Ein Leben ohne Chef und Staat – Vom Projekt A bis zum Plan B

Horst Stowasser: Projekt A (Foto: www.lunisolar-fotodesign.de)

Folgender Nachruf der
besonderen Art kann auf einem dogmatisch christlichen Blog
nachgelesen werden: „Auf einer radikal linken Seite fand ich heute
diesen Nachruf auf einen Anarchisten. Ich hatte zuvor von diesem
Horst Stowasser noch nie etwas gehört. Ein Buch aus seiner Feder
soll einige Menschen zum Anarchismus gebracht haben, ansonsten
scheint er auf seine Weise ein ganz netter Kerl gewesen zu sein, und
unter anderen Vorzeichen als jenen des Todes würde ich jetzt
vielleicht anmerken, dass es immer das Übelste sei, wenn die
Gottlosigkeit als sympathischer Kumpel daherkommt. Hier und heute
gelte aber: De
mortuis nihil nisi bene
.
Wobei
ich Gutes in originärem Sinne nicht zutragen kann, da mir Horst
Stowasser unbekannt war. Wenn man dem Nachruf glauben darf, dann
scheint es zumindest kein brutaler Anarcho-Dogmatiker gewesen zu
sein“
. Und abschließend heißt es dort: „Ich wünsche Horst
Stowasser, dass jener Gott, dessen Herrschaft er in seinem Leben
wahrscheinlich geleugnet hat, den er nicht kennen wollte und
vielleicht auch nicht kennen konnte, ihm nun als gnädiger Richter
und liebender Erlöser begegne. Die Erde mag ihm meinethalben schwer
werden, seine Seele aber möge in Frieden fahren“
.

Horst
und der liebe Gott

Horst
würde schmunzeln, wenn er dies noch lesen könnte. Genau wie wir,
die wir hier gemeinsam zusammen sitzen, um diesen Artikel zu
schreiben. Schmunzeln deshalb, weil uns der Gedanke nicht los lässt,
dass Horst in seinem dreiteiligen Anzug mit Einstecktuch und Zigarre
in seinem Korbstuhl auf einer Wolke sitzt, seinen legendären
Espresso schlürft und vor sich ein Bistrotisch mit einem
Schachbrett. Dabei unterhält er sich wie selbstverständlich mit
diesem alten Herrn mit langem, weißen Bart, der ihm gegenüber
sitzt. Und da beide keine Berührungsängste haben, machen sie sich
Gedanken, wie ein Projekt zu verwirklichen wäre, bei dem alle
religiösen Gebäude auf dieser Erde, zu länder- u.
altersübergreifenden Begegnungsstätten für klar denkende Menschen
umgestaltet werden würden.

Doch
diesen Gott als gnädigen Richter gibt es nicht und Religion hatte
mit dem Glauben, besser gesagt den Träumen von Horst nichts zu tun.
Er träumte von einem Leben, in dem er seine Wünsche nach
Selbstverwirklichung erfüllen kann, sowohl beruflich, politisch und
in seinen Beziehungen. Er war bis zum Schluss davon überzeugt, dass
es gleichzeitig möglich ist, Erfüllung in zwischenmenschlichen
Bereichen zu erlangen, nach außen politisch aktiv zu sein und dabei
noch in der Lage zu sein, ohne in Stress zu geraden, seinen
Lebensunterhalt bestreiten zu können. Doch das beanspruchte er nicht
nur für sich, sondern für alle Menschen. Und wie so etwas
funktionieren könnte, das beschrieb er in seinem Buch „Das Projekt
A“. Doch um solche Gedanken zu Papier zu bringen, dazu braucht es
eine Menge Erfahrungen.

Horst
und die frühen Jahre

1951
in Ostfriesland geboren liebte er das Meer, was ihm vielleicht auch
dabei half, trotz den Untiefen und Stürme innerhalb der
anarchistischen Bewegung auf Kurs zu bleiben. Mit 18 Jahren bekam er
in Argentinien gesagt, dass er Anarchist sei. Dies war der Anstoß,
für Nachforschungen und Jahre vielfältiger Aktivitäten, die ihm
viele Erfahrungen brachten: Er lernte,
wie Zeitungen gemacht
und Leute angesprochen werden (Anarcho-Info, impulso,
Schwarzkreuz-Bulletin, Freie Presse, Wetzlarer Stadtzeitung, Lahn
Dill Bote, Umwelt Bote u.a.), er lernte Betriebe aufzubauen (Verlag,
Buchläden, Druckerei, Fotosatz u.a.) und sammelte Erfahrung in
verschiedenen anarchistischen und nicht anarchistischen Gruppen. Er
arbeitete in unterschiedlichen Projekten (von der Knasthilfe bis zur
Ausländerarbeit), hatte sich ein umfangreiches technisches Know How
angeeignet und lebte in verschiedenen Kommunen.

Horst
und die WESPE

Wo
das Projekt A gestartet werden soll, darüber gab es geteilte
Meinungen und während Horst dafür plädierte in Alsfeld zu
beginnen, zog ein anderer Teil der Leute in die Pfalz – genauer
gesagt nach Neustadt. Hier kennen heute noch fast alle die „Wespe“
und wissen, dass es sich hierbei nicht unbedingt um ein Insekt
handelt. Aber das es für „Werk selbstverwalteter Projekte und
Einrichtungen“ steht, wissen die wenigsten. Als Horst merkte,
dass Neustadt der bessere Ort ist, um das Projekt zu verwirklichen,
zog er 1990 nach.

Doch
ganz so wie es geplant war, lief es nicht. Es wurde viel zerredet und
irgendwann scheiterte das Projekt an den inneren Querelen. Auch wenn
sich Horst daraufhin für einige Jahre aus der „Bewegung“
zurückzog, so war sein Engagement nicht umsonst. An anderen Orten
wie Barcelona flossen seine Ideen in die dortige Bewegung ein und
trugen Früchte. Was in Neustadt blieb, ist der Ökohof mit der
Gaststätte Konfetti, der ersten Gaststätte in Rheinland-Pfalz, die
nach dem Bioland-Standard arbeitet sowie einem kleinen Biobaumarkt.
Ihren Ursprung im Projekt A haben auch die Buchhandlung Quodlibet,
der Bioladen Abraxas, eine Laborgemeinschaft namens LAUS und ein
allgemein anerkanntes kulturelles Zentrum, das Wespennest. Dessen
„Klein“-Kunstbühne ist weit über Neustadt hinaus bekannt.

Horst
und das AnArchiv

Ja,
Horst zog sich zurück, aber nicht aus seinen Träumen. Dieser
Rückzug hatte auf gewisse Weise auch etwas Positives. War das seit
1971 von ihm zusammengetragene Archiv zum Anarchismus in Kisten
verpackt und nur schwer zugänglich, so konnte er mit dem Geld, das
er nun in der Werbebranche verdiente, eine zweite Wohnung anmieten
und die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich machen. Aus eigenen
Mitteln baute er das AnArchiv als Dokumentationszentrum immer weiter
aus, in dem er alles sammelte, was er vor allem an deutschsprachiger,
anarchistischer Literatur auftreiben konnte.

Irgendwann
machte ihm aber seine Kinderlähmung wieder zu schaffen. Ging er bis
dato davon aus, dass die Lähmung in dem vorhandenen Grad bestehen
bleibt, so musste er jetzt lernen mit Schmerzschüben und weiteren
Lähmungserscheinungen zu leben. Er musste seinen Job aufgeben und
das Geld wurde immer knapper. Das war nicht das erste Mal in seinem
bewegten Leben. Bereits in Wetzlar durfte er wegen seiner politischen
Einstellung nicht mehr als Dolmetscher für die Stadtoberen arbeiten
und 1985 wurde er wegen des Tucholsky-Zitats „Soldaten sind Mörder“
inhaftiert.

Sein
Aufruf in der Szene, für den Erhalt des AnArchivs zu spenden, fand
kaum Gehör. Ein Teil der Polemik, die nach dem Aufruf auf ihn
einprasselte, hatte er bis zum Schluss nicht ganz verwunden.
Lediglich ein Paar Genossen, die bereits beim Ausbau des Zentrums und
dem Aufbau der Bibliothek halfen, waren jetzt wieder zum Verpacken
vor Ort. Wie sollte es weitergehen?

Die
Idee eines Genossen der sagte : „Dann kauft euch doch was zusammen
zum Leben und macht das Anarchiv da rein“, nahm er im Lauf der
Diskussionen begeistert auf. Gedanken um
neue Formen der Lebensgestaltung bestimmten die folgenden Jahre. Wie
würde es für ihn und andere möglich sein, die Auswirkungen von
Krankheiten besser zu überwinden und in Würde alt werden zu können?

Horst
und der Plan B

Das
inzwischen mehrfach ausgezeichnete generationenübergreifende
Wohnprojekt „Eilhardshof“ trägt seine Handschrift. Doch damit
nicht genug, Horst war in seinem Element, er rührte die
Werbetrommel, so dass private Kleinkredite zusammen kamen, um
ausgerechnet eine ehemalige Fabrikantenvilla zu kaufen. Aber es wurde
nicht nur Geld in die Immobilie, sondern auch viele Stunden in die
Gruppendynamik investiert. Dies war kein einfaches Unterfangen, war
doch der Spagat zu meistern, einerseits auch Leute, die mit
libertären Ideen bisher nichts am Hut hatten zu integrieren, als
auch das AnArchiv als zentralen Punkt zu verankern. Andererseits
sollte nicht unbedingt zu früh bekannt werden, dass hier auch
AnarchistInnen am Werk sind. Einige gingen, andere kamen und so
bildete sich eine Gruppe heraus, die den Bau begann und die Idee
eines selbstbestimmten Mehrgenerationen – Hauses in Gemeineigentum
verwirklichen möchte.

Nachdem
sich in Neustadt ein paar Leute fanden, um anarcho-syndikalistische
Arbeit zu machen, stieß er dazu und war 2004 bei der Gründung als
eigenständige FAU Ortsgruppe Neustadt dabei.
Schon beim ersten
bundesweiten FAU-Kongress 1979 war er Gründungsmitglied gewesen,
hatte aber einige Jahre später die FAU verlassen. Jetzt entwickelte
er als überzeugter Lokalist eine Vielzahl von Ideen und Aktionen für
unsere Gruppe. Und als sich wieder eine größere Gruppe Libertärer
zusammen fand, wurde ein weiterer Traum von Horst wahr: der Tante
Emma Laden. Ein kleiner Infoladen in der Mitte Neustadts, benannt
nach Emma Goldmann, die er bewunderte. Horst wollte einen Laden, der
nicht nur für bereits politisierte Menschen, sondern auch für die
Nachbarschaft und alle Interessierten offen steht. Dementsprechend
begrüßte er alle mit offenen Armen, integreirte Stadtpolitiker
ebenso wie Drogenabhängige und Punker. Er stellte eine Vielzahl
eigener Bücher in die kostenlose Leihbibliothek und saß häufig in
seinem Korbsessel auf dem Gehsteig, mit der Zigarre und dem Espresso

Horst
und seine Zukunftspläne

Den
1.Mai wollte er in Neustadt und Umgebung wieder zu einem Fest aller
Lohnabhängigen machen. Scheußlich fand er, dass auch in Neustadt
der Gedenktag an die Chicagoer Haymarket Märtyrer durch die Nazis
pervertiert wurde. Es ärgerte ihn, dass das Neustädter „Bündnis
gegen Rechts“ sich, zuvor zerrissen durch reformistische Gruppen
wie DGB und Kirche, nur auf den geringsten gemeinsamen Nenner an
Protesten hatte einigen können. Am 2. Mai 2009 setzte er sein
Zeichen und legte sich – natürlich in dreiteiligem Anzug – vor die
Nazidemonstration und brachte damit überforderte Polizisten zur
Verwirrung. Weiter plante er eine libertäre Zeitung für die ganze
Region und stand in Kontakt mit einem Regisseur, der mit ihm eine
Dokumentation über den deutschen Anarchismus drehen wollte. Anfang
August lud ihn eine türkische Gruppe für den Herbst nach Istanbul
ein. Es ging darum „Anarchie“ ins Türkische zu übersetzen.

Horst
wird uns fehlen. Seine Entschlossenheit, ja manchmal Dickköpfigkeit,
seine Spontanität und sein Einfallsreichtum, seine besondere
Begabung in verständlicher Sprache gut zu erklären und zu
begeistern, und zwar sowohl in seinen Büchern, als auch bei
Gesprächen, Lesungen und Vorträgen, all das ist in unserer Bewegung
rar gesät. Gracias Compañero, nicht nur in Deinen Werken, sondern
auch in unserer Erinnerung und in unseren Herzen wirst Du
weiterleben!

VAB
Neustadt an der Weinstraße

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar