Zur Kultur der sexuellen Befreiung

Am Hindukusch
verteidigt die Bundeswehr ja bekanntlich nicht bloß deutsche
Interessen, sondern vor allem auch die Rechte von Frauen. Diese
propagandistische Rechtfertigung des Afghanistan-Krieges ist das
deutlichste Beispiel dafür, wie im Zuge der Assimilierung von
Protest Begriffe wie „Emanzipation” und „sexuelle Revolution”
in den letzten Jahrzehnten pervertiert wurden.

In fast allen
europäischen Staaten war die rechtliche Gleichstellung von Frauen
und Männern in der ersten Umbruchsphase 1916-1925 nur als Stückwerk
verlaufen: Zwar wurden in dieser Zeit Frauen die Bürgerrechte wie
etwa das Wahlrecht zugesprochen, doch blieben vor allem in
juristischen und arbeitsrechtlichen Fragen Männer weiterhin klar
überprivilegiert. Die Rechte auf Selbstbestimmung der Finanzen und
des Haushaltes, auf Arbeit, Gleichstellung im Job, auf Abtreibung
u.v.m. wurden erst im Zusammenhang mit der weltweiten Revolte von
1968 sowie ihrer Folgegeneration erkämpft. An diese Kämpfe dockte
eine emanzipatorische Linke an. In den 60er und 70er Jahren stellte
der radikale Feminismus eine soziale Bewegung dar, die den westlichen
Herrschenden durchaus bedrohlich wurde. Ohne den Druck dieser
Radikalität wäre der bürgerliche Feminismus als Ventil womöglich
weitaus weniger erfolgreich geblieben, als er ohnehin schon ist:
Berufliche Chancengleichheit existiert auch heute meist nur auf dem
Papier.

Sexuelle Befreiung und
Herrschaftskritik

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Jahrzehnte, wenn nicht
sogar Jahrhunderte lang war in undogmatischen linken Kreisen sowie
der anarchistischen Szene der Bruch mit der bürgerlichen Moral immer
mit dem Postulat einer „freien Liebe” verbunden. Auf sie
referierten Männer und Frauen durchaus unterschiedlich: Während
männliche Autoren meist die Scheinheiligkeit einer prüden
Gesellschaft anprangerten, ging es libertären Frauen vor allem auch
darum, die Existenz einer eigenen Sexualität überhaupt erst in den
Diskurs einzubringen. Es war zum einen ein Aufbegehren gegen die
beliebige sexuelle Verfügbarkeit von Frauen gegenüber ihren
Ehemännern; darüber hinaus gelang es in erster Linie libertären
Frauen, ein Forum für die Thematisierung von weiblicher Sexualität
zu schaffen, die in der Gesellschaft meist schlichtweg geleugnet
wurde. Exemplarisch dazu Franziska Reventlow, eine
literarisch-politische Freundin Erich Mühsams: „Vielleicht
entsteht noch einmal eine Frauenbewegung in diesem Sinn, die das Weib
als Geschlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu fordern
berechtigt ist, volle geschlechtliche Freiheit, das ist, freie
Verfügung über seinen Körper“. Erich Mühsam unterstützte
diesen Ansatz: „Allein die Vorstellung macht mich schaudern, dass
es Frauen gibt, die im ganzen Leben nur ihren glatzköpfigen,
schmerbäuchigen, kloßhändigen, schweißrüchigen Ehegatten geküßt
haben.” Wahrscheinlich trägt der Umstand, dass Erich Mühsam,
Autor der Studie „Die Homosexualität. Ein Beitrag zur
Sittengeschichte unserer Zeit” als heterosexueller Mann bereits um
1905 praktische Solidarität mit Opfern sexueller Unterdrückung
ausübte, dazu bei, dass in seine zahlreichen erotischen Gedichte
meist durchaus ein feministischer Inhalt interpretiert wird. In der
heutigen Debatte um Bertold Brecht trifft dies jedoch viel weniger
zu. Bei ihm gehen die Meinungen weit auseinander: Für die einen sind
Brechts erotische Werke ein proletarisches Gegenstück zur verklärten
platonisch-geistlichen Darstellung von Liebe in der bürgerlichen
Hochkultur; aus der Sicht eines konsequent de-konstruktivistischen
Ansatzes sowie der Gender-Studies wird hier hingegen der patriarchale
Blick auf Sexualität reproduziert. Brecht ersetzte die spezifische
sexuelle Verfügbarkeit von Frauen gegenüber einem einzigen Ehemann
durch eine prinzipielle gegenüber allen Männern.

Sexuelle Revolution:
1968 in Berlin, 2009 in Kabul?

Dass in den Slogans und
Phrasen der 68er Revolte und ihren Folgen die negative Kehrseite
einer „sexuellen Befreiung der Gesellschaft“ bereits angelegt
war, wird heute breit diskutiert. In der Utopie einer Welt, in der
die „Triebe befreit” seien, schwang zwar immer auch das Recht auf
Faulheit und Selbstbestimmung mit; in der Praxis setzten jedoch viele
Männer ihre Interpretation solch einer „Befreiung” als sexuelles
Druckmittel gegen Frauen durch. Dieses Umschlagen einer
freiheitlichen Idee zum Unterdrückungsmechanismus stand von Anfang
an im Zusammenhang mit der Vereinnahmung der Bewegungen durch den
gesellschaftlichen Rahmen; vor allem jugendliche Männer erkämpften
sich eine Freiheit, für die die Unterhaltungsindustrie einen
reichhaltigen Markt erschuf. Der bis dato „inhaltslose” Körper
der gesellschaftlich unsichtbaren Frau wurde zu einem
Produktionsfaktor, der weit über Prostitution und Pornografie
hinausging. Sex sells, diese Zweiwörter-Weisheit ist ein dem
heutigen Diskurs um Sexualität tief zu Grunde liegendes Element.
Durch das medial verbreitete Bild einer ständig dem Schönheitsideal
entsprechenden, sexuell ständig begehrenden und verfügbaren Frau
werden Milliarden in Werbung, Mode, Film, Internet,
Ernährungsindustrie und Pharmazie umgesetzt. Tiefe psychische und
physische Verletzungen von Frauen und Mädchen sind die Folge;
magersüchtige Tendenzen bei jedem dritten Schulmädchen sind nur ein
Beispiel von vielen. Die Darstellung des Afghanistan-Krieges als
Befreiungsfeldzug gegen die Unterdrückung von Frauen erzeugt in
diesem Zusammenhang das Bild, als ob es für Frauen weltweit nur zwei
Perspektiven gäbe: entweder ein Leben in Burka und Knechtschaft oder
als Magersüchtige in pornografischer Dauerselbstdarstellung, ein
Bild, das dem Islamismus direkt in die Hände spielt. Religiöse und
kommerzielle Frauenverachtung reproduzieren sich in diesem Krieg
gegenseitig.

Martha Johannsen

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