar: In einer Krise werden
die Weichen für die kommenden Jahre gestellt, sei es in Richtung
Flexibilisierung und Unterwerfung oder in Richtung Dynamisierung und
Stärkung der Arbeiterklasse insgesamt.

André Eisenstein

 

Eine Besetzung findet
nicht statt

Bewegung gab es auch im
Mai 2009 beim Autozulieferer Mahle in Alzenau. Mustergültig war die
standortübergreifende und internationale Solidarität der
Konzernbelegschaft. Nach einem Besuch im Strasbourger Werk besetzen
die KollegInnen ihre Werkskantine – an dem wilden Streik, der 2½
Tage dauerte, beteiligten sich 350 der 420 ArbeiterInnen. Die
Konzernleitung rückte daraufhin von ihren Schließungsplänen ab;
die kollektive Aktion hat also an einem Tag mehr erreicht als
wochenlange Verhandlungen der „Sozialpartner“. Die IG
Metall-Funktionäre des Bezirks unterstützten dieses Vorgehen der
Belegschaft nicht. Mehr noch! Sie schüchterten die KollegInnen ein:
Polizei und Staatsanwaltschaft stünden zum Eingreifen bereit und die
Medien würden davon ausgehen, dass Blut fließt, falls die
Belegschaft weiterhin den Abtransport der Lagerbestände blockieren
sollte. Die Diskussion über eine Besetzung brach daraufhin in sich
zusammen, die Lager wurden geräumt… und der Schließungsbeschluss?
Der wurde in der Vereinbarung zwischen Konzernleitung und
Gesamtbetriebsrat inoffiziell aufrechterhalten: Zwei Jahre
Kurzarbeit, anschließend Sozialplan und Transfergesellschaft. Seit
Ende Mai ist es nun wieder ruhig in Alzenau.

 

Anmerkungen

(1)
Jeweils in den Nrn. 193, 194 u. 195.

(2)
Besetzungen gegen Werksschließungen gab es zuletzt u.a. bei: Vestas
(England; dauert an); Prisme (Schottland; erfolgreich,
Genossenschaftsgründung), Republic Windows & Doors (USA;
erfolgreich, Abfindungen) sowie bei z.B. bei Legre Mante u. Union
Navale Marseille (Frankreich; beide dauern an).

(3) Die
Chicagoer Besetzung gilt als erste erfolgreiche Aktion ihrer Art in
den USA seit Jahren. Anlass dafür war der „Spardrang“ bei der
Betriebsschließung: Für die Auszahlung der ArbeiterInnen sei nicht
genug Geld da, hieß es. Angesichts der Besetzung fanden die Bosse
dann aber doch noch $ 1,75 Mio., um die 240 Beschäftigten
auszuzahlen.

(4) Der
Artikel konzentriert sich deshalb auch auf Betriebsbesetzungen als
Mittel im Arbeitskampf und insbes. zur Abwehr von
Schließungen/Entlassungen; ihre Steigerungsform als Mittel
revolutionärer Umwälzung müsste gesondert behandelt werden.

(5) Nur
im BSH-Werk in Berlin wurde der Schließungsbeschluss 2006 mittels
Streik, Besetzung und reger Aktivität der Belegschaft bis 2010
ausgesetzt. Siehe DA Nr. 178.

(6)
Thomann, Betriebsbesetzung als wirksame Waffe
im gewerkschaftlichen Kampf
, Download der
Broschüre:
www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/besetzungen.pdf.

(7)
Gleichzeitig spart der Autor eine andere Facette des Gegensatzes
zwischen Kapital und Arbeit, nämlich zwischen toter und lebendiger
Arbeit, aus. Damit spiegelt er sicherlich die Diskussionen, die in
solchen Abwehrkämpfen geführt werden, wider. Kritik an der
Einrichtung des Betriebs selbst wird quasi gar nicht laut – oder
äußert sie sich anders, nämlich im bloßen Kampf um Abfindungen?

(8)
Siehe Globales-Artikel Auf der Bahn. Oder auch: Syndikal Taschenkalender 2010.

(9) Die
UNIA entstand erst 2004 aus dem Zusammenschluss von vier Schweizer
Gewerkschaften. Insbes. der Jugend-Verband ist mit eigenen Kampagnen
sehr aktiv und sorgt mit schwarz-roten Fahnen im Titel seiner Zeitung
Koopera hin und wieder
für Aufsehen.

(10)
Daneben wurden acht weitere Forderungen durchgesetzt (weiteres dazu
unten im Text).

(11)
Siehe DA Nr. 195.

(12) So
entschied das BAG 2007, anders als die Vorinstanzen, dass ein
Solidaritätsstreik nicht grundsätzlich unzulässig ist. Demnach ist
ein solcher Streik rechtlich unbedenklich, wenn er zur Unterstützung
des Hauptarbeitskampfs geeignet, erforderlich und angemessen ist (1
AZR 396/0).

(13) So
machte etwa Opel nach dem wilden Streik von 2004 keine
Schadensersatzforderungen geltend.

(14)
Siehe Express 11/2006;
online: http://www.labournet.de/internationales/ar/arnold.html.

(15)
Dieter, „Fabrikbesetzungen bei Innse (Mailand) und Officine
(Schweiz)“;
http://www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/ad_besetzungen.pdf.

(16) In
diesem Kontext wäre eine Untersuchung der Risiken und Chancen einer
Genossenschaftsgründung in Dtschld. sicher von Interesse; umso mehr
als sie einen Vergleich mit den Regelungen in anderen Staaten
anstellen und auch die Entwicklung der dtsch. Genossenschaftsbewegung
(sowohl der historisch sozialdemokratisch geprägten, als auch der
alternativen im Geiste der 68er) analysieren könnte.

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