Transformationsstudien

Streikpostenkette vor einem Busdepot am 29. September. Quelle: Emalaith

Am 29. September 2010 fand in Spanien
ein landesweiter Generalstreik gegen die von der sozialistischen
Regierung auf die Agenda gesetzte Arbeitsmarktreform statt (siehe DA
#201). Die CNT zieht in der aktuellen Ausgabe ihrer Zeitung ein
positives Fazit des Tages: Die Beteiligung an den Aktivitäten der
CNT im ganzen Land sei „massiv“ gewesen. Dies ist auch das
Resultat einer Trendwende in der syndikalistischen Bewegung Spaniens
seit den letzten Jahren. Größere Teile dieser Bewegung versuchen
wieder, an die allgemeinen gesellschaftlichen Problemen anzuknüpfen,
um darüber eine libertäre Perspektive als Ausweg aus dem
Kapitalismus entwickeln zu können. Repräsentiert wird diese
Herangehensweise unter anderem durch das Institut für
Wirtschaftswissenschaften und Selbstverwaltung (span.: ICEA, Erklärung unten), welches
es sich zur Aufgabe gemacht hat, die aktuelle Situation zu
analysieren und Vorschläge für den Übergang zu einer libertären
Gesellschaftsform zu machen. Es ist kein Teil der Struktur der CNT,
steht dieser aber nahe.

Die Redaktion Hintergrund der Direkten Aktion dokumentiert im folgenden zwei
Interviews, die AktivistInnen von ICEA im Vorfeld des Generalstreiks
den undogmatischen linken Zeitungen
Directa aus
Barcelona und
Diagonal aus Madrid gaben.


Diese Maßnahmen sind eine
direkte Aggression gegen die Arbeiterklasse“

Wie bewertet ihr die von der
Regierung Zapatero beschlossenen Arbeitsmarktreformen?

ICEA: Wir sehen die Maßnahmen
als eine direkte Aggression gegen die Arbeiterklasse und die
Schwächsten in der spanischen Gesellschaft. Die Regierung versucht,
die Forderungen der Kapitalisten zulasten der unteren Schichten zu
befriedigen. Dieser Angriff auf die RentnerInnen, die BeamtInnen und
die Lohnabhängigen generell ist der Anfang dessen, was uns erwartet:
Eine Verschärfung des Anpassungsprozesses, unter dem die
Arbeiterklasse bereits seit Jahren leidet. Nur hat man diesmal direkt
auf das brutale Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF)
zurückgegriffen, welches in Lateinamerika in den 80er und 90er
Jahren so eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat. All das wird
zweifellos zu der beschleunigten Verarmung der spanischen
Gesellschaft und zur Verallgemeinerung der Prekarität beitragen.

Wie ihr schon erwähnt habt,
werden durch die Arbeitsmarktreform einige Teile der Bevölkerung
besonders stark benachteiligt. Gleichzeitig wird auch die
Privatwirtschaft durch entsprechende Vereinbarungen umstrukturiert.
Ist der Generalstreik aktuell der effektivste Weg des Widerstandes?

ICEA: Er ist ohne Zweifel eine
vollkommen unerlässliche Maßnahme, um mit der notwendigen
Vereinigung von Kräften zu beginnen, damit die unteren Klassen diese
höllische Verarmungsspirale, die sie bedroht, anhalten können. Nur
der Generalstreik kann die angemessene Antwort auf einen Angriff
dieses Ausmaßes sein, und nur er kann die systemkritische Linke
aufwecken und sie über ein konkretes, gemeinsames Ziels vereinen. Um
diese Entwicklung weiter voranzutreiben, ist es aber notwendig,
längere Streiks anzustoßen, die vor allem von einer Arbeit an der
Basis begleitet werden müssen, welche das Bewusstsein der
Arbeiterklasse stärkt. Dies ist ein Punkt, bei dem die
Organisationen, die sich zur transformatorischen Linken zählen, viel
beizutragen haben. In diesem Sinne scheint es uns entscheidend, eine
nachhaltige Mobilisierung aufrecht zu erhalten, die über das bloße
Ausbremsen der Rückschritte, die die Regierung und der
Arbeitgeberverband durchdrücken wollen, hinausgeht, so dass man
gleichzeitig mit den Kämpfen vorankommt, um den Einfluss der
syndikalistischen Gewerkschaft zurückzuerlangen. Wenn zum Beispiel
Unternehmen geschlossen werden, sollte versucht werden, die Situation
zu nutzen, um sich direkt die Kontrolle über die Produktion
anzueignen. Außerdem sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie
wir mehr Kontrolle über das Arbeitsangebot gewinnen, so dass die
Unternehmer an die organisierten ArbeiterInnen herantreten müssen,
wenn sie Arbeitskräfte benötigen, und es nicht die
Zeitarbeitsfirmen oder der staatliche Behörden sind, die diese
Kontrolle ausüben.

Diese Reform lehnt ihr ab. Gäbe
es auch Reformen, mit denen ihr euch anfreunden könntet? Wo ist der
Kern des Problems?

ICEA: Am Beginn der Krise hat
das ICEA in seiner ersten Broschüre eine Reihe
progressiv-reformistischer Maßnahmen vorgeschlagen, um die Folgen
für die Arbeiterklasse abzumildern und vor allem das ungünstige
Kräfteverhältnis, unter dem die Arbeiter im Moment leiden, zu
verschieben. Im Bezug auf das Defizit des Staatshaushaltes, haben wir
die Notwendigkeit einer Steuerreform betont. Außerdem befürworten
wir Maßnahmen zur Einschränkung der sozial unnützen öffentlichen
Ausgaben, zum Beispiel für Politiker, für das Militär, die Polizei
und das Königshaus. In jedem Fall sollten die Belastungen zunächst
mal bei den großen Besitztümern ansetzen, insbesondere bei den
Instrumenten ihrer Bereicherung, die im Epizentrum der
Finanzmarktspekulation stehen, wie den Hedgefonds, und im spanischen
Sonderfall bei der Besteuerung bestimmter Typen von
Kapitalanlagegesellschaften mit variablem Grundkapital. Dies müsste
aber auf europäischer Ebene koordiniert werden, um die Konkurrenz
der Staaten untereinander zu verhindern. Generell muss der
Lebensstandard der unteren gesellschaftlichen Klassen erhöht werden,
wobei sowohl ihre Löhne auf einem würdigen Niveau abgesichert als
auch ernsthaft versucht werden muss, Vollbeschäftigung zu erreichen.
In diesem Zusammenhang wäre eine Industriepolitik sehr hilfreich,
deren Finanzierung dadurch möglich wird, dass man da hingeht, wo das
Geld ist: sowohl an die Einkommen als auch an die Besitztümer der
Reichen, wie wir bereits erwähnt haben; an die Mittel, die für den
Bankensektor aufgebracht wurden, dessen Sanierung nicht wir
ArbeiterInnen bezahlen müssten; und außerdem müsste der
Arbeitsmarkt reformiert werden, um die Prekarität zu beenden.
Nebenbei sollten die regulierenden Rahmenbedingungen verändert
werden, um die Arbeitsgrundlage der bürokratischen und auf
Repräsentation ausgerichteten Gewerkschaften zu verändern, die
konservativ sind und eine wichtige Rolle bei der Verhinderung von
Basisprotesten gespielt haben. Sie sind als Komparsen in diesem
Anpassungsprozess aufgetreten, unter dem wir nun schon seit Jahren
leiden.

Bei all dem dürfen wir aber auf keinen
Fall vergessen, dass viel mehr als eine progressive Reform, die
Überwindung des kapitalistischen Systems vonnöten ist. Es gibt
zwischenzeitlich mehr als genug Beweise dafür, dass es sich um ein
strukturell ineffizientes System handelt, und dass seine Verwalter –
egal ob sie Sozialdemokraten oder Konservative sind – nichts außer
den Interessen der Privilegierten verteidigen. Deshalb ist es
notwendig, über die richtigen Formen zu diskutieren, um die
Produktion und den Vertrieb an die Bedürfnisse der Bevölkerung
anzupassen.

Interview: Diagonal

Auch Anarchistin reimt sich auf
Ökonomistin

Lluís Rodríguez Algans ist Ökonom,
Aktivist der CNT Barcelona und Mitglied des ICEA mit Sitz in
Barcelona. Dank der intensiven Arbeit ihrer Mitglieder ist die erst
vor wenigen Jahren gegründete Einrichtung zwischenzeitlich zu einem
Referenzpunkt der kritischen Wissenschaft in Spanien geworden.

Traditionell haben sich die
anarchistischen Denker weniger mit wirtschaftlichen Themen
beschäftigt. Welches sind die wichtigsten Beiträge des Anarchismus
zur ökonomischen Theorie?

Demonstration in Valencia am 29.9. Quelle: Rafa Lluis: Wie du schon sagst, hat
sich der Anarchismus weniger mit wirtschaftlichen Themen beschäftigt
und philosophische, soziologische und herrschaftskritische Aspekte
weitaus intensiver herausgearbeitet, um darüber die Funktion des
Staates infrage zu stellen. Andere philosophische Strömungen, wie
etwa der Marxismus, haben sich traditionell mehr darauf konzentriert,
die Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft auf eine durchaus
profunde Art und Weise zu analysieren. All das sollte dennoch
relativiert werden, weil es in der Geschichte all dieser Strömungen
eine Tendenz gibt, allen Positionen Etikette aufzudrücken, um sie
einzuordnen und stärker hervor zu heben. Die Prozesse und Diskurse
verlaufen aber weder linear, noch in sich absolut kohärent. Viele
Denker, wie zum Beispiel Paul A. Baran(1), werden der (neo-)
marxistischen Strömung zugeschrieben, stehen theoretisch aber
früheren anarchistischen bzw. syndikalistischen oder
institutionalistischen Autoren wie Christiaan Cornélissen(2) oder
Thorstein Veblen(3) weitaus näher. In Anbetracht dessen glaube ich
schon, dass der Anarchismus und der Syndikalismus wichtige Beiträge
zu der Frage hervorgebracht haben, wie die Wirtschaft und die
Gesellschaft selbstverwaltet organisiert werden können, und wie man
diesem Zustand näher kommen kann. Zu nennen wären auch Autoren wie
Peter Kropotkin, Pierre Besnard, Rudolf Rocker, Isaac Puente, Abad de
Santillan, Gaston Leval, Abraham Guillén und, aktueller, Michael
Albert(4) und Robin Hahnel.
In diesem Sinn müsste auch
die Untersuchung der libertären Kollektive während der Spanischen
Revolution 1936 eine wichtige Quelle für die Reflexion über Formen
wirtschaftlicher Selbstverwaltung darstellen …

Lluis: Die Kollektive haben
damals bewiesen, dass die ökonomische Selbstverwaltung der Arbeit
kollektiv und in großem Maßstab möglich und tragfähig ist. Diese
Freiheit zu experimentieren hat einen großen Reichtum an Erfahrungen
hervorgebracht, wie beispielsweise in der Stadt Alcoi (Levante), wo
sowohl die Landwirtschaft als auch die Industrie kollektiviert worden
waren. Genannt werden können auch die wichtige Erfahrung der
Industriekollektive in Katalonien oder die Erfahrung der
Agrarkollektive in Aragonien. Letztendlich gelang es, die Arbeits-
und Lebensbedingungen insgesamt zu verbessern, trotz der
Kriegskonjunktur. Es hat sich gezeigt, dass die allgemeine
Selbstverwaltung möglich ist.

Es wird aber auch nicht alles
idyllisch gewesen sein …

Lluis: Sicherlich wäre mehr
Zeit nötig gewesen, um diese Errungenschaften zu konsolidieren,
Zugang zu den notwendigen Rohstoffen zu erhalten und die Befriedigung
der Nachfrage zu stabilisieren. Es ist wichtig, dass einem der Umfang
dessen bewusst wird, was da losgetreten wurde: Es war notwendig, die
wirtschaftliche Aktivität neu zu strukturieren, die Industrie
umzuwandeln und nach den Anforderungen des Krieges auszurichten,
Importe zu ersetzen und vormals für den Export produzierende
Sektoren zur Befriedigung der Binnennachfrage einzusetzen. Deshalb
wäre mehr Zeit vonnöten gewesen, um die libertäre ökonomische
Koordination auszuarbeiten. Die syndikalistische Arbeiterklasse hat
aber gezeigt, dass sie dazu in der Lage gewesen wäre, trotz der
Schwierigkeiten und Einschränkungen, die aufgetreten sind.

Die Erfahrung der Kollektive schließt
auch Beispiele des Betriebsegoismus ein, wie sie sich in anderen
Zeiten, zum Beispiel im kommunistischen Jugoslawien, wiederholt
haben. Es ist jedoch offensichtlich, dass der sowjetische Block weder
die Klassengesellschaft noch die wirtschaftliche Ausbeutung hinter
sich gelassen und die Klasse der Kapitalisten lediglich durch die der
Bürokraten ausgetauscht hatte, so dass die spanische Erfahrung trotz
aller Unzulänglichkeiten wesentlich tiefgehender ist.

Manchmal scheint es, dass der
Anarchismus seine Uhr 1936 angehalten hat. Welche aktuelleren
Referenzpunkte bietet er uns?

Lluis: Der Anarchismus war
während der transición(5) in den 70er Jahren, insbesondere in
Katalonien, eine sehr wichtige soziale Bewegung. Gleichzeitig haben
soziale Bewegungen in jüngerer Zeit die anarchistische Praxis wieder
aufgegriffen – auch wenn sich einige dieser Bewegungen nicht
explizit auf den Anarchismus beziehen. Sie haben einige seiner Ziele
weiter ausgearbeitet, wie zum Beispiel die Hausbesetzerbewegung oder
auch die AntimilitaristInnen. Erwähnt werde muss auch die CNT-IAA,
welche den wirtschaftlichen und arbeitsbezogenen Zweig des
Anarchismus bildet und auch heute noch einen wichtigen Kampf für ein
alternatives Gewerkschaftsmodell führt, das auf der kollektiven
Entscheidung und der direkten Aktion beruht. Im Rahmen der
Gewerkschaftsbewegung steht die CNT für die revolutionäre
Perspektive. Auf der anderen Seite haben wir Organisationen mit
spezifisch anarchistischer Ausrichtung, wie die Anarchistische
Iberische Föderation (FAI), die im sozialen und kulturellen Rahmen
agiert, oder die Föderation Libertärer Studierender (FEL), die im
studentischen Rahmen agiert. Man muss auch die erneuerte Bewegung der
libertären Kulturvereine und Studienzentren als Werkzeuge
kultureller und analytischer Arbeit hervorheben. Sie wollen neue
Vorschläge erarbeiten. In diesem Rahmen verorten wir uns als ICEA.

Als ICEA zählt ihr die Wirtschaft zur Kategorie der
Wissenschaften. Aber zeigt das Fehlen von Vorhersagen der aktuellen
Wirtschaftskrise seitens der großen Mehrheit der Ökonomen nicht,
dass es weniger eine Wissenschaft, sondern vielmehr eine ökonomische
Ideologie gibt, und dass es sich bei dem dominierenden
Wirtschaftskonzept um nichts anderes handelt, als um ein Werkzeug zur
Legitimation der Verteilung des Reichtums innerhalb der Bevölkerung?

Lluis: Zunächst einmal glaube
ich, dass es sich bei der Ökonomie um eine Sozialwissenschaft
handelt, und nicht um eine exakte oder mathematische Wissenschaft.
Und an dieser Stelle weicht meine Meinung von der der meisten
akademischen Wirtschaftswissenschaftler ab. Darum glaube ich auf
jeden Fall, dass die dominierende Wirtschaftswissenschaft ein
Werkzeug zur Legitimierung des Reichtums ist, obwohl aus ihr,
zumindest unter einigen praktischen oder betriebsbezogenen Aspekten,
nützliche Analysen entnommen werden können. Das ändert jedoch
nichts daran, dass wir von ICEA Paradigmen radikaler politischer
Ökonomie anwenden, das heißt, dass wir bei unserer Analyse an die
Wurzeln des Kapitalismus gehen. Jeder, der die Gesellschaft verändern
will, ist daran interessiert, das System mit den bestmöglichen
Werkzeugen zu analysieren; wir wissen, dass die bürgerliche
Wirtschaftswissenschaft diese nicht bietet, aber man kann immer auch
irgendetwas davon nutzen. Was den Mangel an Vorhersagen angeht, liegt
das in Teilen an der aktuell dominierenden Art und Weise, Wirtschaft
zu analysieren, die nicht besonders hilfreich dabei ist, Tendenzen
und Wendepunkte zu erkennen; und teilweise liegt das einfach daran,
dass der Kopf in den Sand gesteckt wurde, um nicht zuzugeben, was
geschehen musste.

Unterhaltet ihr Kontakte zu
anderen Sektoren der kritischen Wirtschaftswissenschaften?

Lluis: Diejenigen Mitglieder des
ICEA, die wie ich Wirtschaftswissenschaftler sind, haben uns in der
spanischen Bewegung der kritischen Ökonomie kennengelernt und
arbeiten auch weiterhin darin mit. Wir hoffen, dass sich diese
Mitarbeit auch weiterhin in gemeinsamen Aktivitäten entfaltet, und
insbesondere hoffen wir, dabei unseren Blickpunkt auf die Wirtschaft
und die Gesellschaft beisteuern zu können.

Glaubst du, dass eine so komplexe
Wirtschaft wie die heutige geplant werden kann? Ist es nicht
gangbarer, auf den Markt als Instrument der spontanen Koordination
zwischen Angebot und Nachfrage zurückzugreifen?

Lluis: Meiner Meinung nach
sollten wir uns die Frage stellen, wie wir eine libertäre Ökonomie
und Gesellschaft strukturieren müssten, damit es keine Möglichkeit
gibt, wieder zum Kapitalismus zurückzufallen. Von diesem Blickpunkt
aus glaube ich, dass ein Planungssystem eingerichtet werden sollte,
welches nach sozialen Maßstäben ausgerichtet wird, so dass die
Konsumbedürfnisse die Produktion steuern und wirtschaftliche
Institutionen ausgeschaltet werden, die es erlauben würden, die
kapitalistischen Abläufe beizubehalten oder zu reproduzieren. Der
Markt ist älter als der Kapitalismus und kann hilfreich sein für
Prozesse des Austausches und des Vertriebs von Produkten, wenn zuvor
eine Zweckbindung festgelegt wurde. Es ist klar, dass
Wettbewerbsmechanismen zwischen Betrieben eine grundlegende Säule
des Kapitalismus darstellen. Man müsste dennoch prüfen, ob diese
irgendeinen Nutzen im Kontext der Selbstverwaltung einer Branche
entfalten könnten. In den historischen Fällen des Marktsozialismus
wie in Jugoslawien(6) waren die Ergebnisse in diesem Sinne nicht sehr
befriedigend, da die Klassenstruktur und der Staat erhalten blieben,
mit einem Arbeitsmarkt, mit Erwerbslosigkeit, Armut und – in der
Folge – einer Polarisierung der Einkommen.

Welche sind die
anarchistischen Vorschläge für die aktuelle Krise?

Lluis: Wenn wir von einer
anarchistischen Position sprechen, geht es zweifellos um die
Abschaffung der aktuellen sozialen und ökonomischen Struktur, um sie
durch eine andere zu ersetzen, die auf der Befriedigung von
Bedürfnissen, die Solidarität und die gegenseitige Hilfe basiert.
Gut, wir sind uns sicherlich einig in dem Punkt, dass dies
kurzfristig nicht möglich ist. Deshalb arbeiten wir an Vorschlägen,
die uns als Programm und Werkzeug zum Handeln in diesem Sinne dienen
können. Natürlich denken wir, wenn es darum geht, wer diese Ideen
denn nun umsetzen soll, an die Akteure aus der syndikalistischen
Gewerkschaftsbewegung wie auch an anarchistische Organisationen. Wir
glauben, dass wenn es schon nicht möglich ist, den Kapitalismus in
naher Zukunft zu überwinden, wenigstens doch Vorschläge gemacht
werden müssen, die langfristig auf eine Verwaltung der Wirtschaft
und der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse abzielen, um so die
Machtverhältnisse sukzessive zu verschieben. In diesem Zusammenhang
können wir unsere Vorschläge mit Begriffen wie reformistisch,
progressiv und transformierend zusammenfassen.

Die reformistischen Vorschläge werden
mit dem Ziel ins Feld geführt, die Arbeiterklasse mit einem sozialen
Schutzschild gegenüber der Krise auszustatten, während gleichzeitig
die Rolle des Staates verdeutlicht werden soll, der diese Maßnahmen
nicht anwendet. Zu dieser Art von Vorschlägen würde eine
Wirtschaftspolitik öffentlicher Investitionen gehören, eine
Steuerreform, die die Steuern für Unternehmen und Reiche erhöht,
eine passive Arbeitsmarktpolitik der sozialen Unterstützung und
anderes.

Die progressiven Maßnahmen hätten das
Ziel, die Kontrolle der syndikalistischen Organisationen über die
wirtschaftlichen Beziehungen und die Arbeitsbeziehungen auszubauen.
Ein Beispiel wäre da die gewerkschaftliche Kontrolle über das
Arbeitsangebot durch eben diese Organisationen.

Zuletzt würden die Maßnahmen, die wir
transformatorisch nennen und die darauf abzielen, die private
Kontrolle der Reichtümer durch die Selbstverwaltung der Arbeiter und
der Gesellschaft zu ersetzen, wobei als Beispiel die Rückeroberung
von Betrieben und ihre Umwandlung in Kooperativen dient.

Bislang scheint es, dass es
wenige Fälle der Rückeroberung und Kollektivierung von Betrieben
gibt, wenn wir die Zahlen mit Daten aus der industriellen Krise in
den 80ern vergleichen …

Lluis: Ganz genau, es gibt an
dieser Stelle noch viel zu tun. Heutzutage existiert die Gewohnheit
nicht mehr, kollektive Prozesse in der Arbeitswelt anzugehen. Es
fehlt nicht nur an Kooperativen, sondern auch an Betriebsgruppen.
Wenn man die Aneignung von Betrieben betrachtet, muss man auch den
Organisierungsgrad und vorhergehende gewerkschaftliche Aktivitäten
in Betracht ziehen. Die direkte Übernahme eines Betriebes, ohne dass
dort eine Tradition gewerkschaftlichen Kampfes existiert, ist ein
großer Sprung ins Leere, bei dem ein Scheitern wahrscheinlich ist.
Ich denke, dass die gewerkschaftliche Praxis uns lehrt, uns kollektiv
zu organisieren, Plattformen zur Artikulation unserer Forderungen
einzurichten und gemeinsame Probleme so anzugehen, dass sich die
größtmögliche Zahl von ArbeiterInnen einbringt. Außerdem
analysieren die Betriebsgruppen üblicherweise die verfügbaren
Informationen über die Firma und ihre Branche. Diese Informationen
und die Praxis dienen im Fall der Fälle dazu, sich der
Produktionsmittel zu bemächtigen und ein Unternehmen als Kooperative
zu verwalten. Die Gründe, warum es keinen so massiven Ausbruch von
Betriebsbesetzungen wie zu anderen Zeiten gibt, sind vielfältig. Ein
wichtiger Grund ist die Schwäche der klassenbewussten
Gewerkschaftsbewegung. In meinen Augen ist die Notwendigkeit, diese
Handlungsrichtung zu verstärken, offensichtlich.

Interview: Jordi Garcia, Directa
Übersetzungen: Sebastian Frei

 

Anmerkungen:

(1) Paul A. Baran, 1910–1964,
US-amerikanischer, nach offizieller Lesart, marxistischer Ökonom.

(2) Christiaan Cornélissen, 1864–1942,
niederländischer Autor und Syndikalist.

(3) Thorstein Veblen, 1857–1929,
US-amerikanischer Ökonom und Soziologe.

(4) Michael Albert, „Ein Vorschlag
zur Güte“ (Interview), siehe DA #188 (Juli/August 2008), auch
online

(5) Transición: 1975–1982,
Übergangsphase vom Franquismus zur parlamentarischen Demokratie in
Spanien.

(6) Marktsozialismus in Jugoslawien:
Modell der „Arbeiterselbstverwaltung“, bei dem der Staat auf
detaillierte Planungsvorgaben verzichtete und eine
Entscheidungsfindung durch die ArbeiterInnen auf der Betriebsebene,
zum Beispiel über die Löhne und die Investitionsquote, zuließ

 

Im Dienst der Selbstverwaltung

Das Instituto de Ciencias Económicas y
de la Autogestión (ICEA) ist eine Einrichtung, die im März
2008 mit dem Ziel gegründet
wurde, Praktiken der Forschung und Lehre in politischer Ökonomie,
Sozialwissenschaften sowie Selbstverwaltung zu entwickeln. Es gründet
sich auf die libertären
Prinzipien der kollektiven Entscheidung in Vollversammlungen, des
Föderalismus,
der Solidarität
und gegenseitigen Hilfe. Seine Hauptziele sind drei: das aktuelle
wirtschaftliche und soziale System zu analysieren; von einer
libertären
Perspektive aus Vorschläge
für die
Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu formulieren, die auf
die Einrichtung selbstverwalteter Strukturen abzielen; und zuletzt,
die sozialen und ökonomischen
Formen zu untersuchen, mit denen man den Kapitalismus unter dem
Leitbild der Selbstverwaltung überwinden
kann. Auch wenn es sich um eine junge Einrichtung handelt, entwickelt
sie relativ viele Aktivitäten:
einen Kurs zur Einführung
in die Wirtschaftswissenschaften, Konferenzen über
Themen wie die internationale Krise und die Unterentwicklung, die
Kollektivbetriebe in Argentinien, den Klimawandel, die
Genossenschaftsbewegung und den Syndikalismus, die Arbeitsmarkt- und
Rentenreform in Spanien und viele andere. Außerdem
erstellt das ICEA Studien, die gewerkschaftliche Kämpfe
unterstützend
flankieren sollen und veröffentlicht
Kolumnen in verschiedenen linken Zeitungen in Spanien. Im letzten
April hat es an der Veranstaltungswoche Alternativen
zum Kapitalismus, die Selbstverwaltung in der Diskussion“, die im
Rahmen der Hundertjahrfeier der CNT-IAA in Barcelona veranstaltet
wurde, mitgewirkt. Als nächstes
Projekt soll die zweite Ausgabe der Broschürenreihen
des ICEA über
die Wirtschaftskrise veröffentlicht
werden. Außerdem
sind Studien und Dokumente, die in Bezug zu Privatisierungen und zur
Rückeroberung
von Betrieben stehen, in Planung. Das ICEA hat seinen Sitz in den
Räumen
der CNT-Lokalföderation
Barcelona.

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