Ein Herold des Anarchismus geht ins Land der Stille

HorstliestAnarchie.jpg

Das
tragische Ableben unseres Freundes und Genossen Horst Stowasser (58)
am letzten Augustsonntag 2009 hat uns ein weiteres Mal gezeigt, wie
abrupt ein Mensch aus seinem Lebenstraum, seinem Planen und Tun
gerissen werden kann. Wir werden uns wohl in den kommenden Jahren an
solche Meldungen gewöhnen müssen. Denn von der fast reinen
SchülerInnen-/Lehrlings- und StudentInnenbewegung der 1960er Jahre
hat sich die Bewegung hin zu einem „normalen“ Altersquerschnitt
bewegt.

Horst,
keine sechs Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in Wilhelmshaven
geboren, hat seine politische Aktivierung in Argentinien erfahren, wo
er zeitweise aufwuchs. Dort hatte er erste Kontakte zu
AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen. In jugendlicher Emphase
machte Horst sich auf den Weg nach Bolivien, um sich dort seinem Idol
Che anzuschließen. Unterwegs wurde er verhaftet und misshandelt –
das rettete ihm vermutlich das Leben. Von seinem alten Idol mag Horst
lediglich eine Marotte zurückbehalten haben: seine für manchen
schwer erträglichen Zigarillos.

Zurück
im alten postfaschistischen BRD-Deutschland unter
(West)Aliierten-Recht, engagierte er sich in der jungen
anarchistischen Bewegung und kam in Kontakt mit spanischen
„Gastarbeitern“, in deren klandestiner CNT-Zelle er mitarbeitete.
Schon damals gestaltete der talentierte Cartoonist und Layouter
Flugblätter und Zeitschriften wie „impulso“. In dieser
computerlosen Zeit war das eine hochspezialisierte und gefragte
Fähigkeit.

Horsts
Bruder Klaus gründete eine Druckerei, die zur kostengünstigen Basis
des gemeinsamen „an-archia Verlag Wetzlar“ wurde. Durch
Annahme von Aufträgen konnte Geld verdient und gleichzeitig konnten
professionelle Druckwerke für die Bewegung erstellt werden. Das war
sehr nötig, denn bürgerliche Druckereien lehnten linke
Druckaufträge häufig ab.

Ich
sehe Horst noch vor mir, wie er auf der Fankfurter Buchmesse von
Stand zu Stand geht und als Setzer seinen Komplettservice anbietet –
überall herzlich empfangen von den GenossInnen. Natürlich besorgte
er auch, wo er konnte, Arbeit von bürgerlichen Verlagen. Die damals
von Horst layoutete und herausgegebene „Freie
Presse“
mit ihrem
Vierfarbumschlag, Format DIN A4, würde selbst heute in der
anarchistischen Presselandschaft keine schlechte Figur machen.

Mit
seinem Bruder Klaus gründete Horst in Wetzlar 1971 das ADZ, das
„Anarchistische
Dokumentationszentrum“
, das später
in „Das ANARCHIV“ umbenannt wurde. Hier flossen einige
Papier-Erbschaften von überlebenden AltanarchistInnen ein, von denen
Horst allerdings manche vom Sperrmüll auflesen musste. Dem hatten
liebe Anverwandte die unter Lebensgefahr geretteten Bücher und
Dokumente „anvertraut“ (eine Mahnung für alle, die seltene
oder gar unwiederbringliche Materialien besitzen!!!). Im Organ des
ADZ, „Schwarze Tinte“ rief
Horst dazu auf, Dokumente und Druckerzeugnisse der libertären
Bewegung dem ADZ zur Verfügung zu stellen. Selbst sammelte er bei
jeder sich bietenden Gelegenheit neu erschienene Bücher und
Broschüren zum Thema. Hierfür griff er auch in den privaten
Geldbeutel, um den Bestand des ADZ zu erhöhen, für das er ja auch
jahrzehntelang die laufenden Kosten aufbrachte. Über die FICEDL war
das ADZ in einem internationalen Verbund libertärer Archive
organisiert. Horst betrachtete das ADZ / ARCHIV als sein
„Lebenswerk“. Mittlerweile ist es im wesentlichen in die Obhut
des „Max Nettlau e.V.“
in Neustadt a.d. Weinstraße übergegangen und sollte im Eilhardshof
eine neue Heimat finden.

Ob
es nun an Horst und Klaus lag oder besonders glückliche Umstände an
dem Ort zusammenkamen, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls
entwickelte sich Wetzlar zu einem Schwerpunkt der „Anarchobewegung“,
denn neben dem ADZ gab es dort noch Buchhandlung und Verlag „impuls“
und den Verlag „Büchse der Pandora“, die beide eine wichtige und
qualitativ hochwertige Publikationstätigkeit für die wachsende
anarchistische Bewegung entfalteten.

In
Wetzlar legte sich Horst auch mit dem Militär an. Er demonstrierte
vor der dortigen Bundeswehr-Kaserne u.a. mit dem Tucholsky-Zitat
„Soldaten sind Mörder“.
Dies
zog eine lange Reihe von juristischen Scherereien nach sich und
brachte ihn sogar in den Knast.

Horst,
mit einer schönen spanischen Anarchistin liiert und auch so der
alten CNT verbunden, hatte mit ihr einen Sohn und führte ein offenes
Haus. Gäste aus Nah und Fern fanden sich bei Familie Stowasser ein,
fast immer das ADZ um den einen oder anderen Bestand ergänzend oder
teils eine Weile in ihm archivarisch arbeitend. Die Wohnung atmete
Geschichte, war sie doch mit Portraits vieler namhafter
AnarchistInnen, gerahmten Faksimiles, seltenen alten Büchern und
Zeitungen und über dem Sofa mit ein paar alten Schießprügeln und
Säbeln dekoriert. Bei pazifistisch orientierten GenossInnen führte
Letzteres häufig zu Irritation und aufgeregten Diskussionen, gerade
in Folge des „Deutschen Herbst“, die Horst aber freundlich und
nonchalant konterte.

Sport
spielte für den aufgrund seiner auskurierten Kinderlähmung
körperbehinderten Horst (er hinkte stark) immer eine große Rolle.
Über seiner Badewanne hingen reihenweise Urkunden von gewonnenen
Schwimmwettbewerben und ein lebenslanger Faible war für Horst das
Segeln. Sah mensch Horst nicht gehen, saß einem ein gutaussehender
blondlockiger Mann gegenüber, der einen sportlich-lebendigen und
hellwachen Eindruck machte. Überhaupt war er dem Leben sehr
zugewandt und machte nie einen, in „der Szene“ leider so oft
anzutreffenden, verkniffenen Eindruck. Er liebte die Liebe, ein guter
Rotwein ging ihm über alles und seine exzellenten Kochkünste
beeindruckten manchen Gast.

In
den letzten Lebensjahren machte Horst die alte Krankheit wieder zu
schaffen. Letztendlich führte eine genähte Kopfverletzung von einem
behinderungsbedingten Sturz zu Hause zur tödlichen Blutvergiftung.

Aus
den vielen Kontakten und Gesprächen mit AnarchistInnen aller Couleur
und der unbefriedigenden politischen Praxis sich ständig auflösender
Gruppen kristallisierte sich für Horst die Notwendigkeit eines
konkreten anarchistischen Projektansatzes heraus. Hierzu schrieb er
bis Mitte der 1980er Jahre ein Konzept, das „Projekt
A“
, das in einer Anfangsauflage
von 1.000 numerierten Exemplaren durch persönliche Übergabe
verteilt und dann diskutiert wurde.

Das
Konzept war kurz gefasst die Idee, mit mindestens 200 Leuten in eine
Kleinstadt zusammen zu ziehen und dort eine interaktionsfähige und
handlungsstarke AnarchistInnengemeinde zu bilden, statt – wie bis
heute – atomisiert und vereinzelt irgendwo zu hausen, frustriert zu
sein und wenig erreichen zu können. Es sollte eine sich gegenseitig
stützende, anarchistische Infrastruktur entstehen und ein für alle
Beteiligten befriedigendes Privatleben in einer echten libertären
Gemeinschaft. Gleichzeitig sollte der ansässigen Bevölkerung
dadurch beiläufig gezeigt werden, dass AnarchistInnen „ganz
normale Menschen“ sind.

Worum
es eben NICHT ging, war „eine Kleinstadt zu unterwandern“ und sie
als „Anarchosekte“ zu „übernehmen“. Auch
NichtanarchistInnen, wenn sie denn die Strukturen gut fanden, sollten
in der A-Community Aufnahme finden. Horsts damals für orthodoxe
Linke provozierendes Ideal war, die Direkte
Aktion
direkt neben der BILD zu
platzieren und zu verkaufen.

Es
kam alles ganz anders: statt 200 Leuten zogen ein paar Jahre später,
1989, nach einem Hals-über-Kopf einberufenen „Sekt-Treffen“
(Horst war immer sehr kreativ in
plakativen Namensfindungen), nur etwa 20 Leute nach Alsfeld in Hessen
und das auch noch völlig unkoordiniert. Ein paar wenige Häuser
wurden überstürzt aus Privatvermögen gekauft und losgelegt:
erstmal mit Renovieren und Jobs finden. Nach und nach zogen ein paar
Leute hinterher, auch Horst mit Freundin Uli. Aber es blieb weit
entfernt von 100, geschweige denn 200 Personen als kritischer
Startmasse. Hinzu kam noch die unglückliche Mischung dieser
anfangsbegeisterten Willigen. Ein nicht zu unterschätzendes Problem
war auch unmäßiger Alk- und Drogenkonsum einiger.

Horst
zog sich schließlich frustriert von fast allen zurück und als
schließlich klar war, dass das Ganze in einem großen Kladderadatsch
enden würde, verließen schon die ersten ProtagonistInnen wieder
Alsfeld.

Zum
Glück für Horst und das Projekt A gab es (neben Leer in
Ostfriesland) noch die Option Neustadt a.d. Weinstraße, wo schon
eine vitale Alternativszene existierte.

Mit
großer Freude und Optimismus wurden die Neuangekommenen in Neustadt
begrüßt und es begann eine jahrelange Phase gegenseitiger
Befruchtung und allgemeinen Aufschwungs. Das libertäre, ökologisch
orientierte Kleinstadtprojekt W.E.S.P.E. (Werk
Selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen
)
wurde geboren, das, sowohl von außen, als auch von Horst selbst, oft
mit dem „Projekt A“ verwechselt wurde. In Wirklichkeit war es
eine alternative Mischform, in der eine ganze Reihe Leute Distanz zum
ursprünglichen „Projekt A“
wahrten. Neben bestehenden Kollektiven wurden neue Betriebe gegründet
und mitten in der Stadt (ausgerechnet hinter der Polizeiwache) für
1,5 Millionen DM kollektiv ein größerer Gebäudekomplex erworben,
der unter dem Namen „Ökohof“
gemeinsam saniert und Drehscheibe
für alle Beteiligten wurde.

Ein
Zusammenhang war geboren, der zeitweise über 100 Menschen und mehr
als ein Dutzend Betriebe umfasste und in der Stadt und Umgebung von
sich reden machte. Leider nahmen auch innere Spannungen zu.
Anlässlich eines geplanten großen WESPE-Festes auf der 1848er Burg
Hambach kam es anhand eines Vergewaltigungsvorwurfs gegen einen
Bandmusiker zum Eklat. Der Konflikt spitzte sich daran zu, ob die
Band ausgeladen werden sollte oder nicht. Daran zerbrach die WESPE
vorläufig. Gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten und
Verpflichtungen und einige persönliche Freundschaften hielten
allerdings den brüchigen Verein administrativ zusammen.

Nach
diesem erneuten Desaster zog sich Horst rund zehn Jahre aus Politik
und Szene weitgehend zurück. Er schrieb an seinen Büchern, widmete
sich seiner Familie und verdiente Geld als erfolgreicher
Werbeagenturinhaber, bis ihn weggebrochene Aufträge erneut in die
Insolvenz zwangen. Begleitend schien auch Das ANARCHIV gefährdet,
das Gefahr lief, in die Konkursmasse einzufließen. Schließlich
konnte dies mit Hilfe von GenossInnen abgebogen werden.

Im
Laufe der Jahre hatten sich die Gemüter in Neustadt wieder beruhigt,
Leute waren weggezogen und nach einiger wirtschaftlicher
Umstrukturierung (nicht nur Horst ging pleite) gab es wieder ein
zunehmendes Zusammenwirken der Libertären vor Ort, zunächst auf
informeller und dann auf aktiverer Ebene. Einige Betriebe hatten
privat erfolgreich expandiert und standen auf solidem Fundament. Der
Konkurs gab Horst auch wieder Zeit, neue Pläne zu schmieden. Hieraus
entstand „Projekt A – Phase B“,
wie Horst es griffig nannte: die Idee vom generationenübergreifenden
Wohnen von Libertären und NichtanarchistInnen. Ein Objekt wurde
ausfindig gemacht, der Eilhardshof,
für dessen Finanzierung Horst wieder, wie zu Projekt-A-Zeiten,
bundesweit die Werbetrommel rührte und dies mit professionellen
Prospekten unterlegte – erfolgreich. Geld und Bürgschaften kamen
unter dem Dach des Mietshäuser
Syndikats
zusammen – ironischerweise
ein Folgeprojekt der von Horst lange ungeliebten
HausbesetzerInnenszene der 1980er. Das Projekt Eilhardshof wurde,
auch dank Horsts Promotion, derart erfolgreich aufgenommen, daß es
vor kurzem bundesoffiziell mit einem Nachhaltigkeitspreis
ausgezeichnet wurde.

Auch
ein neuer anarchistischer Infoladen, der „Tante
Emma Laden“
, wurde Anfang 2009 in
Neustadt gegründet. Patin stand Emma Goldmann. Hierbei wirkte Horst
ebenso gestaltend mit wie bei der Gründung der FAU-NW.

Besonders
erfolgreich war Horst mit mehreren Büchern als Autor. Sein Buch
ANARCHIE! schaffte es 2007 kurzzeitig auf Platz Eins der deutschen
Sachbuchbestenliste.

Verschiedene
Publikationen Horsts erschienen zudem im Ausland. Besonders „Projekt
A“
hat auch viele FreundInnen in
anderen Ländern gefunden. Es wird sich vermutlich erst in
Jahrzehnten erschließen, welche Fern- und Breitenwirkung Horsts
Arbeit gehabt hat. Aber schon jetzt lässt sich sagen, dass er viele
Menschen bewegt und in Bewegung gebracht hat – Tausende. Dies kann,
um an einen Chansontext von Léo Ferré anzuschließen, „einer von
Tausend“ schaffen, wenn ihm Esprit, Wille und Talent so mitgegeben
sind, wie es bei Horst der Fall war. Wir vermissen ihn!

 Ralf
G. Landmesser


Einen
Nachruf über Horst von seinen Neustädter FreundInnen und
GenossInnen findet ihr im Artikel Ein Leben ohne Chef und Staat.

Buchtitel
von Horst

  • Das
    Standardwerk „ANARCHIE!“ bei edition
    nautilus
  • „Leben ohne Chef und Staat“ im
    Karin Kramer Verlag: Ein
    ankedotenreiches, wunderbar flüssig geschriebenes Einführungsbuch
    in den Anarchismus, wie es selten anzutreffen ist.
  •  „Was ist eigentlich Anarchie“ im
    Karin Kramer Verlag. Horsts
    meist gelesenes Buch seit 1973, das
    ungezählte Auflagen und Abwandlungen erlebte und zunächst als
    Kollektivarbeit deklariert wurde. Aber, wie er mir versicherte,
    musste es größtenteils von ihm fertiggestellt werden…
  • „Antiaging
    für die Anarchie“ bei AV setzt Impulse in der Horst eigenen
    erfrischend-undogmatischen Art.
  • Einer
    von Horsts letzten Artikeln: Diagnose:
    „Kapitalismus“
     

Links

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar