Vom Millionenheim zum Plastikzelt

Desperate Households. Ob auch in der Wisteria Lane jemand ein schickes Vorstadt-Haus besetzt hält? Explodierende
Mieten, Innenstadtverdrängung, Zwangsräumungen – was klingt wie
aus dem Schlagwortschatz linker Metropolenkampagnen gegen
Gentrifizierung, ist in den USA zu einem landesweiten und Millionen
Menschen betreffenden Problem geworden. Denn seit 2007 die große
Immobilienblase geplatzt ist, flankiert vom krisenbedingten Anstieg
der Arbeitslosigkeit und einer Erosion des Mittelstandes, ist ein
großer Teil der Bevölkerung in die Obdachlosigkeit gerutscht bzw.
von ihr bedroht.

Zuvor
hatten sich viele AmerikanerInnen ein Haus gekauft, ermöglicht durch
eine Vergabewelle von sog. „Ninja-Krediten“ (Subprime-Kredite,
die ohne Sicherheiten und Nachweise zu erhalten waren). Der Kauf
basierte meist auf horrenden Raten- oder Mietzahlungen, die weit über
dem eigentlichen Wert der Häuser lagen. Denn diese waren i.d.R. von
SpekulantInnen zunächst billig aufgekauft, oberflächlich saniert
und gewinnbringend weiterverkauft worden. Mit dem Einsetzen eines
Arbeitslosenanstiegs konnten viele Zinszahlungen für Kredite nicht
mehr abgedeckt werden, und so platzte allmählich die Blase. Die
Banken saßen auf ihren Krediten, die Menschen verloren ihre Häuser,
gefolgt von einem immensen Preisanstieg auf dem allgemeinen
Immobilienmarkt. In Kalifornien, wo die Immobilienpreise besonders
hoch lagen, ist auch die Zahl der Obdachlosen besonders stark
angestiegen – in Städten wie Sacramento stieg ihre Zahl im Jahr
2009 um 26%, die Zahl der Zwangsvollstreckungen stieg im Bundesstaat
um 327%, landesweit gab es 2009 ganze 3,2 Mio. Zwangsversteigerungen
– Rekordwerte.

Campen
oder squatten

Überall
in den USA entstanden sog. „Tent Cities“, Zeltstädte von
Menschen, die zumeist aus der „Mittelschicht“ stammen. Diese
„illegalen“ Ansammlungen gab es auch schon vorher, jedoch
zusammengesetzt aus den „Randgruppen“. Nun kommen die „Normalen“
hinzu. Für viele von ihnen ging mit dem Verlust des Jobs Schlag auf
Schlag alles verloren. In den Medien wird an die „Great Depression“
der 1930er erinnert, als infolge eines Börsencrashs und der
Wirtschaftskrise viele Menschen ihr Zuhause verloren und ebenso
hunderte Zeltstädte entstanden. Über die Zeltstädte wird indes
hart diskutiert: Es werden Räumungen erwogen, während die Behörden
in „geeigneteren“ Randgebieten Lager mit sanitären Anlagen
errichten. Man möchte das Problem zumindest lagetechnisch unter
Kontrolle bekommen.

Außer
Kontrolle geraten ist dagegen die Masse derer, die nicht in die
Zeltstädte flieht, sondern einfach in ihren Häusern bleibt. Seit
2007 stieg die Zahl der nichtgedeckten Privat-Hypotheken um über 3
Mio., im ersten Quartal 2010 waren rund 14% der ca. 52 Mio.
Privat-Hypotheken nicht gedeckt. Nach Schätzungen liegt die Zahl
jener „Squatters“ bei 4,4 Mio. aufwärts. Der Höchststand der
„Besetzungen“ soll derweil noch nicht erreicht sein. Und eine
massenhafte Räumung nach massenhaften Zwangsversteigerungen würde
ein wahnsinniges Unterfangen darstellen. Realistischer scheint da die
Diskussion über die Umwandlung der „Eigenheime“ in
Mietwohnungen. Doch VermieterInnen beklagen, dass nach wie vor ein
großes Desinteresse am Mietmarkt bestehe, er sogar schrumpfe und in
vielen Städten und Regionen mit Leerstand gekämpft werde trotz
wieder sinkender Mietpreise.

Klassenkampf
auf 12m²

Mit
der Verschärfung der Lebens- und insbes. der Wohnsituation prallen
die Gegensätze immer mehr aufeinander: der Pol der Neusiedler und
GewinnerInnen einerseits und der Pol der Verdrängten und
VerliererInnen andererseits. Gentrification, die „Veredelung“ und
Aufwertung von Stadtteilen, ist ein umfassendes Metropolenproblem
geworden. Solventere Käuferschichten verlassen die
klischeebehafteten, reichen Suburbias und wechseln in Lofts und
Townhouses. Doch auch die Widerstände nehmen zu, und Betroffene und
AktivistInnen fangen an, sich zu organisieren. In New York
organisieren sich z.B. Obdachlose und Nicht-Obdachlose in der Gruppe
„Picture the Homeless“. Sie unterstützen sich gegenseitig und
schaffen sich eine Stimme durch Kampagnenarbeit, die politisch
darüber hinausgeht, einfach nur „Menschen zu helfen, Häuser zu
besetzen“. Auf einem internationalen Kongress zu linker
Metropolenpolitik in Berlin im Juli sprachen Vertreter der Gruppe
über ihre Erfahrungen. Ihnen geht es um Menschenrechte (Recht auf
Wohnen); und sie richten sich gegen die Schikanierung durch Polizei
und Behörden, gegen die Kriminalisierung der „Homeless People“
und derer, die sich kollektiv Wohnraum zum (Über-)Leben aneignen.

Die
AktivistInnen aus den USA beziehen sich auch auf internationale
Widerstände. Denn diese entstehen in vielen Städten. Sei es das
spektrenübergreifende „Recht auf Stadt“-Bündnis in Hamburg, die
Wohnungslosen in Budapest, Tel-Aviver Nachbarschaftsorganisationen,
die „Jeudi Noir“ aus Paris oder auch Freiraumkampagnen und
autonome Häuserkämpfe – sie alle fordern ihr Recht auf Stadt, was
immer auch die Forderung nach bezahlbaren Mieten oder gar gänzlich
freiem Wohnen enthält. Die Entwicklungen auf dem kapitalistischen
Wohnungsmarkt diktieren seit jeher, wo wir wohnen, wie wir wohnen und
ob wir überhaupt wohnen können. Ehemalige soziale Grundgefüge in
der Bevölkerung, die den örtlichen Markt mitprägten, weichen heute
einer allumfassenden Inwertsetzung. Die damit verbundenen
Widersprüche sind Folge eines Wirtschaftssystems, bei dem die Logik
des Kapitals in jede noch so kleine Wohnung vordringt.

Sebastien
Nekyia

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